Streaming: Big-Bang-Theorie-Star Jim Parsons in „Hollywood“ und „The Boys in the Band“

Januar 7, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Traumfabrik wird endlich zum Equality-Land

Hoffnungsvolles Ausharren bei der Oscar-Verleihung: Joe Mantello, Jim Parsons, Dylan McDermott, Holland Taylor und Patti LuPone. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Oft wenn Hollywood sich den Rückspiegel seiner Goldenen Ära vorhält, entgleitet das Ergebnis ins Sentimentale. Nostalgie mit Melancholie. Da tut es gut, wenn einer die Suggestionskraft hat, die cinematographische Märchenpracht ins Sagenhafte zu übersteigern. Ryan Murphy und Ian Brennan haben’s getan, die beiden vormals verantwortlich für „Glee“, „Ratched“, „American Horror Story“, Murphy, dessen

Dienste sich Netflix 2018 für unvorstellbare 300 Millionen Dollar für fünf Jahre exklusiv sicherte, nun für die Netflix-Serie „Hollywood“, ein topaktuelles Gegennarrativ zur gängigen L.A. Story. Wird doch in dieser den Mythos aufmotzenden Hommage die Traumfabrik endlich zum Equality-Land, „Hollywood“ spielt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als das berühmte Sign tatsächlich noch um die vier Buchstaben L.A.N.D. länger war, und Murphy und Brennan zeigen ganz Tinseltown, als ob #BlackLivesMatter und der #LGBTQ-Pride darüber hinweggefegt wären.

Die sieben Episoden folgen einer Handvoll blutjunger Protagonistinnen und Protagonisten, die nach Rampenlicht, Ruhm und Reichtum streben, Ex-Soldat und Schauspielanfänger Jack Castello, Drehbuchdebütant Archie Coleman, Regieneuling Raymond Ainsley und die Schauspiel-Elevinnen Camille Washington und Claire Wood, in Klarnamen David Corenswet, Jeremy Pope, Darren Criss, Laura Harrier und Samara Weaving – Archie und Camille Afroamerikaner, sie die Lebenspartnerin des halbphilippinischen, aber „weiß“ wirkenden Raymond.

Claire die Undercover-Tochter von Studio Boss Ace Amberg aka Rob Reiner – und hauptsächlich ist es die „Alte Garde“, die „Hollywood“ darstellerisch wertvoll macht: „Two and a Half Man“-Mutter Holland Taylor und Joe Mantello als Produzentenduo Ellen Kincaid und Dick Samuels, Dylan McDermott als Tankstellengigolo Ernie West und Tony-Award-Gewinnerin Patti LuPone als Avis Amberg, die den Chefsessel ihres Göttergatten entert, als diesen bei einem Pantscherl der Herzkasperl holt.

Rock Hudson mit Lebenspartner Archie Coleman: Jake Picking und Jeremy Pope. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Tankstellen-Toy-Boys: Darren Criss und David Corenswet. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Probeaufnahmen für „Peg“: Jim Parsons und Jake Picking. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

And the Oscar goes to …: Jeremy Pope, Darren Criss und Laura Harrier. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

An nackter Haut und Sexszenen wird nicht gespart, vor allem, weil die Jungs als Brotjob Ernies illustre Kundschaft mit Blow Jobs beglücken. „Dreamland“ heißt das Codewort des Zapfsäulenbordells, wo auch Avis eine treue Freierin von Jack ist, und da kommt auch der grandios agierende Jim Parsons ins Spiel, als Hollywood-Agent Henry Willson, der die Herrenriege, bevor er sie unter Vertrag nimmt, erst einmal zur Fellatio bittet. Statt Besetzungscouch steht hier gleich ein komplettes -bett, 70 Jahre vor #MeToo, und Parsons ist brillant als von Selbsthass zerfressener Unsympath, fulminant sein Isadora-Duncan-Tanz mit den sieben Schleiern, der den sexuellen Missbrauch seines Klienten-Frischfleischs als Selbstverständlichkeit nimmt.

Der homosexuelle Henry Willson ist ein dem realen Leben entliehener Charakter, und Roy Fitzgerald, den in der Serie halb fiktionalisiert und ausdrucksstark Jake Picking verkörpert, war wirklich sein Schützling. Willson macht aus ihm „Rock Hudson“, auch Sekretärin Phyllis Gates, mit der Willson Hudson pro forma verheiratete, kommt vor. Aber laut Murphy und Brennan verliebt sich der schüchterne, nicht übermäßig helle Stiefvaterkomplexler Rock in Archie, die beiden werden ein Paar, das zum Happy End den Red Carpet Hand in Hand beschreiten wird.

Die Traumfabrik-Talente nämlich haben einen ebensolchen: Archie hat ein Drehbuch geschrieben, „Peg“ – Entwistle, die sich, da aus ihrem ersten Film geschnitten, 1932 vom Hollywood-H in den Tod stürzte, Raymond will Regie führen und die Titelrolle mit Camille besetzen, womit sie die erste Schwarze in einer Hauptrolle wäre. Eine Unternehmung, von der Avis und Ellen als emanzipierte Regentinnen eines rassistischen, schwulenfeindlichen, frauenverachtenden Hollywoods alsbald überzeugt sind, die jedoch, man wird es sehen, auch den Ku Klux Klan samt seinen brennenden Kreuzen auf den Plan ruft …

Queen Latifah als die erste schwarze Oscar-Preisträgerin Hattie McDaniel. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Michelle Krusiec als die um ihre Hauptrolle betrogene Anna May Wong. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Laura Harrier als Leinwandschönheit Camille Washington. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Viel nackte Haut, hier die von David Corenswet als Jack Costello. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Namedropping ist bei einer Produktion wie dieser gleichsam Pflicht, Tallulah Bankhead, Vivien Leigh und Noël Coward haben Kurzauftritte bei einem von George Cukors Erotikdinnern, bei dem Jack und Archie als Fill-up-Boys im Einsatz sind, Ernie himself exklusiv als Entspannung für die hochneurotische Vivien, der oberintrigante Henry Rock an den Mann ist gleich Dick bringen will, Hollywood eine Männerwelt, in der man im Wortsinn die Hose runterlassen und bei der Stange bleiben muss – und das alles zum wunderbar swingenden Soundtrack von Ella Fritzgerald bis Frank Sinatra und Sets, die nur möglich sind, wenn Geld keine große Sache ist.

Michelle Krusiec spielt Anna Mae Wong, zu dieser Zeit die weltweit prominenteste Filmschauspielerin chinesischer Herkunft, die um die Hauptrolle in der Pearl-S.-Buck-Verfilmung „Die gute Erde“ betrogen wurde, weil MGM sicherheitshalber die weiße Luise Rainer besetzte – die prompt einen Oscar erhielt, Queen Latifah Camilles Mentorin Hattie McDaniel, die für die Rolle der braven Sklavin Mammy in „Vom Winde verweht“ als erste Schwarze einen Academy Award, den Nebendarstellerinnen-Oscar bekam, und auf diese Art Figuren festgelegt blieb.

Berührend ist die Szene, in der sie Camille erzählt, man hätte sie bei der Preisverleihung von den anderen Nominierten getrennt und an einen Tisch in der hintersten Reihe gesetzt, weshalb Camille entschieden auf den ihren in der ersten Reihe bestehen müsse. Tatsächlich war erst Whoopi Goldberg im Jahr 1991 die zweite afroamerikanische Nebendarstellerinnen-Oscar-Preisträgerin, 2002 Halle Berry die bisher einzige schwarze Oscar-Preisträgerin in der Hauptdarstellerinnen-Kategorie.

Backstage-Bangen: Patti LuPone, Dylan McDermott, Holland Taylor und Samara Weaving. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Soviel zu #OscarsSoWhite, wiewohl das am britischen Theater schon längst übliche Colorblind Casting allmählich zumindest die Bildschirme erobert (siehe: Bridgerton, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43837). Im Gegensatz dazu wird sich in der schönen, heilen Flimmerwelt, in der die einzige maßgebliche Color die Technicolor ist, bereits im Vorspann gegenseitig den Hollywoodland-Schriftzug hochgeholfen, bis die Heldinnen und Helden mit einer Grandezza in den Sonnenaufgang blicken, die all das Behauptete wie wahr erscheinen lässt.

Murphy unterläuft das klassische, nach außen puritanisch-bigott-biedere, nach innen von Ressentiments beherrschte Hollywood optisch wie inhaltlich mit den Mitteln ebendieses klassischen Hollywoods. Das hat Charme. Die Serie, die mit ihrem kontrafaktischen Finale furios die Filmgeschichte umschreibt, hat deutlich mehr mit Tarantinos historisch freihändiger Hollywood-Fantasie zu tun als mit dem Harvey-Weinstein-Skandal. Sie ist, was die Traumfabrik im Idealfall immer schon war: erstklassige Unterhaltung. Mit Sprung im Spiegel.

Eine Staffel zwei ist möglich, Fans betteln in den Social Media geradezu darum. Zum Ende der ersten entwickelt Jim Parsons als Henry Willson, Spoiler: der Saulus wird zum Paulus und arbeitet sich zum Produzenten hoch, das Script einer Liebesromanze zwischen zwei Männern mit Rock Hudson in der Hauptrolle, dies Henrys Buße für seine Sünden am schönen Vierschröter – und Avis scheint nicht abgeneigt. Und wenn sie nicht gestorben sind, gewinnen sie zwar keinen Oscar, aber vielleicht einmal einen Emmy…

Trailer: www.youtube.com/watch?v=Q3EASLgzOcM            www.youtube.com/watch?v=W0WsEyqx0r4           www.netflix.com

FILMTIPP: The Boys in the Band

Jim Parsons und „Spock“ Zachary Quinto in der Broadway-Verfilmung

Tuc Watkins, Andrew Rannells, Matt Bomer, Jim Parsons, Zachary Quinto, Robin de Jesús, Brian Hutchison, Michael Benjamin Washington, Charlie Carver. Bild: S.E. White/Netflix ©2020

Und noch einmal Ryan Murphy, Joe Mantello – als Regisseur des Gay-Dramas – und Jim Parsons. „The Boys in the Band“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks aus dem Jahr 1968 von Mart Crowley, für dessen Bildschirm-Variante Produzent Murphy versprach, ausschließlich die schwulen Schauspieler aus dem 2018er-Broadway-Revival zu besetzen. Es ist also New York in den 1960ern, und Michael, Jim Parsons, richtet für Harold, Zachary Quinto, eine

mitternächtliche Geburtstagsparty aus. Ein schönes Fest soll es werden, zu der Michael den gesamten Freundeskreis eingeladen hat: seinen Liebhaber Donald (Matt Bomer), den ob seines Lovers gelangweilten Larry (Andrew Rannells) mit Lebenspartner Hank (Tuc Watkins), den stilbewussten Chauvi Bernard (Michael Benjamin Washington) und den stets zu Scherzen aufgelegten Emory (Robin de Jesús). Anfangs ist die Stimmung ausgelassen, was sich liebt, das neckt sich, die Intellektuellen-Clique ist unter sich und genießt den Abend.

Jim Parsons mit de Jesús und Rannells. Bild: Scott Everett White /Netflix ©2020

Zachary Quinto mit Carver und de Jesús. Bild: Scott Everett White /Netflix ©2020

Dass der gutaussehende, jedoch kulturell weniger bewanderte Stricher Cowboy Tex (Charlie Carver), er ist Harolds Geschenk, nicht wirklich in die Runde passt, sorgt schon für erste zynische Kommentare. Problematisch wird es jedoch, als unangemeldet Alan (Brian Hutchison) auftaucht, ein früherer Kommilitone von Michael, der unbedingt mit ihm reden will und den Emory kurzerhand als homosexuell outet. Harold erscheint und hat für alle nur Gehässigkeiten übrig, doch dann verstrickt der beleidigt-betrunkene Michael seine Gäste in ein sadistisches Spiel: Jeder muss eine ehemalige heimliche Liebe anrufen, und dieser am Telefon ebendiese und seine Homosexualität gestehen. Und Essig ist’s mit der Feierlaune, die Situation eskaliert …

Wie in „The Boys in the Band“ gekeift, gelästert, gedemütigt wird, der Tonfall so giftig und untergriffig, das ist durchaus ein Vergnügen. Man merkt dem Cast an, dass er aufeinander eingespielt ist, alldieweil man sich fragt, warum die dargestellten Männer eigentlich miteinander befreundet sind. Auf Entgleisungen folgen Handgreif- lichkeiten folgt Selbsthass. Parsons und Quinto im Infight sind allemal ein Hit, nicht zuletzt, wenn Harold Michael auf den Kopf zusagt, dass der seine Homosexualität verabscheut und lieber ein Hetero wäre. Im Streit werden Geheimnisse gelüftet und unausgesprochene Gefühle offenbart, Hank trägt immer noch seinen Ehering, Bernard laboriert als „doppelte Minderheit“ an seiner Hautfarbe ebenso wie an seiner sexuellen Orientierung.

Wäre Michael lieber ein Hetero? Jim Parsons und Matt Bomer als Lover Donald. Bild: Scott Everett White /Netflix ©2020

Förmlich sieht man die alten Narben zu frischen Wunden aufreißen, und fantastisch gespielt ist die Hassliebe, die die das Kammerspiel dominierenden Michael und Harold von Jim Parsons und Zachary Quinto verbindet. An keiner Stelle weiß man, ob man die beiden von Herzen verabscheuen oder mit ihnen leiden soll. Abseits von #LGBTQ sind dies die universellen Themen: Freundschaft und dennoch die Lust an Verletzungen, das Verlangen nach Liebe und trotzdem das Zurückstoßen derer, die es tun, Worte und wie sie zu Stichwaffen werden. Kurz gesagt: „The Boys in the Band“ ist absolut sehenswert!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=862Pb9oDDAo           www.youtube.com/watch?v=WAIQbHJ9sAk           www.netflix.com

  1. 1. 2021

netzzeit 2019 Out of Control: Dionysos Rising

September 20, 2019 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Bakchen wurden in die Psychiatrie überstellt

Umringt von allerlei surrealem Volk: Zachary Wilson als Dionysos mit Knochendaimon Evandro Pedroni, Da Yung Cho als Telete, Waldgeist Britt Kamper-Nielsen, Faun Juliette Rahon, Anna Quadrátová als Semele und Nymphe Luan de Lima. Bild: © netzzeit

“Ist der Dame nicht gut?”, fragt eine Zuschauerin mit Blick auf die junge Frau, die sich in einer Ecke auf dem Boden windet. Es ist Sopranistin Da Yung Cho in ihrer Rolle als Telete, die die prickelnde Atmosphäre des Sektempfangs auf der Spielfläche stört. Gerade, als das Publikum sich zuprostet, der Gott des Weines wie des Rauschs lässt keine gläserne Flöte lange leer, wird seine Tochter verhaltensauffällig, die Vortänzerin seines Nachtvolks nicht mehr nur im Ritual rasend – und schon stürmen Ärzte und Pfleger den Raum. Die Bakchen, sie wurden in die Psychiatrie überstellt …

Nach der umjubelten Uraufführung in Trient brachten Regisseur Michael Scheidl und Ausstatterin Nora Scheidl die Oper “Dionysos Rising” gestern im Wiener MuseumsQuartier zur Österreichischen Erstaufführung. Das musiktheatralische Werk von Komponist und Librettist Roberto David Rusconi markiert gleichsam den Auftakt von “netzzeit 2019 Out of Control” mit insgesamt drei Produktionen, die unter dem Motto “Der ewige Augenblick” stehen. Rusconi ließ sich für seine Arbeit von den „Dionysiaka“ des spätantiken, byzantinischen Dichters Nonnos von Panopolis inspirieren. Entstanden ist ein Meisterstück aus Schauspiel, Gesang – in italienischer Sprache mit Übertiteln – und Tanz.

Das Klangerlebnis ist ein einzigartiges, sind doch das live hinter der Bühne musizierende Instrumentalensemble PHACE unter der Leitung von Dirigent Timothy Redmond und sieben Chorstimmen dank des Surround Sounds von L-ISA, derzeit die innovativste Technologie auf diesem Gebiet und von Rock- und Elektropop-Bands wie Aerosmith oder Lorde bereits mit Begeisterung benutzt, von allen Seiten des Raums zu hören. „Soundscape“, Klanglandschaft, nennt Rusconi das so entstehende Phänomen, und er weiß sich damit als Pionier in Sachen Musikdrama.

Männliche Nymphe trifft auf weiblichen Faun: Die Tänzer Luan de Lima und Juliette Rahon. Bild: © netzzeit

Der Knochendaimon gibt Semele den Blutwein des toten Ampelos: Evandro Pedroni, Ray Chenez und Anna Quadrátová. Bild: © netzzeit

Dass derzeit am Burgtheater Ulrich Rasches Interpretation der Euripideschen „Bakchen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34408) zu sehen ist, ist eine Koinzidenz, die wohl niemand vorhersagen hätte können. Bei Rasche wie bei Rusconi steht Dionysos für Instinkt und Emotion, für Kräfte jenseits des Rationalen, doch was dem einen numinos erscheint, erfasst der andere als heilsbringend. Die Welt müsse weg von einem Wertesystem, in dem Information mit tieferem Verständnis gleichgesetzt wird, befindet denn auch Michael Scheidl in seinen einleitenden Worten.

Leistungsdruck, Geldgier, Selbstentfremdung, den von Politik und Wirtschaft befeuerten “Flächenbränden des Hasses und der Regenwälder”, gelte es Empathie und Mut zur mänadischen Ekstase entgegenzusetzen. Im Erkennen, dass einen ein Zuviel an Seelenregung in der kalten Nüchternheit dieser Tage aber schnurstracks in die Nervenheilanstalt bringt, hat Rusconi eine solche als Setting gewählt. Zwangseingewiesen sind vier ver-rückte Menschen, deren Leiden die beiden “seriösen Herren” Michael Scheidl und Claudio Polzer diagnostizieren: Sopranistin Anna Quadrátová als Dionysos‘ Mutter Semele ist eine von Wahnvorstellungen von Feuern gepeinigte Frau.

Mit Kaiserschnittnarbe, aber ohne Säugling, wurde sie doch laut Mythologie, als sie Zeus in seinem ganzen Glanz sehen wollte, von diesem verbrannt – worauf Hermes ihre Leibesfrucht bis zur Geburt in Vater Zeus’ Oberschenkel barg. Dass ihr ihre absonderliche Sex-Story niemand glaubt, versteht sich. Sopranistin Da Yung Cho ist als Dionysos‘ Tochter Telete eine offensichtlich mehrfach vergewaltigte Borderlinerin, die allen ihre Freundschaftsbändchen aufzwingt.

C-Tenor Ray Chenez sitzt als Dionysos‘ Geliebter Ampelos im Rollstuhl. Denn der Legende nach stürzte der Satyr von einem Stier, den er bei einer Jagd ritt, wurde vom wütenden Tier zu Tode getrampelt, und von Dionysos daraufhin als Sternbild des Bärenhüters an den Himmel gehoben. Rusconi hat ihm eine narzistische Persönlichkeitsstörung verpasst, Nora Scheidl eine Taleguilla, eine Matadorhose, und Michael Scheidl lässt ihn damit zähnefletschend grinsend über die Spielfläche fahren. Und schließlich Bassbariton Zachary Wilson als der Gott höchstselbst – ein herablassender Heroinsüchtiger im Slim-Fit-Anzug, bei dem die Psychiater Größenwahn und eine kognitive Störung konstatieren.

Da Yung Cho macht auf wütender Stier, hinten: Ray Chenez als Rollstuhlfahrer Ampelos. Bild: © netzzeit

Die Bakchantinnen und Bakchanten feiern im wilden Tanz ihren Gott Dionysos: Evandro Pedroni. Bild: © netzzeit

Wie diese jungen Sängerinnen und Sänger stimmlich absolut auf der Höhe sind, vor allem darf man von Chenez‘ die Luft zerschneidendem, eisklarem Timbre angetan sein, ist großartig, dass sie es auch darstellerisch und tänzerisch sind, gehört zu den erstaunlichen Momenten dieser Aufführung. Als wären sie einer die Halluzination des anderen prallen die im klinischen Orkus Gestrandeten nun aufeinander, holen aus Kartons ihr Hab und Gut, eine kopflose Babypuppe und Stilleinlagen, goldene Parfümflakons und Kokain fürs “süße Delirium”, einen Kranz aus Weinlaub für den Fleisch gewordenen Rebstock.

Und während Dionysos auf Ampelos trifft und ihn zärtlich “Mondkalb” nennt, während Telete versucht, sich mit ihrer Strumpfhose zu erdrosseln, und Semele mit ihrem Therapeuten spricht, donnern aus dem Off die düsteren Stimmen von Göttervater Zeus, von der den Schicksalsfaden kappenden Moira Atropos, von Ate, Göttin der Verblendung, und von dem die Ewigkeit lenkenden Eon. Mehr und mehr verschmelzen die Protagonisten mit ihren klassischen Vorbildern, sich verzehrend nach dem einen, im Schmerz über den unwiederbringlichen Verlust von Lebensfreude und Lust, Opfer hier – siehe Rasche – nicht des Sorgenbrechers, sondern eines apollinischen Prinzips.

Einer Kopflastigkeit, die der Körperlichkeit den Kampf ansagt. Bahn bricht sich nun Rusconis und Scheidls Plädoyer, die Macht von Empfindungen wieder auf Augenhöhe mit der Geistesstärke zu bringen. Der Albtraum wird zum Traumtanz, die beigen Wandpaneele fallen, Geschlechtszuschreibungen ebenso, und die Tänzerinnen und Tänzer, Luan de Lima als männliche Nymphe, Britt Kamper-Nielsen als Waldgeist, Evandro Pedroni als Knochendaimon und Juliette Rahon als weiblicher Faun, stellen sich mit den Sangeskünstlern zum stilisierten Sirtaki auf. Es ist das Totenfest für Ampelos, doch unter Dionysos’ Ägide verfliegt die Trauer rasch. Immer verzückter und entrückter stampfen sie auf, drehen sich in der Choreografie von Claire Lefèvre wie in Trance. Wenn Chaos konstruktiv und Methode ist, wieviel Sinn liegt dann im Wahn? Eine Frage, die “Dionysos Rising” auf geradezu genialische Art stellt. Antworten darauf kann man noch heute und morgen suchen.

Teaser: www.facebook.com/newmusictheatrefestival/videos/2490249161233863/          www.netzzeit.at

  1. 9. 2019

Achtung, Spoiler!

Mai 10, 2013 in Film

Nicht jeder, der glaubt, er Khan – kann.

Chefmaschinist Scotty (kauzig-komisch: Simon Pegg) hat Recht. Er verlässt die Enterprise nach wenigen Minuten. Samt seinem außerirdischen Gnom. Man sei doch ein Forscherraumschiff, der Weltraum, unendliche Weiten  und so  – und jetzt würden ihm Raketen mit Sprengköpfen im Warp-Heiligtum deponiert, ohne, dass er sie scannen dürfe. So nicht. Genau.

Benedict Cumberbatch als john Harrison alias Bösewicht Khan Bild: Paramount Pictures

Benedict Cumberbatch als John Harrison alias Bösewicht Khan
Bild: Paramount Pictures

„Star Trek Into Darkness“ läuft seit Christi Himmelfahrt in den Kinos und ist … ja eh … in 3D. Gerüchten zufolge soll J. J. Abrams, oberster Sternenflottler und zurzeit amtierender Regisseur, aber ab Teil drei nur noch als Produzent tätig, als Kind die TV-Serie mit Kirk und Co. gehasst haben. Zugegeben, das musste man mögen, wenn William Shatner mit eingezogenem Bauch und vorgeschobenen Schultern über die Plastikbrücke wankte, aber: Die wirklich guten Schauspieler Chris Pine (Kirk), Zachary Quinto (Spock), Karl Urban (Dr. McCoy) oder Zoe Saldana (Uhura) als junge, neue Crew haben es sich nicht verdient, dass ihr zweites Abenteuer nicht mehr als ein müder Abklatsch von „Der Zorn des Khans“ (1982) ist. Da setzt man wohl darauf, dass die junge, neue Generation an Sci-Fi-Fans Ricardo Montalbán – wunderbar mit blonder Camilla-Parker-Bowles-Frisur und hellbrauner, die durchtrainierte Brust betonende Strick-Leder-Weste – ohnedies nicht mehr kennt. Schwache Vorstellung, Mr. Abrams!

Was an Ideen punkto Handlung fehlt, macht man mit Action wett. Materialschlacht folgt auf Weltraumschießerei folgt auf Prügelei folgt auf … Computeranimation kann heute wirklich ALLES. Die Föderation ist militärischer geworden, in chicen grauen Uniformen mit Kappe, für Gene Roddenberry selig, der in seinem Universum die Botschaft von Völkerverbindung und möglichem Frieden verbreiten wollte, wahrscheinlich eine Dystopie. Kein Wunder, dass das Schiff, auf das Spock kurzfristig strafversetzt werden soll, U.S.S. Bradbury heißt (vom US-Fantasten Ray Bradbury stammen die berühmten „Mars-Chronken“, ein sozialkritisches Werk darüber, wie die Menschen durch die Kolonialisierung des Mars die dortigen friedlichen „Ureinwohner“ erst in Reservate sperren, dann ganz auslöschen. Sein mit Oskar Werner verfilmter Roman „Fahrenheit 451“  gehört zu den pessimistischten Zukunftsbildern des 20. Jahrhunderts).

Aber „Star Trek Into Darkness“ hat auch seine guten Seiten. Zum Beispiel, dass Abrams die Mischung aus Weltraumwestern und Buddie-Movie beibehalten hat. Am Ende nennt Spock seinen Captain erstmals Jim. Die Selbstironie von Charakteren wie „Pille“ oder Scotty. Die Tatsache, dass die Lovestory zwischen Uhura und Spock nicht nur vertieft wird, sondern Frau Lieutenant Uhura selbstverständlich Crewmitglied bei einem Außenkommando ist und sehr forsch-emanzipiert mit den Klingonen verhandelt. Zum Beispiel, dass Nebenrollen aus Shatner-Zeiten, wie die Navigatoren Mr. Chekov und Mr. Sulu, aufgewertet wurden. Und ihre Darsteller Anton Yelchin und John Cho dieser Aufgabe mehr als gerecht werden. Und natürlich den großartigen, reptiliengleichen, manipulativen Terroristen John Harrison alias Khan alias Benedict Cumberbatch. Der BBC-Sherlock-Holmes spielt seinen Part mit einer Kälte, einer Emotionslosigkeit, einer Logik, dass selbst Spock die Ohren spitzt. Klar, dass der Bösewicht am Schluss den Kürzeren zieht, aber Auskenner wissen:  Khan, diesen durch Gentechnik optimierten Supermenschen, wird man nicht das letzte Mal begegnet sein.

Star Trek neu ist ja noch in der Genesis (ein Insidergag, bei Nichtverstehen bitte nachfragen!). Also kann man ruhig auf Buch drei warten. Vielleicht schwebt dann der Geist über dem All. Diesmal nämlich demoliert nicht Spock, sondern Held Kirk zur Rettung der Enterprise den Reaktorkern. Und während weiland Leonard Nimoy einen grauenhaften – weil radioaktiv verseucht – Tod starb, vor dem er „Pille“ per Gedankenverschmelzung noch über seine Wiedergeburtspläne informierte, liegt Kirki anno 2013 vom Khan-Blut gerettet im Krankenbettchen und ist schon bald wieder der gleiche lustige alte, äh, junge.

Immerhin: Damit erspart man einem – hoffentlich als weiteren Aufguss – „Die Suche nach Mr. Spock“. Es können eben nicht alle dorthin, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist …

www.mottingers-meinung.at/star-trek-into-darkness/

Von Michaela Mottinger

Wien, 10. 5. 2013

Star Trek Into Darkness

Mai 6, 2013 in Film

Spitzt die Ohren!Star-Trek-Into-Darkness

Sternenflottennachricht Nr. 1.: Schreiberlinge, die den Unterschied zwischen der Bezeichnung „Trekkies“ und „Trekkern“ nicht kennen, mögen es BITTE unterlassen über Gene Roddenberrys Universum zu berichten. Man mag vielleicht einen klingonischen Bird of Prey nicht von einem romulanischen Warbird unterscheiden können, auch schon schlimm, aber das geht zu weit!

Sternenflottennachricht Nr. 2.: Am 9. Mai startet in den Kinos der zweite Film mit der jungen Crew: „Star Trek Into Darkness“. Viel hat J. J. Abrams, der nicht nur neuer Regisseur auf der Brücke der Enterprise, sondern auch frisch gebackener „Star Wars“-Imperator ist (ungefähr gleichbedeutend, als müssten sich Rapid und Austria ein Umkleidekammerl teilen), weshalb Ur-Jim William Shatner Abrams auch als „Schwein“ bezeichnet haben soll, noch nicht über das zwölfte Kinoabenteuer von Kirk und Co. verraten: Ein psychopathischer Terrorist namens John Harrison (TV-„Sherlock“ Benedict Cumberbatch in der Rolle, für die lange Zeit Benicio Del Toro vorgesehen war, und angeblich der alte Klassiker „Khan“) will einen Vergeltungskrieg gegen die Föderation führen. Als Ablenkungsmanöver jagt er ein belangloses Archiv in die Luft, als alle Würdenträger sich ob der Tat versammeln, hat er sie. Oder so. Die Enterprise erobert derweil laut Vorspann Galaxien, in die nie zuvor ein Mensch vorgedrungen ist. Und in diesen unendlichen Weiten hat Kirk (Chris Pine) gerade viel Spaß mit zwei ringelschwänzigen Damen, als der Notruf kommt. Natürlich tut Kirk das Richtige, aber nichts nach Vorschrift, was zur nächsten Beziehungskrise mit Spock (Zachary Quinto) führt. Man ist hier ja schließlich in einer Mischung aus Weltraum-Western (Final Frontiers …) und Buddie-Film: der Heißsporn und der Analytiker. Bekannt ist noch, dass Uhuras (Zoe Saldana) Liebe zu Spock intensiver dargesteller sein soll. Das wäre neu! Denn im TV war Uhura noch Krik zugetan, was 1968 zum ersten via Flimmerkiste gezeigten schwarzweißen Kuss führte. Und, dass Benedict Cumberbatch saugut sein soll. Das wäre nur logisch!

Mehr dazu demnächst in der Filmkritik von www.mottingers-meinung.at. Mit von der Partie sind natürlich wieder auch der unvergleichliche Simon Pegg als Scotty, „Pille“/“Bones“ Karl Urban, John Cho als Mr. Sulu und Anton Yelchin als Pavel Chekov. Er war Abrams größtes Verdienst am 2009er Star Trek, dass alle Charaktere so gut gecastet waren, dass man sie sich als spätere/eigentlich frühere William Shatner, Leonard Nimoy (der ja zeitschleifig auch mitmischt), De Forest Kelley, James Doohan, George Takei, Nichelle Nichols oder Walter Koenig vorstellen konnte.

„Star Trek Into Darkness“ ist ein Film in 3D. Und darin liegt vielleicht die größte Gefahr für den Sci-Fi-Film. Dass zwischen Action, Spezialeffekten und Materialschlacht nicht die Selbstironie der 60er-Jahre-Fernsehserie auf der Strecke bleibt. Und Gene Roddenberrys, Im Zweiten Weltkrieg Bomberpilot in der US-Air Force, humanitäre Botschaft von Toleranz und Frieden zwischen den Völkern. Sein Captain Kirk ging zwar keiner schönen Frau und keiner Schlägerei aus dem Weg, aber, wenn’s hart auf hart kam, hieß es immer: Phaser auf Betäubung. Hoffentlich muss Jim nicht bald Gliedmaßen mit einem Lichtschwert abtrennen …

paramount-kino-newsroom.de

www.startrekmovie.com

Trailer: www.youtube.com/watch?v=rdZuqozLiUs&feature=youtu.be

Von Michaela Mottinger

Wien, 6. 5. 2013