WUK performing arts: On The Egde #8

November 8, 2022 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Ein Festival für zeitgenössische Zirkuskunst

Knights of the invisible (GB): Waiting for the Sea Eagle. Bild: © Richy Walsh

Was 2019 als Versuch startete, ist mittlerweile ein richtiges Festival geworden: „On The Edge“ im WUK geht in die dritte Runde. Das diesjährige Programm zeigt vom 18. bis 26. November Performances aus Österreich, Deutschland, Belgien, Tschechien, Irland und Schottland – allesamt unkonventionelle und mutige künstlerische Positionen, die den traditionellen Zirkus neu verhandeln. Installationen, Filmscreenings,

Diskursformate sowie KünstlerInnen-Gespräche runden das Festival ab. Neben neuartigen dramaturgischen und ästhetischen Zugängen innerhalb der Zirkuskunst beschäftigen sich die KünstlerInnen auch mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen – was dringender denn je erscheint, in Zeiten von vielfältigen Krisen. Die Themen reichen von Kommunikation und Empathie, über den Wert von veränderten Wahrnehmungsmustern und medialen Vorgaben, der Aneignung Raums, bis hin zur Infragestellung des konstanten Strebens nach Immer Mehr, des Scheiterns und den persönlichen Bewältigungsstrategien damit. Allen KünstlerInnen gemein ist das experimentelle Arbeiten und die Weiterentwicklung ihrer Zirkustechniken.

Das Programm:

Sandra Hanschitz (AT/DE): |||||. 18. und 19. 11., 19.30 Uhr. Im Tanz mit dem Cyr Wheel zelebriert Artistin Sandra Hanschitz das Loslassen. Die Stimmung ihrer Performance ||||| entwickelt sich von ruhevoller Balance über Kontrollverlust hin zu faszinierender Dynamik und schwebender Leichtigkeit. Von rohem Klang bis zu feinen Beats komponiert der Klangvirtuose Joël Beierer dabei die gesamte Geräuschkulisse aus dem Cyr Wheel selbst. Trailer – Sandra Hanschitz: IIIII: vimeo.com/747600670

Sinking Sideways (DE/BE): René. 18. und 19. 11., 21 Uhr. Die Künstlerinnen Xenia Bannuscher und Dries Vanwalle sind in ihrer Performance „René“ stetig auf der Suche nach Entwicklung, Variation und Überraschung. Mithilfe eines komplexen Systems von Taktstrichen wird die außerordentliche Synchronizität der AkrobatInnen durch minimalistische, immer wiederkehrende rhythmische Musikakzente unterstützt. „René“, choreografiert und interpretiert von Sinking Sideways, ist das Debüt des Tanzakrobatik-Kollektivs und vereint Zirkus und Tanz auf raffinierte Weise. Eine österreichische Erstaufführung

Sebastian Berger (AT): Is it a trick? 19. 11., 18 Uhr, 20. 11., 15 und 18 Uhr, 21. 11., 19.30 Uhr. „Is it a trick?“ ist ein zeitgenössisches Zirkusstück von Sebastian Berger, das fließend in eine Installation übergeht. Im Rahmen einer immersiven Performance bewegt sich das Publikum frei im Raum, sucht sich seinen Blickwinkel selbst und wird somit Teil der Performance und des zirzensischen Tricks. Etablierte Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen werden dabei infrage gestellt. Besonderes Interesse gilt der Blickführung des Künstlers, seines Zeichens ein Meister der Objektmanipulation, als auch der Betrachtenden: Der Fokus ist nicht direkt auf das Objekt gerichtet, sondern wird beispielsweise über Spiegel gelenkt. Diese ungewohnte Sichtweise und der damit einhergehende Kontrollverlust versprechen spannende Neuentdeckungen von Altgewohntem.

Sebastian Berger (AT): Is it a trick? Bild: © Romain Maguaritte

Sandra Hanschitz (AT/DE): |||||. Bild: © Jennifer Rohrbacher

Viktor Černický (CZ): PLI. Bild: © Vojtěch Brtnický

Film – Chloé Moglia (F): Horizon. Bild: © Johann Walter Bantz

Viktor Černický (CZ): PLI. 20. 11., 19.30 Uhr, 21. 11., 21 Uhr. „PLI“ vereint 22 Konferenzstühle, einen besessenen Rhythmus und einen hingebungsvollen Performer. Auf einer weißen Plattform bemüht sich Viktor Černický entschlossen um die unendliche Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion des Universums. Das Ergebnis ist ein intelligentes und spielerisches Solo zwischen Zirkus und Tanz – und eine physische Metapher für endloses menschliches Streben und Durchhaltevermögen. In Anlehnung an die Philosophie von Gottfried Willhelm Leibniz ist „PLI“ eine unvorhersehbare und humorvolle Performance, bei der barocke Opulenz durch räumliche Bescheidenheit und materiellen Minimalismus ersetzt wird. Die Performance „PLI“ wurde von vielen europäischen Spielstätten und Festivals präsentiert – unter anderem in Paris, London, Ljubljana, Helsinki, Barcelona und Rom. Viktor Černický ist Twenty20-Künstler bei Aerowaves, einer renommierten Plattform für innovative Tanzproduktionen in Europa. Eine österreichische Erstaufführung.

Verena Schneider & Charlotte Le May (AT/FR): ALTER – cirque introspectif. 24. und 26. 11., 19. 30 Uhr. „ALTER – cirque introspectif“ ist die erste Stückentwicklung von Verena Schneider & Charlotte Le May. Die beiden Akrobatinnen gestalten eine intensive physische Performance, in der Akrobatik, Tanz und Text zusammentreffen. Der Körper wird dabei zum Kommunikations-, Erfahrungs- und Klangmittel. Die Bewegungen und akrobatischen Figuren sind explosiv, energetisch, präzise und sanft. Die in der Performance verwendeten Texte sind von den Künstlerinnen selbst verfasst und basieren auf einem Interview mit einer Person namens „Lara“. Die Texte beschäftigen sich vor allem mit der Frage der Sozialisierung und der Beziehung zum anderen.

Knights of the Invisible (SCT/GB): Waiting for the Sea Eagle. 24. 11., 21 Uhr, 25. 11., 19.30 Uhr. Die schottische Kontorsionistin und Tänzerin Iona Kewney arbeitete mit Wim Vandekeybus und Alain Platel zusammen, bevor sie ein eigenes künstlerisches Universum entwickelte, indem sie den Körper mit Klängen auf die Probe stellte und die Gesten bis zum Äußersten trieb. „Waiting for the Sea Eagle“ von Knights of the Invisible aka Iona Kewney und Joseph Quimby – die beiden verstehen sich als radikale Tanzkompanie mit hyperrealistischen Details und surrealistischen Visionen, ihre Performances sind zutiefst energetisch, wild und pur – ist eine österreichische Erstaufführung.

Darragh McLoughlin (IRL): STICKMAN. 25. Und 26. 11., 21 Uhr. Eine Person balanciert einen langen, dünnen Stock auf verschiedenen, oft unbeholfenen Körperteilen und setzt ihn dadurch in Bewegung. Ein Fernseher versucht, die Wahrnehmung des Publikums zu beeinflussen, indem er ihm vorschreibt, was es zu sehen hat. Das Publikum gerät ins Sinnieren: Ist das, was es liest, das, was es sieht? Was genau macht die Person mit dem Stock, der Stock mit der Person? Durch den Einsatz verschiedener psychologischer Methoden erforscht Darragh McLoughlin das Thema Wahrheitshoheit, indem er sie dem Publikum auf komische und manchmal aggressive Weise aufzwingt. Ist man noch in der Lage, Entscheidungen über die Welt, die einen umgibt, zu fällen oder wird man einfach nur von einer Menge an Informationen vor sich hergetrieben? Eine österreichische Erstaufführung.

Darragh McLoughlin (IR): STICKMAN. Bild: © Philippe Deutsch

Sinking Sideways (DE/BE): René. Bild: © Jostijn Ligtvoet

Verena Schneider & Charlotte Le May (AT/FR): ALTER – cirque introspectif. Bild: © Verein Freifall

Festival Closing Party mit einem Konzert von Zion Flex. @ Soda Salon – Bild: Käthe deKoe

coffee & circus curated by Initiative feministischer Zirkus. 20. 11., 11 Uhr. „coffee & circus“ ist das neue Vernetzungs- und Diskursformat von „On The Edge“, zu dem die Initiative feministischer Zirkus einlädt. Im gemütlichen Rahmen gestalten VertreterInnen der Zirkusszene den Sonntagvormittag mit ihren Themen. Ob Vortrag, Diskussionsrunde oder kollektive Performance: den Formaten sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig soll der Vormittag auch als Inspiration dienen, mit eigenen Entscheidungen eine diskriminierungssensiblere Szene zu gestalten. Coffee und Snacks gehen aufs WUK. Die Initiative feministischer Zirkus setzt sich für eine gleichberechtigte und sichere Zirkusszene ein. Ihr Ziel ist, eine erhöhte Aufmerksamkeit sowie mehr Veränderungswillen im Hinblick auf patriarchale Strukturen, Inklusion, Respekt und Sensibilität zu generieren.

Filmscreenings. 18. bis 21. 11., 19 Uhr. Während des Festivals zeigt das WUK im Foyer Kurzfilme aus dem Bereich der experimentellen Zirkuskunst. Mit Filmen von Elodie Guézou, Chloé Moglia, Laura Murphy, Verena Schneider & Charlotte Le May und Darragh McLoughlin.

Am 26. 11., 22 Uhr, findet die Festival Closing Party mit einem Konzert von Zion Flex statt. Zion Flex ist eine preisgekrönte Künstlerin aus Bristol, die in Wien lebt und international auftritt. Sie hat mehrere Singles, Alben und Musikvideos veröffentlicht. Als Singer-Songwriterin macht sie elektronische Musik mit melodischem Gesang, Spoken Word sowie Rap. Eine einzigartige Ästhetik, ein faszinierendes Hörerlebnis. Videos: www.youtube.com/watch?v=OJlRr3wpHV8           www.youtube.com/watch?v=n8KrbaADNi8

Mehr Infos und Tickets unter dem jeweiligen Programmpunkt hier: www.wuk.at/programm/on-the-edge-8

TIPP: Die Vorstellungen am 19. November finden im Rahmen der Europäischen Theaternacht statt. Das WUK öffnet daher die Saaltüren zum pay as you wish | canPreis und empfiehlt sich rechtzeitig vorher Karten zu sichern. Pro Person können pro Vorstellung maximal vier Karten gebucht werden. Reservierungen bitte an performingarts@wuk.at. InhaberInnen eines Kulturpasses (www.hungeraufkunstundkultur.at) melden sich mit ihren Kartenwünschen sowie einem Scan oder Foto des gültigen Ausweises ebenfalls bei performingarts@wuk.at.

  1. 11. 2022

WUK: On The Edge #9 – experimentelle Zirkuskunst

November 3, 2021 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Männer in Pferdegeschirren und Omas in luftigen Höhen

Un loup pour l’homme: Cuir. Bild: © Edouard Barra

Wer heutzutage Zirkus sehen will, findet sich nicht mehr zwangsläufig in einem Zelt zwischen Tieren, Popcorn und Wohnwagen wieder. Die zeitgenössischen Formen des Zirkus sind mittlerweile international und – insbesondere europaweit – bestens etabliert. Und so zeigt das WUK von 5. bis 13. November das Festival für experimentelle Zirkuskunst „On The Edge #9“. Das Festival öffnet einen Raum für Zirkuskunst, die sich an der Schnittstelle zu Performance

und Bildender Kunst bewegt. „On The Edge“ zeigt Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die die eigene Praxis abstrahieren oder dekonstruieren und den Raum, die experimentelle Ausdrucksform oder die Rolle des Publikums neu denken. Das Festival fördert mutige künstlerische und politische Positionen und einen reflektierten Umgang mit Genderrollen auf der Bühne.

„On The Edge #9“ wird von den Residenz-Künstlerinnen und -künstlern eröffnet: Vier Artistinnen und Artisten aus Österreich, Deutschland, Luxemburg und der Schweiz wurden im Rahmen des circus re:searched Programms eingeladen ihre aktuellen Projekte und Forschungen während zwei-wöchigen Studio-Residenzen zu vertiefen oder bestehende Arbeiten zu präsentieren. Nachwuchskünstlerinnen und -künstler treffen auf etablierte Zirkusschaffende und frische Experimente auf bereits bestehende Stücke. Die Performances von Anne Kugener und Julian Vogel beschäftigen sich beide mit der Schnittstelle von Zirkus und Bildender Kunst – von Vogel ist auch die Installation „China Series #11“ zu sehen. Das Duo Maja Karolina Franke und Ralph Öllinger untersucht das Geschlechterverhältnis und die Rollenverteilung in der partnerakrobatischen Praxis.

Hier schließt auch die Künstlerin Kathrin Wagner an, die ihre Rolle und Erfahrungen als Frau und Performerin in der Zirkuswelt reflektiert. Aus persönlichen Erfahrungen mit Sexismus und Berichten anderer Performerinnen entstand das Slam-Gedicht „I was told“, das zusammen mit dem Text „Love Letter to myself“ Ausgangspunkt für die aktuelle Kreation ist. Nachdem Jonglage und Poetry Slam von der Künstlerin als separate Disziplinen erlernt wurden, entstand der Drang, eine tiefere Verbindung zu schaffen. In der Kombination aus gesprochener Sprache und Jonglage bereichern sich nun beide gegenseitig und verändern die Wahrnehmung des Publikums auf die einzelnen Genres.

I was told. Bild: © Jan Ole Laugesen

Grand Mère. Bild: © Alexandre Fray

Anne Kugener. Bild: © Natali Glisic

„In the maze of your perception, I resonate …“ von Tänzerin Elena Lydia Kreusch und Straßenkünstler Andrea Salustri ist eine interdisziplinäre Rauminstallation: Kleine Publikumsgruppen können sie gemeinsam begehen und Klanginstallationen, Videokunst und interaktive Skulpturen eigenständig erkunden. Die präsentierte Auswahl ist Teil eines langfristigen Forschungsprojekts, im Rahmen dessen das Duo mit alternativen und nicht-performativen Formaten für zeitgenössischen Zirkus experimentierte. Zirkuskörper und -disziplinen werden dekonstruiert und Zirkusgesten und -objekte werden in einen neuen Kontext gesetzt. Die Infragestellung etablierter Blickwinkel eröffnet neue Perspektiven auf ein vertrautes Genre.

Als „Acrobalance: Extreme Symbiosis“ präsentieren das schwedische Künstlerpaar Henrik Agger und Louise von Euler Bjurholm eine intime 55-minütige dokumentarische Lecture Performance. In „Extreme Symbiosis“ geben sie dem Publikum einen Einblick in ihre Arbeit, Praxis und ihr Leben als Paarakrobaten. Indem sie die Bedeutung eines konstanten geistigen und körperlichen Trainings in ihrer Kunstform zeigen und hervorheben, hoffen sie, das Verständnis für diese Kunstform zu erweitern. „Was geschieht in der Interaktion zwischen uns, wenn wir unsere Praxis ausüben? Eine Zusammenarbeit zwischen Körper und Geist, individuellen Systemen und gemeinsamen Sinnen. Eine langjährige PartnerInnenschaft, die auf extremem Vertrauen basiert und in der Praxis täglich herausgefordert wird.”

Zwei Männer, zwei Ledergeschirre. Das ist „Cuir“ der Compagnie „Un loup pour l’homme“. Was wie ein Spiel um Dominanz und Unterwerfung aussieht, entpuppt sich als subtiles Duett, das das menschliche Verlangen nach gegenseitigem Verständnis erforscht. „Un loup pour l’homme“ benutzt die Geschirre – die normalerweise von Zugpferden getragen werden – um die Seele des Menschen zu durchpflügen und die Zerbrechlichkeit persönlicher Beziehungen aufzudecken. „Cuir“ ist eine akrobatische Tour de Force bei der die Energie in jeder Sekunde auf’s Publikum überspringt.

Der flämische Akrobat Toon Van Gramberen setzt sich seit einigen Jahren mit dem alternden Körper auseinander. Sein Vater erklärte sich bereit, ihn in einem gemeinsamen Prozess zu begleiten. Er ist sechzig Jahre alt und hat keinerlei akrobatische Vorkenntnisse. Dies war der Anfang von „Carrying my father“, einem Bühnenstück, das mittlerweile vier Akrobaten und ihre Väter involviert. Begleitend zum Kreationsprozess von „Carrying my father“ entstand die Fotoausstellung, die einen intimen Einblick in den Probenprozess gibt.

Un loup pour l’homme: Cuir. Bild: © Edouard Barra

Maja Karolina Franke und Ralph Öllinger. Bild: © Claude Hofer

Acrobalance: Extreme Symbiosis. Bild: © Arts printing house

In the maze of your perception … Bild: © Kreusch & Salustri

Wenn der alternde Körper in den Mittelpunkt der akrobatischen Forschung gestellt wird, werden die Vorstellungen von körperlicher Virtuosität notwendigerweise dekonstruiert und neu definiert. So verschieben sich zwangsläufig auch Perspektiven auf den Körper des Akrobaten und auf die gesamte Disziplin. Der Dokumentarfilm „Vaders Dragen – Carrying fathers“ zeigt den Entstehungsprozess einer Zirkusproduktion in der sich vier Akrobaten die Bühne mit ihren Vätern teilen.

Das „Projet Grand Mère“ des Akrobaten Alexandre Fray, Mitglied von „Un Loup pour l’Homme“, untersucht die Geste des Tragens im Rahmen einer Recherche mit älteren Menschen: Tragen als Symbol des „Sich Kümmerns“. Es geht Fray darum, sich Zeit zu nehmen, miteinander in Beziehung zu treten, viel zuzuhören und eine Atmosphäre zu schaffen, die Vertrauen und Verbundenheit fördert. Dies ist die Basis für die Entwicklung einer gemeinsamen körperlichen Arbeit. Ziel ist das Finden einer Intimität, die von einer großen Zartheit durchdrungen ist. Gemeinsam mit älteren Frauen, welche nie oder selten getragen wurden, hinterfragt der Akrobat die Herausforderungen einer Disziplin, die vom Horizont der Höchstleistungen oft in den Schatten gestellt wird.

Was bedeutet es, sich den Gesetzen des Gleichgewichts und der Schwerkraft zu widersetzen, wenn Gelenke rosten und Muskeln schmelzen? Wie kann man „loslassen“, wenn der Körper dies verlernt um sich selbst zu schützen? Was bedeutet Virtuosität für den alternden Körper – kann auf einem Bein stehen mit 80 Jahren dasselbe Risiko kommunizieren wie ein Rückwärtssalto? Die Foto-Ausstellung „Projet Grand Mère“ dokumentiert die besonderen Begegnungen des Akrobaten mit Frauen im Alter von „Großmüttern“ von 2016 bis heute, die den Schritt ins Leere wagen und sich in die Luft heben lassen.

Arne Mannott, Choreograf, Zirkusperformer und Kurator, beschließt die Woche mit der Videoinstallation „circus“. Dafür wurden zehn Akteurinnen und Akteure verschiedenen Alters, verschiedener Herkunft und mit verschiedenen künstlerischen Hintergründen zu ihrer Sichtweise zu Zirkus befragt. Im Fokus der Interviews steht die Frage nach dem „Was ist eigentlich Zirkus?“ – und damit auch danach, wodurch sich die Kunstform Zirkus selbst definiert und welche besonderen Merkmale dabei zustande kommen. Die Porträtierten sind alle seit Jahren oder Jahrzehnten in der Zirkuskunst tätig und treten für dieses Video in einen ganz persönlichen Dialog mit sich selbst.

Mehr Infos und alle Termine: www.wuk.at

3. 11. 2021

Momomento: Debris

November 11, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Poetische Verbeugung vor vergessenen Zirkusartisten

Maskenspiel und Zirkusnummern: Ruth Biller und Philipp Schörghuber erzählen tragische Geschichten von gescheiterten Artisten. Bild: © Philipp Ehmann

Miss Ella, der tatsächlich Omar Kingsley war, Katie Sandwina, die eigentlich höchst Wienerisch Brumbach hieß, Mieze Haupt, Tommy Cooper … Sie sind im Nebel der Geschichte verschwunden, der Kunstreiter, der mittels Künstlerinnenname vom Ruhm seiner Kolleginnen naschte, die einstmals stärkste Frau der Welt, die sich der Zugkraft von vier Pferden entgegenstemmte, die Raubtierdompteuse, die vor den Augen des Ehemanns von ihren Löwen getötet wurde, der

Zauberkünstler, der mitten in seiner Bühnenshow an einem Herzinfarkt starb … In der Fabrik in der Donaustädter Seestadt holt nun Momomento, Verein für zeitgenössische Zirkuskunst, die Verlorengegangenen und aus dem Gedächtnis Entschwundenen der gemeinsamen Zunft zurück in die Manege. „Debris. Ein Abend über das Vergessen“ nennt sich die Produktion, die das Regieduo Victoria Halper und Kai Krösche, für ihre letzte Arbeit „Ungebetene Gäste“ für den Nestroy-Spezialpreis 2019 nominiert (www.mottingers-meinung.at/?p=35311), in Szene gesetzt hat – Schattengeschichten über solche, die nie im gleißenden Licht der Arenen standen, dargeboten als pantomimische Performance von der Zeitgenössischen-Zirkus-Artistin Ruth Biller und Komponist und Live-Musiker Philipp Schörghuber.

Debris, das bedeutet Überbleibsel, Trümmer, und erstere aus zweiteren bergen Biller und Schörghuber nun, Fundstücke aus der Finsternis, zitieren herbei, was in Museumsarchiven verstaubt, in Hinterlassenschaften der Neuentdeckung harrt, Zeitdokumente, Namen, Gesichter auf verblassten Fotos, Menschen, die verdrängt, verbannt, im schrecklichsten Falle vernichtet wurden. Weil ihre Herkunft oder Religion die „falsche“ und also nach Meinung faschistischer Machthaber für sie kein anderer Platz als im Exil oder Vernichtungslager vorgesehen war. Was Biller und Schörghuber erzählen, sind Schicksale, die Lebensenden allesamt letal, tödliche Unfälle beim Hochseilakt, Eifersuchtsdramen zwischen Messerwerfern und deren „Zielscheiben“, verheerende Zirkusbrände … das Vorgeführte ein einziger Salto mortale, bei dem auch an die unethischen Praktiken der Freakshows und Monstrositätenkabinette oder der Dressur wilder Exoten erinnert wird.

Philipp Schörghuber kann mit allem Musik machen. Bild: © Philipp Ehmann

Ruth Biller mutiert auf Stelzen zum Elefanten. Bild: © Philipp Ehmann

Es ist eine der eindrücklichsten Episoden, wie Ruth Biller, die Beine auf Stelzen, die Arme um Besen verlängert, den Elefanten-Mensch macht, vom Tierbändiger zu Kunststückchen geknechtet, vom Publikum mit Erdnüssen gedemütigt, deren Schalen sie selbst aufkehren muss – bis die graue Riesin schließlich beschließt, sich mit einem Befreiungstotschlag an seinem Peiniger zu rächen. Bühnenbildner Matthias Krische hat für derlei Schaustellerei die Fabrik zwar mit dem obligaten roten Stoff ausgekleidet, doch darüber mit Plastikplanen, die an Abriss, an Baustelle denken lassen, die Atmosphäre ganz elegischer Abgesang.

Zu Schörghuber mit Akkordeon oder Kontrabass, auch Windspiel oder eingerissener Cymbale entlockt er Musik, hat Krösche eine Tonkulisse geschaffen, Klänge aus einem klassischen Zirkus-Orchestrion, unterfüttert mit historischen Aufnahmen hysterischer Ansager, der Sprechstallmeister seinerseits unterbrochen von Gelächter, Applaus, erschrockenen Ohs und Ahs, die „Debris“ in eine poetische Verbeugung vor vergessenen Zirkusartisten, in eine mitunter auch alb-/traumwandlerische Suche im Schutt der Vergangenheit verwandeln.

Biller und Schörghuber vor einer Akrobatiknummer. Bild: © Philipp Ehmann

Biller verbiegt sich, Schörghuber am Kontrabass. Bild: © Philipp Ehmann

Das Surreale der Szenerie unterstreichen die Masken von Matthias Krische, jede für sich ein Kunstwerk, jede dazu angetan, die diversen Zirkuskünstler als Archetypen ihrer Disziplinen auszuweisen. Für sie ist in der Mitte der Spielfläche eine durchsichtige Requisiten- kammer eingerichtet, aus der sich Biller und Schörghuber nehmen, was sie zur Darstellung brauchen. Sei’s als tanzende Taubendompteurin, sei’s für eine rasante Hula-Hoop-Reifen-Nummer. Wieder und wieder kommt es zum scharfklingigen Todeswurf, wieder und wieder zur Herzattacke.

Ein Einrad steigert sich zum Hochrad, je höher, je tiefer Schörghubers Fall; Ruth Biller zeigt als Hochseilartistin mehr als nur Andeutungen von Akrobatik. Den Körper im Wortsinn im Seil verstrickt, balanciert sie von Bodenpunkt zu Bodenpunkt, mit Bewegungen, die authentischer nicht sein könnten. Doch sogar in dieser stolzen Schönheit lautet makaber das Morbide – und Biller markiert nicht, nein: sie stürzt wirklich ab. Nach 90 Minuten mit fliegenden Frauen, traurigen Clowns und einer gespenstischen Armkontorsion von Philipp Schörghuber ist das Sinnenspektakel viel zu schnell vorbei.

Vier Gelegenheiten es zu sehen, gibt es noch! www.momomento.com

Interview mit Victoria Halper und Kai Krösche: www.mottingers-meinung.at/?p=32445

10. 11. 2019