Volkstheater: Ach, Sisi – Neunundneunzig Szenen

Januar 13, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut

Das Musical-Ensemble beim Schlussapplaus: Andreas Beck, Anna Rieser, Anke Zillich und Christoph Schüchner. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Na, wenn das Volkstheater da mal keinen Hit gelandet hat. Dies zumindest nach den höchst amüsierten Reaktionen des Premierenpublikums zu schließen. Rainald Grebe und Ensemble brachten gestern Abend „eine Staatsaktion, ein Nichts, ein Volkstheater“ zur Uraufführung, betitelt „Ach, Sisi – Neunundneunzig Szenen“, und die meisten davon wurden mit Szenenapplaus bedacht.

Nicht zuletzt ein Verdienst der – es stand an dieser Stelle schon – exzellenten

Schauspielerinnen und Schauspieler, die Kay Voges mit nach Wien gebracht hat, all die Typen und Käuze, die Messerschmidt’schen Charakterköpfe, die performen bis zum Anschlag, und das mit unverbrüchlicher Spiellust und einer Art Kind gebliebener Innigkeit. Rainald Grebe, dies ergänzend, ist ein in Deutschland sehr populärer Theater- und Liedermacher, Autor, Kabarettist und Obstbauer, der unter anderem mit dem Salzburger Stier ausgezeichnet wurde, und der sich nun mit der ganzen Kraft seines satirischen Könnens über die Habsburgermonarchie hergemacht hat.

Heißt: Über den Mythos Sisi und über die Kultfigur Sissi, also die aus den Romy-Schneider-Filmen, und selbstverständlich darf da das legendäre Musical „Elisabeth“, dargeboten als Backstage-Comedy, nicht fehlen: „Ich gehör nur mir!“ Und so beobachtet man die Darstellerinnen und Darsteller, zwei Stunden waren angesagt, zweieinhalb sind’s geworden, beim Darstellen, Vorstellen, Herstellen von herrlichem – wie die Nachbarn sagen – Quatsch mit Soße, einer hinterfotzigen Nonsens-Revue, in der’s Schlag auf Schlagobers zur Sache geht.

Das mit dem Doppelsinn passt hier gut, entleibt sich doch Uwe Schmieder als Haushofmeister und Zeremonienmeister/Inspizient am Regiepult buchstäblich, wobei ihm Bühnenweisheiten von den Lippen perlen, die es mit dem Sketch „Der Menschen Würde ist in Eure Hand gegeben“ durchaus aufnehmen können. Wie Schmieder seine Rolle anlegt? Hintergründig! Mit wirren Locken und Zack-Hüftschwung, wenn er die Krinoline hochklappt, um sich auf sein Stühlchen zu setzen.

Es ist dieser Außenblick der (in Szene sieben erklären zwei echte Wiener die korrekte Aussprache) Biffkäe-Truppe, der „Ach, Sisi“ so reizend macht. Die seltsame Obsession der Österreicher mit ihrer exzentrischen Kaiserin, die Weitervererbung von Devotionalien (ein Milchhäferl aus Bad Gastein), der Souvenirhandel und das touristische Geschäft, die Vermarktung als VBW-Exportartikel, auf dies alles wird ein schiefes Licht geworfen.

In der Radiologe: Anna Rieser und Christoph Schüchner moderieren die Sisi-Nacht. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Es kann nie genug Sisis geben: Anke Zillich, Christoph Schüchner und Ensemble. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Totentanz mit Observationsspezialist: Andreas Beck im rosa Dirndl und Ensemble. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Im Sackerl wartet das Menagereindl: Andreas Beck als Kaiser Franz Joseph-Darsteller. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Grebe fackelt ein Feuerwerk an groteskem Klamauk ab, er knüpft eine Perlenkette an Assoziationen, so glänzend wie Sisis Haarsterne, er legt den Kern des hiesigen Sissi-Brauchtums frei, das Hochhalten einer überkommenen Tradition (man erinnere sich, dass bei der Beisetzung Otto Habsburgs in der Kapuzinergruft die Kaiserhymne gespielt wurde), und zu den persönlich favorisierten Szenen gehört jene von Andreas Beck, der klarstellt, Franzl und Sissi hätt’s nie gegeben, das sei eine Erfindung des Nachkriegsösterreich, das mit Zuckerlsüße sein durch den Nationalsozialismus beschädigtes Image aufpolieren wollte. Tja, ja.

Freilich wurde auch Recherche-Arbeit betrieben. Weshalb mittels vom Hof- und Kammerschuhmacher Scheer geborgtem Leisten die Beschaffenheit von des Kaisers Rist erklärt werden kann – Tilla Kratochwil, die mit ihren aufklärerischen Ansätzen regelmäßig scheitert, oder wenn Andreas Beck ausführt, die Straßenbahnlinie zum Nordbahnhof heiße O und nicht 0. Der Hoftratsch kommt zu seinem Recht, Haushofmeister, eigentlich: Obersthofmeister, Konstantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst naturgemäß, Anna Rieser als Elisabeths schottischer Reitlehrer Bay Middleton: „No love, just sports“;

Christoph Schüchner als Hofdame Marie Gräfin von Festetics – Notiz vom 21. 12. 1871: „Die Kaiserin stand in einem blauen Kleid in der Mitte des Zimmers, eine große Dogge neben ihr. Die Kaiserin lächelte, der Hund kam auf mich zu, beschnupperte mich und wedelte er mit dem Schweife. …“, Constantin Christomanos, der Griechischlehrer und Vorleser auf Korfu. Besonders schön: Andreas Beck als Observationsspezialist Kriminalinspektor Kammer, der sich im rosa Dirndl unter die totentanzenden Sisis mischt. Einmal mehr Tilla Kratochwil, sie rechtfertigt die Tat des bettelarmen Anarchisten Luigi Lucheni („Nicht einmal ein Messer konnte er sich leisten, er musste eine Feile nehmen!“) an der royalen Salonanarchistin.

Für Graf Andrássy hält CliniClown Balázs Várnai die Magyarenehre hoch. Als wütendes Czardasmädl in rot-weiß-grüner Tracht gibt er für die arroganten Wienerinnen und Wienern eine Sprachstunde, Paprika im Arsch von Dentalreisenden und Ferienhausbesitzenden am Balaton, die ansonsten für Ungarland nur Verachtung übrighaben. Überhaupt sind die HobbyschauspielerInnen vom Feinsten, Susanna Peterka, pensionierte Ministerialbeamtin, die schildert, wie sie sich einen Mann so fesch wie der Karlheinz Böhm angelte, nur dass sich der ihre knapp vor Verehelichung als verheiratet und Vater dreier Kinder herausstellte. Worauf sie sich einem Beatles-Lookalike zuwandte, ein böser Bube, ergo begehrenswerter, der auch mal seitensprang: „Mit Liebesworten hat er mich nicht überhäuft, aber 48 Jahre hat’s gehalten.“ Welch eine wunderbare Erzählung, die die zwiespältige Sissi-Sehnsucht, Hofburg-Glanz und Schönbrunner Traurigkeit, auf den Punkt bringt, ohne etwas davon auszusprechen.

Die Vettern It beim langsamen Walzer? Nein, Sisis tanzende 1,5-Meter-Haartracht. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Psychiater Michael Musalek wagt sich an eine klinische Ferndiagnose: „Bipolar, früher sagte man manisch-depressiv“, diskutiert wird, ob Elisabeth im Schlank- und Schönheitswahn wirklich Blut getrunken und sich rohe Koteletts aufs Gesicht gelegt hat. Die Live-Band „Sissi Top“, die Multiinstrumentalisten Jens-Karsten Stoll, Simon Frick und Christopher Haritzer, haben Sisis Gedichte aus ihrem Poetischen Tagebuch* mal als Klezmer, mal als Rap, mal als Volksmusik vertont – sie fühlte sich ja in Seelenverbindung mit „Meister“ Heinrich Heine. Dazu kriecht das Ensemble im Bühnenbild von Jürgen Lier und in den Kostümen von Kristina Böcher im Wortsinn aus allen Löchern.

*Die Kaiserin hat die Veröffentlichung erst 60 Jahre nach ihrem Tod genehmigt und verfügt, dass die Tantiemen „dem Wohle der politisch Verurteilten und ihrer bedürftigen Verwandten“ zugutekommen sollten. Und das passiert seitdem tatsächlich, sie werden vom UNHCR verteilt, womit die Volkstheater-Aufführung auch einen caritativen Charakter bekommt.

Wie hingetupft wirken die neunundneunzig Miniaturen, viele sehr lustig, etliche surreal und magisch, keine davon fad. Aus einer Loge übertragen die Radiomodertoren Anna Rieser und Christoph Schüchner „die lange Sisi-Nacht“ samt „Sissi/DC-Quiz“, und begrüßen dazu Anke Zillich als Dynastiehexe Erzherzogin Sophie im Talk über Elisabeths egozentrische Sperenzchen aka Freiheitskampf. Das Ensemble absolviert das Morgentraining der Hofreitschule auf Steckenpferd-Lipizzanern: „Wundern Sie sich nicht über die dunklen Hengste, der Lipizzaner ist erst im Alter verschimmelt.“ Schüchner singt sich als Musical-Elisabeths Tod ein, alldieweil Andreas Beck als Franz-Joseph-Interpret herzhaft aus dem Menagereindl schmaust.

Witzig die Szene, in der Zillich und Beck im Prolo-Dress zu den pathos-triefenden Original-Filmtexten lippensynchron agieren – Dialog Ischl, knapp vor Jagdausflug: „Ich bin ja da, um die Prinzessin Helene in Bayern kennenzulernen. Aber sie g’fallt ma schon besser.“ – Sissi entsetzt: „Die Néné?“ Oder der langsame Walzer zweier Vettern It, die sich als Sisis ein Meter fünfzig lange Haare erweisen. Kein Wunder, dass da der Szenenzähler erst durchbrennt, dann durchdreht. Ein Chaos, in dem sich Schmieder bis zu Angus Youngs Schuluniform-Kurzer und weiter entblättert.

All diese Gesten, Wimpernschläge, Ascheflocken, Schnappschüsse sind ein Vexierspiel über ein Phantom, das keinen Anspruch auf Wahrheit, wohl aber an beste Unterhaltung stellt – und erfüllt. Vorstellungen, Vermutungen, verschrobene Figuren tanzen Quadrille, nähern sich an, trennen sich und tauschen Partnerin oder Partner. „Ach, Sisi“ ist keine spöttische Demontage eines Nationalheiligtums, sondern eine liebevoll augenzwinkernde Hommage ganz besonders auch aufs Österreichertum, das die Piefkes, wie’s die Piefkes eben so tun, milde besserwisserisch und mithilfe abstruser Theorien zu fassen suchen. Das ist sympathisch, die Sigmund’sche Freud, mit der sie begreifen, was uns „Ösis“ (Unwort, verboten!) an den Deutschen so nervt.

Zum Ende verbeugt sich das Musical-Ensemble mit dem Rücken zum Volkstheater-Publikum beim Schlussvorhang. Man ist seit Jahren mit der Produktion unterwegs, sagt ein müder Schmieder, die Kulissen sind längst schäbig geworden, die Sangeskünstlerinnen und -künstler immer provinzieller. Der Menschen Würde ist in Eure Hand gegeben. Jubel und Applaus für Rainald Grebe und Team. Man schließe mit einem Kaiser-Franz-Joseph-Zitat: Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.

www.volkstheater.at         Trailer: www.youtube.com/watch?v=9AEv0338W74           rainald-grebe.de

  1. 1. 2022

Volkstheater: Die Politiker

September 5, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sozialsystem reimt sich auf Hände in der Creme

Andreas Beck, Rebekka Biener, Bettina Lieder, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Samouil Stoyanov, Stefan Suske, Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

„Gibt es Fragen bis hierher?“, so wendet sich Samouil Stoyanov zwischendurch ans Publikum. Äh – jein? Dessen fast noch neuer Intendant Kay Voges eröffnete die neue Saison am Volkstheater mit Wolfram Lotz‘ „Die Politiker“. Eine österreichische Erstaufführung, die Anmerkung dazu später. Was Lotz liefert und Voges ausstellt, ist dramatisierte Lyrik, ein für die Bühne erdachtes Gedicht, ein Sprachsoundtrack, aus dessen Wortkaskaden vor allem eines deutlich wird: Politiker, Politika, Politikae, Politiker et cetera pp …

Daraus Erkenntnisgewinn ziehen zu wollen, ist ebenso sinnvoll, wie einem Frosch das Singen beizubringen, vielmehr muss man sich von diesem Gedankenstrom, diesem Un-/Bewusstseinsstrom mitreißen lassen, der die Akustik politischer Gegenwärtigkeiten unter reichlich Rauschen über die Rampe schwappt, hinein in einen Zuschauerraum Fleisch gewordener Fragezeichen. Die Assoziationskette wie der Geduldsfaden, sie reißen mancher und manchem schon beizeiten.

Was man aus diesem Abend jedenfalls mitnehmen kann, ist dies: Das renovierte Haus kann technisch Tausend, was gut ist, denn Voges ist mit dieser Grandiositätsapparatur offensichtlich nicht angetreten, um zu kleckern, sondern zu klotzen. Und er hat dafür ein wunderbares, wortdeutliches Ensemble um sich versammelt, Charakterköpfe, wie von FX Messerschmidt gemeiselt, die mit einer Verve durch den Textraum turnen, die Gefühle, Zitate, Gerüchte, Beobachtungen derart hochmusikalisch ineinander morphen, dass man sich auf weitere Begegnungen mit ihnen freut.

Bevor Andreas Beck, Rebekka Biener, Bettina Lieder, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Samouil Stoyanov, Stefan Suske, Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich zum Zug kommen, ist aber erst mal ein kleiner Kameraroboter in Reihe sieben dran, der Naturaufnahmen des kanadischen Filmemachers Michael Snow mit Livebildern des Publikums überblendet. Zu leuchtend-luziden 3D-Anmutungen, die Lotz‘isch kaleidoskopisch rotieren, während die Live-Musik von Dana Schechter und Paul Wallfisch dröhnt, dass die Tribüne es einem durch Mark und Bein vibriert.

Uwe Schmieder, Samouil Stoyanov, Nick Romeo Reimann, Stefan Suske und Christoph Schüchner. Bild: © Marcel Urlaub

Die großartige Gitte Reppin2 dank der Live-Kamera. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Andreas Beck vor dem gläsernen Büro-Karussell. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Bettina Lieder, Samouil Stoyanov, Rebekka Biener und Uwe Schmieder. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

„Die Politiker“, da wird nicht nur für die Augen was geboten, da gibt’s auch ordentlich was auf die Ohren. Aus dem Halbdunkel schälen sich dreizehn Gestalten in Weiß, noch schlafen sie in ihrer Brutstätte, doch gleich werden sich die Areopagiten erheben, als choreografierter Chor à la griechischer Tragödie, in die Jetztzeit geworfen, um die Polis über „Die Politiker“, die πολιτικά/politiká zu unterrichten. Im Setting von Michael Sieberock-Serafimo- witsch – Kostüme: Mona Ulrich, Video Art: Max Hammel, Marvin Kanas, Roboter-Programmierung: Mauritius Luczynski, Live-Kamera: Manuel Bader – dreht sich ein Karussell gläserner Büros um eine Art Agora, der antike Eindruck verstärkt durch die mit Bildschirmen bewehrten David von Michelangelo und Nike von Samothrake.

Was nun auf diversen Screens, groß, klein, überdimensional, multiperspektivisch anhebt, ist ein Klagelied, und ja, der Chor singt auch, eine poetische Überflutung an Erwartungen, Entsolidarisierungen, Verärgerungen, Klischees, alternativen Wahrheiten, Stammtisch-Weisheiten, Paranoia – und Absurdität. „Die Politiker“, sie sind Hass-Subjekte, Hoffnungsträger, Un-/Heilsbringer, Projektionsfläche, Verantwortliche für eigenes und fürs eigene Versagen. All dies ist nicht bis zum heraufdämmernden Erklärungsnotstand durchdekliniert. Kay Voges‘ Inszenierung ist ein Gesamt-Überforderungs-Kunstwerk, Theater der Grausamkeit reloaded, dass der alte Artaud seinen Spaß daran gehabt hätte.

Voges‘ Albtraum-Ringelspiel ist intensiv, aufwühlend, amüsant, irrwitzig, ironisch, und wer die Sogwirkung der Performance leugnet, der lügt. Lotz fabuliert nach reim dich, oder ich fress dich, Sozialsystem auf Hände in der Creme; eins der lässigsten Gadgets ist die Gesichterparade von Caesaren über Stalin, Mao, die Kennedys, Obama, Putin … bis zu Super Mario. Die Spielerinnen und Spieler sind allesamt Autoren-Ichs (einmal auch Lotz‘ Katze), die – mal die, mal der – aus der Reihe und zu einer spezifischen Suada antreten.

Bettina Lieder, Ensemble, vorne: Uwe Rohbeck. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Zwischen hausbackener Kauzigkeit, Marktschreierei und dem Aufzählen von Salatsorten, zwischen Hauskatzen und Hitler fällt einem Anke Zillich auf, Andreas Beck nach dem „Theatermacher“ einmal mehr, ebenso wie Uwe Rohbeck (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=46859), immer wieder Stefan Suske, Gitte Reppin2 dank der Live-Kamera, Nick Romeo Reimann mit den

totenweißen Augen, Heimkehrer Christoph Schüchner, der in Sofia geborene, in Linz aufgewachsene Samouil Stoyanov, der die Sympathiewerte, wie’s die Wienerinnen und Wiener so gern haben, zum Publikumsliebling mitbringt – wie Beck und Stoyanov fassungslos einem flüchtenden Zuschauerpaar nachgaffen, wirkt’s wie bestellt.

Uwe Schmieder schließlich, per se ein Teiresias, dem die zweifelhafte Ehre eines Arschfickerei-Monologs zukommt, dada-gaga, doch ein bundesdeutsches Namedropping, zu dem sich hierzulande kaum Bezug herstellen lässt. Eingedenk der Tatsache, wo die Herrschaften nunmehr Theater machen, und da Lotz bei der Premiere ohnedies anwesend war, ließe sich dieser Absatz vielleicht verösterreichern?

„Wollen wir in so einer Kultur leben?“, fragt Schmieder. Durchaus. Zumal als nächstes eine Dostojewski-Dramatisierung und Susanne Kennedys „Drei Schwestern“ nach Tschechow anstehen. Theater, dies nicht zu vergessen, darf polarisieren, die Geister scheiden und erboste Buh-Rufe provozieren. Es darf nur eines nicht: langweilen. Und das tun Kay Voges und Team keineswegs. In diesem Sinne ist „Die Politiker“ eine Herausforderung, eindreiviertel pausenlose Stunden an genüsslich zelebrierter Repetitionserotik mit einem Ensemble, dass sich mit Lust die Lotz’schen Un-/Sinnsätze auf der Zunge zergehen lässt. Was das Weitere betrifft: Herausforderung angenommen!

www.volkstheater.at

  1. 9. 2021

Volkstheater: Der Theatermacher

Mai 27, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Thomas. Bernhard. Dekonstruktion

Der Theater-Blutwursttag war manchem im Publikum nicht Blunzn: Uwe Rohbeck, Nick Romeo Reimann, Anna Rieser und Anke Zillich. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

„Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“, das ist seit 35 Jahren des Publikums liebstes Thomas-Bernhard-En­t­rée, in launiger Runde längst zum Zitat geworden, und man erinnert sich: Traugott Buhre, Kirsten Dene, Josefin Platt, Martin Schwab, Bibiana Zeller, der sprachlos seine Hängebäckchen schwabbeln lassende Hugo Lindinger. „Als ob ich es geahnt hätte“, brachte der neue Volkstheaterdirektor Kay Voges, wie’s alle antretenden Intendanten tun, seine

bühnenerprobte Inszenierung vom „Theatermacher“ mit nach Wien. Gestern Dortmund, heute V°T, übermorgen …? … Fotzbach. Hatte man auch schon überlegt, diese Rezension zu titeln. Oder: Thomas. Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall. Doch das ist ja aus dessen Prosa, und mit seinem „Mein Gott / nicht einmal zum Wasserlassen / habe ich diese Art von (Gast-)Häusern betreten“, fährt Andreas Beck den ersten Lacher ein, denn – Text-Bild-Schere – das Volkstheater glänzt derart in seiner frischrenovierten Pracht, dass es eine Freude ist. Von wegen Utzbach wie Butzbach, die zum House Warming angetretene Truppe wird sich damit arrangieren müssen, dass Wien sich für den Theaternabel der Welt hält.

Immerhin: Voges und Team wurden freundlicher empfangen, als ihre VorgängerInnen, bis auf ein paar vehemente Buh-Rufer gab’s viel Applaus, vor allem absolut verdient für die Darstellerinnen und Darsteller. Der Rest wird die Geister scheiden, in jene, die jedes Bernhard’sche Wort für sakrosankt halten, und jene, die dem postmodernen Dekonstrukteur und notorischen Theatertechnikinnovator Kay Voges bereit sind, auf seinem Weg zu folgen. Die zuletzt verloren gegebene Schlacht ums Stammpublikum – tja, man wird sehen. Leicht konsumierbar ist, was zu erwarten war, jedenfalls nicht.

Zum Atemanhalten also die Frage, ob’s und wie’s den – schon wieder – deutschen Theatermachern gelingen wird, den urösterreichischen Nestbeschmutzer über die Rampe zu bringen. Und die erste Dreiviertelstunde wird man tatsächlich im Alles-Roger-Glauben gehalten. Die Bühne von Daniel Roskampf ist eine Baustelle, wie‘s das Dortmunder Schauspielhaus weiland war. Sichtbeton, Staub, eine Sprinkleranlage, zwei Rolltore, vier Feuermelder, fünf Notbeleuchtungen, neun Feuerlöscher. Alles sehr vorschriftsmäßig.

Auch Andreas Beck, ein Bär (den’s später aus der Requisite geben wird) von einem Mann, der den Bruscon ohne die üblichen Mimen-Mätzchen anlegt, mit funkelnder Sprache und glasklaren Schimpftiraden, hinter denen die Gefährlichkeit der Verzweiflung lauert. Kongenial an seiner Seite Uwe Rohbeck als wieselflinker, spindeldürrer Wirt des „Goldenen Hirschen“, in dessen Tanzsaal der Staatsschauspieler mit seiner Sippschaft seine selbstverfasste Menschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“ aufführen will.

Jeder darf Bruscon sein: N. R. Reimann. Bild: © N. Ostermann / Volkstheater

Anke Zillich, hi.: Uwe Rohbeck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

und Punk Anna Rieser. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Beck ist ein mächtiger Bruscon, der sich dessen überschnappende Suada auf der Zunge zergehen lässt. Zu den Schwerfälligkeitsmenschen, den Inkompetenzschmierern, der hustenden Gattin, den untalentierten Kindern, dem Machtmenschen Feuerwehrhauptmann Attwenger, im Saal sitzend, „seltsam verwachsene Menschen, hässlich, mit Masken, wahrscheinlich eine Seuche, Schweinepest“, fügt er andere hinzu: „Intendantenpipi, Intendanten- pimmel“, „Ist doch alles zu, nur bis 22 Uhr offen“, „Die nächsten 14 Tage werden entscheidend sein“. Und etwas stutzig macht hier der queere Wirt und wie er seinen enormen Gast studiert, ihn kopiert. Warum das alles?

Weil sich hier das Rad der Geschichte unablässig dreht, nach ein wenig Verdi beginnt alles von vorne, die Theaterwiederholungsqual, die lebenslängliche Theaterkerkerhaft. Oben am Portal leuchtet von neunen nun die Zahl zwei auf, jahaha, so oft wird’s revolviert werden, „Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“. Runde zwei ist schneller, härter, schnoddriger. Beck spielt mit verschärftem Tempo, gelockerter Zunge und würzt den Text mit mehr und mehr improvisiert-aktuellen Anspielungen.

Ein Eisbär, dessen Augen rot glühen, wird auf die Bühne geschoben und schließlich, um deutlich zu machen, wer der wichtigste Theatermacher im Lande ist: eine Hakenkreuz-Parodie. Die eingegipsten Arme von Sohn Ferruccio, Nick Romeo Reimann, verdoppeln sich von eins auf zwei. Wieder bei der Frittatensuppe angekommen, geht’s zur #3, Beck und Rohbeck tauschen die Rollen, die beiden ein grandioses Komödiantenduo und der spillerige Rohbeck im Nadelstreif eindeutig ein Kay-Voges-Lookalike. Wohingegen Beck nun der denkbar schlechteste Stichwortgeber ist, körperlich ein Rohbeck hoch3, der dem hippelig hampelnden Hochkulturgenius hinterherhinkt.

Das beiläufige „Heute ist Blutwursttag“ wird zum Minimelodram, nicht jeder auf den Rängen goutierte die dazu servierten Hakenkreuz-Tutus. Wie auch immer, Beck und Rohbeck werden dem Wiener Prädikat Publikumsliebling wohl nicht mehr entgehen. Und weiter geht’s zur Leuchtziffer vier unterm Castorf’schen Räuberrad. Nun wird Sohnemann Reimann zum hellblau-gestreiften Theatermacher und singt den Bruscon-Text im grausigen Musicalton, während Andreas Beck als voll vergipster Sohn im Elektrorollstuhl herumfährt. Das Tempo beschleunigt sich weiter, die Späße werden gröber.

Tauschen alsbald die Rollen: Andreas Beck und Uwe Rohbeck. Bild: © Birgit Hupfeld / Volkstheater

So stellt man sich den Theatermacher vor: Uwe Rohbeck. Bild: © Birgit Hupfeld / Volkstheater

Andreas Beck, Anna Rieser, Nick Romeo Reimann und Eisbär. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Nick Romeo Reimann und im Ganzkörpergips Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Danach rast das Ensemble bei den Nummern 5 bis 8 in die Abgründe eines Albtraums, in dem die Mutter, Anke Zillich, die Theaterhölle dirigiert. Sie und Tochter Sarah, die herrlich koboldhafte Anna Rieser als Macho-Punk, den Busen mit schwarzen Klebestreifen ausgeixt und die Schrift „Fickt die Väter“ auf dem Jackett tobt sie durch die Zuschauerreihen, sind jetzt die Theatermacherinnen und verkehren alle Machosprüche in ihr Gegenteil: „Mit Männern Theater zu machen ist eine Katastrophe.“ Das ist das ultimative Gendern der Kunst. So manche freut’s, so mancher, der Herr hinter einem etwa, reagiert, als hätte es wer gewagt, die Bibel umzuschreiben.

Theaterblut fließt am Blutwursttag, die Spielregeln zwischen dies- und jenseits der Bühnenrampe, diese „jahrtausendealte Perversität, in die die Menschheit vernarrt ist“, löst sich auf in chaotische Effekte. Die Theatertechnik zieht ein Register nach dem anderen. Harte Beats, rotierende Scheinwerfer, wirbelnde Schriftprojektionen von Schimpfwörtern, verzerrte Stimmen. Nebel und horrorbunte Farben fluten die Bühne, an den Wänden schlängeln sich grandiose halluzinogene Videos von Mario Simon.

Dass die Echoräume des Bernhard’schen Stücks sich verschoben hätten, wo heute doch jede und jeder seine Rants und rückkoppelnden Empörungsschleifen in den Social Media loswerden könne, beschreibt Kay Voges seine Arbeit. Sein Performance-Parforceritt ist eine Tiefenbohrung sowohl in Text als auch zeitgenössische Theatergeschichte, von Apostel Peymann zu Zertrümmerer Castorf, von Musical-Kitsch zu aktionistischem Feminismus, von Diskurstheater zu toxischer Männlichkeit. Ein Horror. Ein Horror, der nicht ohne sich stetig schneller drehenden Empörungsspirale, theatraler Selbstironie und kritischer Selbstbefragung abgeht. Wie noch Schauspiel, wie Volkstheater machen im post-post-post-Zeitalter?

Voges fördert zutage, was Bernhard heute und für alle Zeiten ausmacht. Eine Aktualität, die in den Eingeweiden der Theaterhäuser rumort, und Voges sticht mitten hinein ins Schweizerhaus-Stelzenfett* der hiesigen Bernhard-Verehrung. Nun heißt es gespannt sein auf Lucia Bihlers, sie die Hausregisseurin der Berliner Volksbühne, Version der „Jagdgesellschaft“ am Akademietheater. Prognose: So frisch, provokant und kontroversiell wie im Jahr seines 90. Geburtstages hat man den mittlerweile Salonklassiker Thomas Bernhard auf heimischen Bühnen lang nicht mehr gesehen.

[Anm.: www.youtube.com/watch?v=hh4haKOmm68]

www.volkstheater.at

  1. 5. 2021