H. C. Artmann – Anlässlich des 100. Geburtstags: Eine Autobiografie aus Gesprächen

April 13, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Außerdem Klangbücher, Prosa- und Gedichtbände

H. C. Artmann war eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten der Nachkriegszeit und vielleicht der letzte literarische Lebemann. Er verstand sich als „kuppler und zuhälter von worten“, beschrieb „med ana schwoazzn dintn“ die düstere Seite der Wiener Gemütlichkeit und bleibt als virtuoser Sprachakrobat und individualistischer Exzentriker unvergessen. Am 12. Juni gilt es den 100. Geburtstag des im Jahr 2000 im Alter von 79 Jahren an Herzversagen verstorbenen Schriftstellers mit Büchern von und über ihn zu feiern. Hier eine persönliche Auswahl an bereits erschienenen und noch erscheinenden Biografien, Klangbüchern, Prosa- und Gedichtbänden:

H. C. Artmann: ich bin abenteurer und nicht dichter

In „ich bin abenteurer und nicht dichter“ versammelt Kurt Hofmann, ergänzt mit Werkausschnitten, die prägnantesten Originalaussagen Artmanns über sein Leben und Schaffen. Durch nächtelange Gespräche über Jahre hinweg wurde ORF-Redakteur Hofmann zum Vertrauten und Kenner Artmanns. Aus diesen Treffen resultiert die bis heute einzige „Autobiografie“ des literarischen Genies, dessen Faszination ungebrochen ist.

Amalthea Verlag, H. C. Artmann: „ich bin abenteurer und nicht dichter. Aus Gesprächen mit Kurt Hofmann“, Autobiografie, 240 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Erscheint am 15. April amalthea.at

Kurt Hofmann im Amalthea-Gespräch:

Wie kam es zu den Treffen mit H. C. Artmann, und stand von Anfang an fest, dass eine Art Autobiografie aus den Gesprächen entstehen soll?
Hofmann: Als junger ORF-Redakteur in Salzburg wollte ich „den letzten literarischen Lebemann“ vors Mikrofon bekommen, wohl wissend, wenn er so etwas macht, dann sehr ungern. Die, die ihn näher kannten, rieten von so einem Projekt ab. Die, die ihn bisher interviewten, erst recht! Als er 1982 nach vielen vergeblichen Versuchen doch einwilligte, es probieren zu wollen, war wenig „Sendbares“ dabei. Da er viel zu viel überlegt hat und viel zu wenig er selbst dabei geblieben ist. Im Laufe der Jahre – mit monatelangen Pausen – wurde das Vertrauen größer bis zu dieser bei ihm seltenen Offenheit, die dann die Perspektive Richtung Buch erst ermöglichte. Die intensiven nächtelangen Interviews haben wir bis wenige Monate vor seinem Ableben geführt. Als er das Manuskript las, erschrak er: „Was haben wir gemacht!“ und: „Bring das erst raus, wenn ich nicht mehr bin!“

Warum war es so schwer, an H. C. Artmann ranzukommen?
Hofmann: In einer besinnlichen Minute zwischen drei und vier Uhr morgens, die Flasche Rotwein war längst leer, habe ich ihn genau das gefragt und bekam zur Antwort: „Weißt du … (lange Pause), ich bin menschenscheu, sehr menschenscheu. Bei einfachen Dingen zu meiner Person habe ich schon Schwierigkeiten. Ich bin kein Selbstdarsteller. Diese Selbst-Zur-Schau-Stellung, wie auf einer Schlachtbank. Da liegen die Kadaver, seht her. Und wer da alles mit dem Messer auf dich zugeht, mit einem stumpfen, damit es ja wehtut. Und dann wird in den Wunden herumgerührt und das Blut spritzt und die Leute begeilen sich daran. Auskunft geben über mich bereitet mir Übelkeit und Schmerzen. Sich vor Reportern und dem Fernsehen und all dem zu schützen, das ist Notwehr.“

Wie lässt sich die Faszination H. C. Artmanns erklären?
Hofmann: Man kann es nicht besser ausdrücken, als dies Klaus Reichert bei Artmanns Begräbnis getan hat: Kein Dichter in diesem mit ihm zu Ende gehenden Jahrhundert hat so bedingungslos wie H. C. Artmann die Existenz und die Würde des Dichtens noch einmal vorgelebt. Kein Dichter, auch Ezra Pound nicht, hat wie er auf andere gewirkt, weil er keine Richtung verfolgte, keine Prinzipien verkündete, außer solchen, die im nächsten Gedicht wieder aufgelöst werden konnten. So kam es, dass so viele Talente und große Begabungen sich von ihm herschreiben konnten, indem sie, durch ihn, zu ihrer eigenen Stimme fanden. Und das Erstaunlichste: Er war ein altersloser Dichter, dessen Zeit immer gekommen war. Jede Generation, bis herab zur jüngsten, konnte mit ihm, durch ihn, den Funken der Dichtung neu entfachen.

H. C. Artmann: um zu tauschen vers für kuss. Klangbuch mit CD von Erwin Steinhauer

H. C. Artmanns 100. Geburtstag ist auch für Erwin Steinhauer und seine Musiker-Freunde Georg Graf, Joe Pinkl und Peter Rosmanith Anlass, sich abermals mit dessen umfangreichem Werk zu beschäftigen. Für Alfred Kolleritsch ist „das werk h. c. s … die gesammelte rettung der poesie, die weite der sprache reicht hin in alle moeglichen welten der phantasie. sie schafft sich diese welten und erzählt ihre vielfalt. was freiheit des schreibens, des erfindens, des verzauberns ist, fand ich in seinem werk – dem freundlichsten anarchismus, den man sich vorstellen kann.“ Steinhauer erforscht gemeinsam mit seinen musikalischen Reisebegleitern diese fantastischen Welten des H. C. Artmann, die hier zu einer turbulenten, poetischen und humorvollen Text-Musik-Collage verwoben werden. Die Musik ist vielschichtig wie die Geschichten, jongliert mit vielen Stilen und zaubert Kino für die Ohren. Ein poetisches Klangabenteuer.

Mandelbaum Verlag, H. C. Artmann: „um zu tauschen vers für kuss“ Klangbuch mit einer CD von Erwin Steinhauer, Georg Graf, Joe Pinkl und Peter Rosmanith. 32 Seiten mit zahlreichen Abbildungen von Linda Wolfsgruber.  Erscheint im Mai www.mandelbaum.at         Trailer:www.youtube.com/watch?v=SdNu_xd3E9M         www.youtube.com/watch?v=ZjnwuMqZxXA

Von H. C. Artmann im Mandelbaum Verlag bereits erschienen sind: Dracula, Dracula, Klangbuch mit CD, gelesen von Erwin Steinhauer. Die von Georg Graf und Peter Rosmanith komponierte, und auf zahlreichen Perkussions- und Blasinstrumenten interpretierte Musik, bezieht ihre Einflüsse aus osteuropäischer Volksmusik, dem Jazz, Ambient- und der Minimalmusic.  Aus Sprache und Musik entsteht eine Symphonie des Grauens. Es empfiehlt sich daher beim Hören dieses Klangbuches immer etwas Knoblauch in Reichweite zu haben.

Flieger, grüß mir die Sonne, Klangbuch mit CD. Ein nicht gerade mit Vorzügen gesegneter Mann verwandelt sich mit Hilfe einer falschen Identität und unzähliger Prothesen in einen verwegenen Flieger und begibt sich auf Eroberungen. Doch glücklos wie er ist, kommt ihm einiges in die Quere und bald ist aller Lack ab. Georg Graf an diversen Blasinstrumenten, Peter Rosmanith mit seiner vielfältigen Perkussion und Joe Pinkl an Posaune, Tuba und Keyboard sorgen für manch gewagten Höhen­flug, ohne vor der unausweichlichen Bruchlandung zurück- zuschrecken. Tango, Walzer und Rumba dienen als rhythmischer Background für männliches Balzverhalten und treiben den Flieger zu mutigen Taten voran. Virtuos gesprochen wird der Text von Erwin Steinhauer.

Schreibe mir, meine Seltsame, schnell. Briefe an Didi 1960–1970. Mit Illustrationen von Susanne Schmögner – herausgegeben von Didi Macher und Ulf Birbaumer. 1960 schrieb H.C. Artmann Sehnsuchtsbriefe, denen er oft später veröffentlichte Liebesgedichte beilegte, aber auch aufmunternde, witzige Postkarten, adressiert an die junge Kärntner Schauspielerin Didi Macher in Klagenfurt, wo sie gerade eine längere Krankheit auskurieren musste und die der Dichter dort regelmäßig besuchte. Seine brieflichen und lyrischen Verbarien ergänzte er durch ausgerissene Karikaturen, durch Passagen in Sanskritschrift, die beide lesen und schreiben konnten. Auch getrocknete Sommerblüten klebte er in die Briefe und machte sie so zu einem poeti­schen Sehnsuchtsherbarium.

Veronika Premer, Marc-Oliver Schuster: H. C. Artmann. Eine Biografie

Veronika Premer und Marc-Oliver Schuster erzählen auf spannende Weise das unkonventionelle Leben H. C. Artmanns, der in seinem Werk den Bogen von Dialektdichtung bis zu Populärkultur spannte. Der Sohn eines Schuhmachermeisters schuf ein neues sprachliches Universum und polarisierte damit eine ganze Generation. Als Vorstadt-Poet und literarischer Weltbürger schrieb er sich in die Herzen seiner Anhänger und erneuerte die traditionelle Mundartlyrik mit gewitzten Sprachspielen. Er war ein Mitbegründer der legendären Wiener Gruppe, ein Reisender und unkonventioneller Dichter, der von Moden unbeeindruckt Worte, Stile und Sprachen mischte.

Residenz Verlag, Veronika Premer, Marc-Oliver Schuster: „H. C. Artmann. Eine Biografie“, 504 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Erscheinungstermin 2022 www.residenzverlag.com

Von H. C. Artmann im Residenz Verlag bereits erschienen ist: Klaus Reichert (Hg.): „H. C. Artmann. Gesammelte Prosa“. Zwei Bände im Schuber. 1458 Seiten. H. C. Artmanns Zauber wirkt noch immer unvermindert und nirgends stärker, überraschender und facettenreicher als in seiner Prosa. Unzählige Seiten, und in jeder Zeile der sprühende Geist, der immense Reichtum an Formen und Einfällen, die subtile Komik einer Ausnahmeerscheinung der österreichischen Literatur.

H. C. Artmann: Übrig blieb ein moosgrüner Apfel – Gedichte und Prosa

Magische Dinge geschehen in diesem Buch: Ein Schierling wird entgiftet, Küsse werden gegen Beeren getauscht, und der Farn redet mit Zungen. Und überall sprießen Knospen, stehen Blüten in voller Pracht und leuchten Früchte. Es sind die schönsten Naturgedichte und Prosastücke H. C. Artmanns, die dieser Band versammelt. Sie zeigen den Dichter in seiner ganzen Poesie: als Zauberer, der sich an den Traditionen bedient und aus fremden Sprachen und Dialekten schöpft, aber auch klassisch und formvollendet dichtet. Dass sein Zauber unvermindert fortwirkt, ist sich Clemens J. Setz beim Aufsagen der Verse und Zeilen sicher. Die Holzschnitte von Christian Thanhäuser sind zu den Gedichten entstanden.

Insel Bücherei/Suhrkamp, H. C. Artmann: „Übrig blieb ein moosgrüner Apfel – Gedichte und Prosa“, 97 Seiten mit Illustrationen von Christian Thanhäuser und einem Nachwort von Clemens J. Setz. Erschienen am 8. März. www.suhrkamp.de

Über den Autor: H. C. Artmann, geboren am 12. Juni 1921 in Wien-Breitensee, gestorben am 4. Dezember 2000 in Wien. Schon früh ist er in vielen Sprachen bewandert. Längere Aufenthalte in Stockholm, Lund, Berlin, Malmö, Bern, Graz. Seit seiner ersten Lyrikveröffentlichung 1947 schreibt er Gedichte, Theaterstücke, Prosa. Er gehört zu den Mitbegründern der Wiener Gruppe. Sein erster Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“ im Jahr 1958 macht Artmann berühmt. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhält er 1997 den Georg-Büchner-Preis. Bis zu seinem Tod im Dezember 2000 lebte Artmann vor allem in Wien und Salzburg.

amalthea.at           www.mandelbaum.at           www.residenzverlag.com           www.suhrkamp.de

13. 4. 2021

Karikaturmuseum Krems: „Volltreffer“ aus der Sammlung Grill und ein Exkurs zu Gerhard Haderer

März 2, 2021 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Zwei neue Ausstellungen zu den Großmeistern der Satire

Gerhard Haderer: Wohnlandschaft mit Pferdekopfpolster, 1984. © Gerhard-Haderer/ Landessammlungen NÖ

Seit mehr als 40 Jahren sind Humor und Komische Kunst nach Art von Meisi und Helmut Grill die treibende Kraft für ihre Sammlung satirischer Kunstwerke. „Erstmals in Österreich gibt das Karikaturmuseum Krems Einblicke in die Sammlung Grill. Die Ausstellung spürt mit knapp 200 Arbeiten von 42 Künstlerinnen und Künstlern der Sammelleidenschaft von satirischer Kunst nach“, so Gottfried Gusenbauer, künstlerischer Direktor Karikaturmuseum Krems.

Die Ausstellung „Volltreffer! Satirische Meisterwerke der Sammlung Grill“ beleuchtet ab 6. März einerseits das Münchner Umfeld und Vertreterinnen

wie Vertreter der Komischen Kunst, die dem Sammlerehepaar nahestehen.Unverkennbar im Zeichenstrich sind Paul Floras getuschte tragikomische Traumwelten. Mit frechem Augenzwinkern zitiert Rudi Hurzlmeier in seinen Arbeiten Generationen von Meistern. Die eigens für Meisi und Helmut Grill angefertigten Werke zeugen von Loriots häufigen Besuchen bei den beiden. Die Vielfalt der satirischen Kunst verdeutlichen in der Ausstellung andererseits internationale Positionen.

Saul Steinbergs teils nur mit einem Strich und scharfsinnigem Humor gemachten Arbeiten zeugen von dessen technischer Virtuosität. Mit Tomi Ungerers Bild eines Manns, der sich in ein riesiges Schneckenhaus zurückzieht, blickt man auf die Anfänge der Sammelleidenschaft von Meisi und Helmut Grill zurück. Aus dem Gruselkabinett Freud’scher Tiefenpsychologie vermögen Roland Topors gezeichnete Tagträume zu entstammen. Die Erfolgsgeschichte von Meisiund Helmut Grill nimmt im sagenumwobenen Jahr 1968 mit der Gründung ihres extravaganten Kuriositätenladens Etcetera ihren Anfang. Bekannt war die von André Heller so bezeichnete Spezialitätenhandlung ersten Rangs nicht nur für ihre satirischen Objekte undpatriotischen Bavaricas.

Zwischen künstlerischem Porzellan und selbstverlegten Büchern gingen berühmte Gäste wie Uschi Glas, der ehemalige Bundes-präsident Deutschlands Walter Scheel und Loriot aus und ein. Nicht selten entstanden in diesen Runden neue Ideen für außergewöhnliche Produkte. Für Furore sorgte beispielsweise das Shirt mit Aufdruck „Ich bin gegen alles!“, auf das der Stern auf-merksam wurde und eine kreative Reihe bestellte. Der Künstler Jean-Jacques Sempé erfand später das Shirt „Ich ertrage nur das Glück“. Janosch steuerte „Fürchtet Euch nicht vor Meisi Grill!“ und „Kommet zu mir“ bei. Kultstatus haben auch die von Sis M. Koch und Paul Flora gestalteten Porzellane, Franziska Bileks bayerische Freiheitsstatue und Janoschs Puzzlebox mit fast vergessenen Miniaturspielen.

Gerhard Haderer: Letzter Stempel, 2000. © Gerhard-Haderer/ Landessammlungen NÖ

Papan: Das Leben im Jenseits, o.D. © Papan/ Sammlung Grill

Rudi Hurzlmeier: Widmung: Intelligenzbestie, 2005. © Rudi Hurzlmeier/Bildrecht/ Sammlung Grill

Zeitungen, Zeitschriften und Verlage waren ab 1950 die bevorzugten Auftraggeber von Satirikerinnen und Satiriker. Während in Frankreich der Comicstrip als Begleitung der Publikationen fungierte, dominierte in Deutschland und Österreich das zunehmend farbige und großformatige Bild zum Text. Nicht zwangsläufig war der Inhalt politisch oder kritisch, sondern – je nach Veröffentlichung – auch gerne humoristisch. Als bedeutendste Verlegerstadt Europas zieht München permanent Künstlerinnen und Künstler an, die in der bayrischen Landeshauptstadt Erfolg haben. Damit floriert das Münchner Umfeld als Kreativzentrum wie kein anderes im deutschsprachigen Raum.

Gerhard Glück: Landverschiebung, 1989. © Gerhard Glück/Sammlung Grill

Rudi Hurzlmeier setzte mit seinen Publikationen, etwa dem Titanic-Magazin oder dem Stern, und in Ausstellungen neue Maßstäbe. Er malt Tafelbilder wie im 19. Jahrhundert, nur eben mit einem kleinen oder größeren Scherz darauf. Gekonnt zitiert er Generationen von Meistern. Eine Hommage an Wilhelm Busch stellt sein Bild mit dem darauf befindlichen Spruch „Hans Huckebein und Fips, der Affe, vergreifen sich an Wein und Kaffee“ dar. In Frankreich reiften in den 1960/70er-Jahren große Talente heran. Roland Topor, Enfant terrible und rares Multitalent, brachte seine Tagträume zu Papier.

Dem gebürtigen Franzosen Tomi Ungerer waren Grenzen in seinem zeichnerischen Schaffen fremd. In dessen „Meat the Peable“ verschwindet beispielsweise ein Mann in einem überdimensional groß dargestellten Schneckenhaus. Besonders ist dieses Bild auch als eines der ersten Werke in der Sammlung Grill. Wiederum Ungerers erste Ausstellung in Deutschland arrangierten Meisi und Helmut Grill in der Villa Stuck.

Mit Blick über den atlantischen Ozean spürt die Ausstellung „Volltreffer!“ einem der wichtigsten satirischen Zeichner der Geschichte nach: Saul Steinbergs Arbeiten erschienen fast sechs Jahrzehnte im Magazin The New Yorker. In seinem Experimentierdrang glich er Pablo Picasso. Oftmals erinnert sein Stil an die Art-Deco-Epoche und ist für Betrachterinnen und Betrachter stets eines –anspruchsvoll. Vertiefend zur Ausstellung „Volltreffer!“zeigt das Karikaturmuseum Krems Werke Gerhard Haderers aus den Landessammlungen Niederösterreich.

Haderers geniale Cartoons – bis ins kleinste Detail künstlerisch perfektioniert und meist ausgeführt in Acryltusche – halten der Gesellschaft gekonnt ihren Spiegel vor. Bilder mit Titeln wie“ Quotenfrauen“, „Angesehene Leute“ oder sein „Letzter Stempel“ mit dem darauf befindlichenSatz „Sturheit währt am längsten“ entlarven Missstände und Allmachtsgedanken, bis hin zum tragikomischen Moment. Die Arbeiten des österreichischen Künstlers können getrost als Abrechnung mit Tabus und einer Doppelmoral verstanden werden, und gleichermaßen als Chronik vergangener Jahre mit all ihren Höhepunkten, Widrigkeiten und Skandalen. So beispielsweise seine „Ausgelassene Feier unter Facebookfreunden“, in der ein Mann allein vor seinem Laptop sitzend mit einem Energy Drink virtuell anderen zuprostet.

Corona-bedingt finden aktuell keine Ausstellungseröffnungen statt. Das Karikaturmuseum Krems lädt Interessierte stattdessen zu einem Eröffnungstag bei freiem Eintritt am Samstag, 6. März, ein.

www.karikaturmuseum.at

2. 3. 2021

Jessica Bab Bonde und Peter Bergting: Bald sind wir wieder zu Hause

Januar 19, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Shoah-Überlebende: Als Kinder im Konzentrationslager

Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur haben als Kinder den Terror des Dritten Reichs knapp überlebt. Vor allem der 1924 in der Tschechoslowakei geborene Roth, Autor, Dozent, Sozialarbeiter und in Auschwitz-Birkenau Dr. Mengele mit Mühe entkommen, vom Olof-Palme- über den Raoul-Wallenberg- bis zum Nelson-Mandela-Preis vielfach ausgezeichnet, ist als Zeitzeuge ein nimmermüder Berichterstatter über die Gräueltaten der Nationalsozialisten.

„Ich glaube, dass das Wissen über den Holocaust uns etwas über die Zukunft lehren kann“, ist sein Credo. „Eine Generation ohne historische Bildung ist schutzlos, wenn es darum geht zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“ Diese Worte haben Jessica Bab Bonde und Peter Bergting bei ihrer Graphic Novel „Bald sind wir wieder zu Hause“ beherzigt, in der sie das Schicksal dieser sechs erzählen, die als Kinder in Konzentrationslager gesperrt wurden. Buchenwald, Theresienstadt, Ravensbrück …

Susanne aus dem ungarischen Makó kam über Zwischenstationen in Strasshof und Bruck an der Leitha nach Bergen-Belsen. Entrechtet, von ihren Familien getrennt und ihrer Menschenwürde beraubt, erfuhren die Protagonistinnen und Protagonisten des Bonde-Bergting-Buchs die Angst und Verfolgung im Ghetto, quälenden Hunger, Deportation und schließlich die Entmenschlichung durch den industriellen Massenmord.

Sie mussten mitansehen, wie Eltern und Geschwister verhungerten oder an den Selektionsrampen „auf die andere Seite“ gejagt wurden. Die eine führte ins Elend der Arbeits-, die andere in die Vernichtungslager. Ins Gas. In Gesprächen gaben sie Autorin und Zeichner ihre Erlebnisse weiter. Es ist diese subjektive Perspektive, die das Ganze so besonders macht: das Millionenverbrechen, das sich in abstrakten Horrorzahlen aufzulösen droht, wird durch die einzelne, den einzelnen geschildert.

Der aus Łódź stammende Tobias Rawet engagiert sich, seit er 1992 hörte, wie der französische Geschichtsrevisionist Robert Faurisson den Holocaust leugnete. Susanna Christensen, weil sie das Gefühl hat, dass der Hass auf Juden dieser Tage heftiger wird. „Sie hat“, schreibt Bonde, „keine Angst mehr um ihrer selbst willen, hofft aber, dass ihre Nachkommen nie etwas von dem erleben werden, was ihr widerfahren ist.“ „Bald sind wir wieder zu Hause“ sieht die Verbrechen der Shoah mit Kinderaugen.

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

Viele Worte braucht es dafür nicht. Der Ton der Graphic Novel ist nüchtern, die Illustrationen von Peter Bergting sind düster, sie transportieren die bedrückende Stimmung zwischen den Viehwaggons und den Baracken. Die Farben sind schlammig, schmutzig, Grau-braun, Rot wird verwendet, um Blut oder Feuer darzustellen. Bergtings visuelle Aufarbeitung ist schlicht, aber explizit. Vor einer Rückkehr des Antisemitismus warnt auch Jessica Bab Bonde in ihrem Vorwort und wirft die Frage auf, ob ähnliche Verbrechen heute noch geschehen könnten.

Schließlich fanden die Novemberpogrome und ihre furchtbaren Folgen vor aller Augen statt: „Nur wenige lehnten sich auf, sprachen darüber, was sie seltsam oder falsch fanden … Die meisten kümmerten sich nicht darum, zu viele fühlten nicht mit denen, die so erniedrigt wurden. Zu viele schauten weg und waren beruhigt, solange ihnen und ihren Familien nichts passierte …“ Am Ende des Buches finden sich eine geschichtliche Zeitleiste sowie ein Glossar, in dem Begriffe wie „Todesmärsche“, „Davidstern“ oder „Weiße Busse“ erklärt werden.

„Bald sind wir wieder zu Hause“, diese erschütternde Sammlung von Erinnerungen und unbedingt lesens- wie sehenswerte Geschichtslektion, sollte zur Pflichtlektüre werden. Gerade jetzt, da sich rechtsradikale, rassistische Vorfälle von Tatsachenverdrehern und Verschwörungstheoretikern weltweit wieder häufen. Ein beeindruckendes Plädoyer gegen das Vergessen und für ein Niemals wieder!

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

Über die Autorin: Jessica Bab Bonde, geboren 1974, ist eine schwedische Autorin und Verlagsagentin. Im August 2019 gründete Bonde zusammen mit David Lagercrantz die neue Agentur „Brave New World“.  Im Jahr davor veröffentlichte sie zusammen mit Illustrator Peter Bergting die Graphic Novel „Bald sind wir wieder zu Hause“ über den Holocaust. Das Buch basiert auf Interviews mit den KZ-Überlebenden Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur. Es wurde für den August-Preis in der Kinder- und Jugendkategorie nominiert.

Über den Zeichner: Peter Bergting, der Spross einer Künstlerfamilie, arbeitet seit 17 Jahren als professioneller Maler und Illustrator. Seine Arbeiten – vor allem Kinderbuch- und Rollenspielillustrationen – erschienen in weit mehr als 500 Publikationen. Er wurde 1970 in jener kleinen schwedischen Stadt geboren, die durch den Film „Fucking Åmål“ einige Berühmtheit erlangt hat. Derzeit lebt er mit Frau und Tochter in der Nähe von Stockholm.

Cross Cult Verlag, Jessica Bab Bonde (Text), Peter Bergting (Zeichnungen): „Bald sind wir wieder zu Hause“, Graphic Novel, 104 Seiten. Übersetzt aus dem Schwedischen von Monja Reichert.

www.cross-cult.de           www.bergting.com

  1. 1. 2021

Theater Nestroyhof Hamakom: Zu ebener Erde und im tiefen Keller

Dezember 12, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Freizeitgesellschaft für alle Workaholics

Der französische Sozialist Paul Lafargue mit seiner Ehefrau und Karl-Marx-Tochter Laura beim Tango de la mort: Hubsi Kramar und Jaschka Lämmert. Bild: © Marcel Koehler, 2019

Während das Publikum noch zwischen vorweihnachtlichem Negroni oder doch dem klassischen Glas Rotwein schwankt, sich vielleicht auch über den ausgesprochen zuvorkommenden Service freut, laufen auf den Videowänden schon erste Filme schwer schuftender Menschen. Traditionell im Dezember hat sich das Theater Nestroyhof Hamakom wieder in Sam’s Bar verwandelt, und einer deren freundlicher Keeper ist selbstverständlich Schauspieler Florian Haslinger.

Der einem beginnend mit Zitaten von Oscar Wilde über Sully Prudhomme, seines Zeichens französischer Lyriker und Philosoph und erster Literaturnobelpreisträger, bis Boris Becker Sinn und Zweck des Abends beibringt. „Zu ebener Erde und im tiefen Keller“ heißt die von Hausherr Frederic Lion erdachte Inszenierung, eine Gegenüberstellung des Prinzips Arbeit mit der Abscheu vor ebendieser, ein buchstäbliches Gegeneinander-Ausspielen von Adam Smiths Schrift „Wohlstand der Nationen“ aus dem Jahr 1776 versus Paul Lafargues Spottpamphlet „Das Recht auf Faulheit“ von 1880. Zwei visionäre Texte – und auch zwei fantastisch verstaubte Sackgassen, deren Abschreiten einen durch die gesamte Architektur des Hamakom führt.

Wobei bei dieser performativen Bildbeschreibung dem Kapitalismus nur das Parterresein, dem Kommunismus hingegen nur noch die Katakomben bestimmt sind. Und so erklimmt Haslinger als sozusagen Adam Smith die Bühne, und versucht als deklarierter „Vater der Nationalökonomie“ wie ein Evangelist des Liberalismus und per Balken- und anderen Grafiken seine Theorien zu erklären. Die da wären, den Ursprung allen Wohlstands in der menschlichen Arbeit zu sehen, weshalb durch Anheizen der Produktivität auch dieser ansteigen werde. Heiß und kalt überläuft es einen, wenn der schottische Aufklärer vorrechnet, wie ein Hackler kaum mehr als eine Nadel pro Tag fertigen könne, aber bei Arbeitsteilung … und ruckzuck ist der Wettbewerbler bei schwindelerregenden 48.000 Stück und schnell steigen einem nicht nur die Grausbirn‘ auf, sondern auch Fließbandbilder, die eintönig vorbeirasenden „Modern Times“.

Das Schlagwort von der „unsichtbaren Hand“ hat Smith postuliert, und während Darsteller Haslinger gerade ausführt, der Mensch sei seinem Wesen nach träge, denn „der Mensch trödelt gewöhnlich ein wenig“, versagt der freien Marktwirtschaft die Technik, stockfinster wird’s im Saal, bis eine Handvoll mit Stirnlampen ausgerüstete Performerinnen und Performer die Zuschauer aus der misslichen Lage erlöst. Sie sind aus dem Augustin-Team, sind über dessen 11% K.Theater zur Kultur gekommen und schreiben wie das Ehepaar Traude und Rudi Lehner für die Rubrik „KulturPASSage“, oder wie Christian Sturm im „Dichter Innenteil“. Es ist tatsächlich der schönste Teil der Aufführung, nach dieser mit den Augustin-Akteuren ins Gespräch zu kommen, ein Gedankenaustausch über Lebenspläne und Werdegänge und die Umleitungen, auf die man geschickt wird.

Geld regiert die Welt: Florian Haslinger erklärt Adam Smiths ökonomische Theorien. Bild: © Peter Katlein

Die Lafargues vor dem gemeinsamen Selbstmord: Jaschka Lämmert und Hubsi Kramar. Bild: © Peter Katlein

Laura Lafargue mit der Grammophonstimme ihres Mannes: Jaschka Lämmert. Bild: © Marcel Koehler, 2019

Der Kommunist im Keller: Hubsi Kramar als Paul Lafague auf der Publikums-Borschtsch-Tafel. Bild: © Peter Katlein

Zuvor freilich geht’s vom Jugendstilsaal in den Backsteinkeller, an hoher, langer Tafel wird Borschtsch serviert, der Alkohol braucht schließlich eine Unterlage, also Eintopf schlürfen und aufmerksam lauschen. Wenn Hubsi Kramar und Jaschka Lämmert als Paul Lafargue und dessen Ehefrau und Karl-Marx-Tochter Laura seine Ideen exemplifizieren, die mitwirkenden Augustinerinnen und Augustiner in diesen Szenen das Salz in der Suppe. Wunderbar, wie sie zu Lukas Goldschmidts Akkordeonklängen den Tango als Totentanz schwofen, Kramar und Lämmert ohnedies auf Leiche geschminkt, denn die Lafargues werden sich mittels Selbstmords von dieser Welt verabschieden. In einer hinterlassenen Notiz steht zu lesen: „Gesund an Körper und Geist, töte ich mich selbst, bevor das unerbittliche Alter mir eine nach der anderen alle Vergnügungen und Freuden des Daseins genommen und mich meiner körperlichen und geistigen Kräfte beraubt hat …“

Auf dem Höhepunkt derselben allerdings ist Kramars Lafargue kämpferisch, der französische Sozialist und Konsumkritiker, der Schwiegervaters Marxismus in seiner Heimat zur Parteigründung verhalf, der auf Kuba geborene, „Mulatte“ geschimpfte Manifesthalter, der die kapitalistische Ideologisierung des Begriffs Arbeitsmoral ablehnte, als dessen Grundübel er die Überproduktion sah. Es hat etwas Bemerkenswertes, wenn der Mitstreiter der Ersten Internationalen vor dem aufgepinseltem Antlitz des „bärtigen und sauertöpfischen Gottes“ – meint er den Allmächtigen oder den Arbeiterbewegten? – die Bergpredigt Christi zitiert: Sehet die Lilien auf dem Felde … Es wirkt absonderlich, wenn Laura/Lämmert am Grammophon Frauenrollen runterkurbelt, die Qualwahl zwischen entweder naturverbunden-gesunde Gebärmaschine oder hohlwangig-ausgelaugte Fabrikarbeiterin.

„O jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie!“, so Lafargue in seinem „Recht auf Faulheit“, und ist der philosophischen Auseinandersetzung im Hamakom eins vorzuhalten, dann dass einem Frederic Lion die weibliche Perspektive vorenthält. Ob nun Laura Lafarge tatsächlich keine eigenständige Meinung hatte oder ihr keine zugebilligt wurde, auch Marxisten sind Machos, so ist Wien doch die Stadt des Erdarbeiterinnenaufstands, der ersten Frauendemonstration in Österreich, der am 23. August 1848 in der sogenannten „Praterschlacht“ blutig endete.

Traditionell im Dezember wird der Jugendstil-Theatersaal umfunktioniert zu Sam’s Bar, wo’s außer Programm auch Cocktails und Snacks gibt. Bild: © Nick Mangafas

Sagt Lion darauf angesprochen, politische Theaterabende können nicht jede rundum glücklich machen, so fordert alldieweil Kramar als grau gepuderter Untoter Lafargue den Drei-Stunden-Tag und Zeit für flotten Müßiggang für des Tages Rest, und weil Smith davor die Leistungsstärke der Maschine gelobt hat, fällt einem zum Computerzeitalter ein, dass vor allem wichtig, dass die Workstation werktätig ist, der Mensch an der Tastatur hastet schon irgendwie hinterher.

„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, sagen die Bibel und August Bebel, sagen Adolf Hitler und die Stalin-Verfassung, wer’s aber tut, belohnt sich mit von eben jener Wirtschaft, die er mit seiner Arbeitskraft befeuert, künstlich erzeugten Konsumbedürfnissen. Hinauf und zurück in Sam’s Bar, wo zwischenzeitlich die Titanic wie der Teufel an die Wand gemalt worden ist, ein Symbol für den gemeinsamen Schiffbruch aller Klassen, und man fragt sich, wie eine Lafargue’sche Freizeitgesellschaft der Smith’schen Workaholics funktionieren kann, prognostizieren Zukunftsforscher doch erstere, bei gleichzeitiger unternehmerischer Erwartung, der Arbeitnehmer möge via Neuer Medien twentyfourseven erreichbar und einsatzbereit sein.

Derart gibt einem „Zu ebener Erde und im tiefen Keller“ zu denken, die Nestroy-Paraphrase im Nestroyhof, die Localposse, in der auch der Volksdichter zeigt, wie schnell ein Schiff sinken und man von der Beletage im Souterrain landen kann.

www.hamakom.at           augustin.or.at

  1. 12. 2019

mumok – Heimrad Bäcker: es kann sein, dass man uns nicht töten wird und uns erlauben wird, zu leben

September 29, 2019 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Fotografien gegen das Vergessen

Heimrad Bäcker: Wehrmachtsmitglied umgeben von einer Gruppe Kindern, 1933-34. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Ab den 1960er-Jahren – lange bevor die Erinnerung an NS-Verbrechen in Österreich eine kollektive Prägung erfuhr – entstanden Heimrad Bäckers Fotografien auf dem Areal der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen. Es handelt sich dabei um eine umfangreiche fotografische Dokumentation des zunächst verlassenen, später anders genutzten Areals: die Bestandsaufnahme eines Ortes in mehr als 14.000 Fotografien.

Bäcker, dessen dichterisches und verlegerisches Werk zu den herausragenden Leistungen der österreichischen Literatur nach 1945 zählt, verstand Mauthausen und Gusen als Gedächtnisorte im Sinne des französischen Historikers Pierre Nora. Dieser hatte den Begriff „lieux de mémoire“ geprägt, um damit Orte zu bezeichnen, an denen sich das kollektive Gedächtnis kristallisiert. So wird Erinnerungskultur und historisch motivierte Identitätsstiftung ermöglicht.

Dabei ging es Bäcker im Gegensatz zu Nora nicht vorrangig um nationale Anliegen, sondern um die Verantwortung für ein Wissen und dessen Aufarbeitung. Seit 2015 befindet sich der fotografische Nachlass von Heimrad Bäcker als Schenkung seines Stiefsohns Michael Merighi im mumok. Es handelt sich dabei um ein Konvolut, das Zeugnis von einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Ort und der ihm impliziten nationalsozialistischen Massenvernichtung ablegt. Im Rahmen der Ausstellung „es kann sein, dass man uns nicht töten wird und uns erlauben wird, zu leben“, zu sehen ab 27. September, wird eine Auswahl von etwa 140 Fotografien, Notizen, Textarbeiten und Fundstücken gezeigt. Auf den Fotografien sind brachliegende Anlagen zu sehen, die von Pflanzen überwuchert sind, oder aber bewusst einer anderen Verwendung zugeführt worden waren. Es sind oft ähnliche Motive, die graduelle Unterschiede in der Nachbearbeitung aufweisen und häufig seriell montiert sind.

Heimrad Bäcker: Jourhaus des KZ Gusen-Mauthausen (Zustand 1945-1993), 1975. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Heimrad Bäcker: Seziertisch Mauthausen, undatiert. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Heimrad Bäcker: „Todesstiege“ zum Steinbruch Wiener Graben des KZ Mauthausen, 1970-75. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merigh

Heimrad Bäcker: Hinrichtungsraum Berlin-Plötzensee, undatiert. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Die Bilder und Texte geben einen Einblick in die Herangehensweise Bäckers und können parallel zu seinen Textarbeiten „nachschrift“ aus dem Jahr 1986 und „nachschrift 2“ aus dem Jahr 1997 begriffen werden, die als „Erkenntnisarbeit zur Genese und Struktur des Holocaust“  eine Aufklärung über Nationalsozialismus und Schoah anstrebt. Es handelt sich dabei um eine Zitatensammlung aus der Perspektive von Täterinnen und Tätern, Opfern, Angeklagten und Klägerinnen und Klägern, die mit den Mitteln von Text und Sprache ein Narrativ der Vernichtung erstellt. Ausschnitte aus „nachschrift“ sind in der Ausstellung in einem von Bäcker selbst gesprochenen Text zu hören. Bäcker hatte in Zusammenhang mit der „nachschrift“ von einer „möglichkeit zur konkretion“ gesprochen.

Das vorgefundene Textmaterial weist eine gewisse Parallele zu seiner fotografischen Spurensuche auf und erschließt ebenfalls Fundstücke: Gegenstände, die er auf dem Areal gesammelt hatte, seien es kleine Nägel oder größere Holz- oder Betonfragmente. Bäcker suchte nach einer Form der Narration, die auf überprüfbaren Dokumenten basiert. Er verzichtet auf „einfälle und phantastik“, wie er es nannte, um in seinen Texten und Fotografien die Orte Mauthausen und Gusen gegen das Vergessen in Stellung zu bringen

Der Präsentation des Werks von Heimrad Bäcker werden im mumok zwei Arbeiten zeitgenössischer Künstler zur Seite gestellt: In der Sound-Arbeit „Ein mörderischer Lärm“ von Tatiana Lecomte berichtet der Zeitzeuge Jean-Jacques Boijentin, unterstützt vom professionellen Geräuschemacher Julien Baissat, vom unerträglichen Lärm in den Arbeitsstollen des Konzentrationslagers Gusen, verursacht durch die schweren Maschinen, die im Stollen zum Einsatz kamen. Rainer Iglars Fotostrecke „Mauthausen 1974“, die er als zwölfjähriges Schulkind bei einer Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager angefertigt und als erwachsener Mann wiedergefunden hat, zeigt das Zusammentreffen der persönlichen Geschichte des Fotografen und der Geschichte des Ortes: „Der Ort ist markiert, es ist kein unschuldiger Ort.“

 

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25. 9. 2019