Afonso Reis Cabral: Aber wir lieben dich

August 29, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Sex & Drugs & Elendsmenschen

„Im Saal wurde ihr Name gebrüllt, sie hörte ,Gisberta, komm raus! Gisberta, wir lieben dich!‘ Als Gi mir das erzählte, zitterte sie. Alle riefen, begehrten sie. ,Das war schön, Junge.‘ Sie beugte ihre Schultern zu einer Pose, eine Erinnerung an Momente, niemals würde sie vergessen, wie das Publikum sie mit den Augen verschlang, wenn sie Marilyn war, mehr als die echte Marilyn. My heart belongs to daddy. … Erschöpft zog sie am Ende ihr Kleid aus, ließ es hinabfallen bis zu den Füßen, wie einen umgekehrten Heiligenschein. Und dann sahen sie ihr Haar über die nackten Schultern fallen, ihre wohlgeformten Brüste, ihre schmale Taille, die breite Hüfte. Und dann die enthaarte Scham und den Penis zwischen ihren Beinen. Yes, my heart belongs to daddy. … Erst als sie mir ein altes Foto zeigte, sah ich, dass meine Gi heute nur ein erbärmlicher Abklatsch war, von der damals auf der Bühne.“

In seinem jüngsten Roman „Aber wir lieben dich“ greift der portugiesische Autor Afonso Reis Cabral einen echten Kriminalfall auf. 2006 wurde in der Küstenstadt Porto die Transfrau Gisberta Salce Júnior von Jugendlichen aus einem Erziehungsheim mit sadistischer Brutalität erschlagen.

Erst gab es landesweit große Aufregung, dann passierte – nichts. Der Minister sprach von einem Einzelfall, die Justiz verhängte Jugendstrafen, immerhin: die „Jugendhilfeanstalt“ Oficina de São José wurde geschlossen, als der Prozess die dortigen Gewaltorgien und den sexuellen Missbrauch offenbarte.

Afonso Reis Cabral beleuchtet die Hintergründe des Verbrechens mit den Mitteln der schriftstellerischen Fantasie. In einer fiktionalen Vorbemerkung trifft er den nunmehr 29-jährigen Rafael Tiago, einen der Täter, der ihn in einem Brief um ein Buch über die Geschehnisse gebeten hat. Der Autor, so weit, so wahr, studiert Prozessakten und Presseberichte, interviewt Gisbertas Trans-Freundinnen, macht schließlich den 12-jährigen Rafa zum Ich-Erzähler – und entdeckt auf seiner Spurensuche „den Zusammenstoß zweier prekärer Welten, den Konflikt aller Beteiligten, die Folgen der Armut, dieses Wort, dass man nicht mehr benutzen will, aber weiterhin verwendet, die Balance zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Nichts Besonderes also …“

Den Postkartenansichten des pittoresken Altstadtviertels Ribeira zum Trotz, beschreibt Afonso Reis Cabral die „Dreckslöcher“ abseits der Touristenidylle, Stadterweiterungsgebiete, für die der Kommune das Geld ausging, Betonskelette aus rohem Zement neben Bauruinen, Schutt, Abfall, „verbotene Orte“, wie Nélson sie nennt. Derart ist die Gang schnell vorgestellt: der sein Kindheitstrauma mittels Rebellion gegen alles und jeden bekämpfende Rafa, der zerstörungswütige, sich abgebrüht gebende Nélson, der Schläger Fábio und Samuel, die sensible Künstlerseele, der die zerrüttete Welt der Jungs auf Papier festhält, Samuel, das Prostituiertenkind, denn Mütter haben die Fürsorgezöglinge allesamt, bettelarme, überforderte, drogensüchtige. „Mutterschaft war für sie ein steter Quell ungenießbaren Dreckwassers“.

Eines ihrer Quartiere, das die zum Sozialfall geborenen Jugendlichen täglich durchforsten, ist der Rohbau eines von den Investoren aufgegebenen Einkaufszentrums, „Pão de Acúcar“, also „Zuckerhut“, das, so Rafa, „zum Wohnheim für Menschen wurde, die in der Baustelle ihr eigenes Schicksal wiedererkannten“. Obdachlose, Junkies, Nutten – und mittendrin haust in einem elenden Verschlag ein bis auf die Knochen abgemagertes, androgynes Wesen, HIV-krank, geschwächt, schmutzig und mittellos, das jedoch mit brasilianischem Akzent, denn Gi kommt aus Übersee, die wunderbar traurigsten Geschichten erzählen kann.

Rafa ist abgestoßen und angezogen zugleich. Bringt Essen, Decken, was immer er selbst entbehren kann, repariert mit Gi ein weggeworfenes, reichlich ramponiertes Fahrrad, schrubbt sich danach im Wohnheim unterm heißen Wasser fast blutig vor Ekel – und ist doch morgen wieder da, um Gis Glamour-Storys von den Cabarets in São Paulo zu hören. Die Rückblicke auf ihre Glanzzeit helfen ihm einen tristen Tag nach dem anderen runterzubiegen, vielleicht, wer weiß?, fühlt er bei ihr so etwas wie erstmals Mutterliebe? „Bevor ich sie kennengelernt hatte, dachte ich, der ganze andere Scheiß sei das, was mich ausmachte und mit dem sich erklären ließe, was ich sei, aber dann trat Gi dort hinein, wo ich vorher gar nicht gedacht hatte, dass dort eine Lücke war, und machte mich zu einem anderen.“

Die Kalvarienberg-Stationen, zu denen die Kapitel aus Gisbertas Leben werden, kreuzen sich mit Rafas Bericht, zwei Beichten sind das, so nah entlang der Realität geschildert, die Frage, was der Mensch ist und was er zum Menschsein braucht, dass es einem so tief unter die Haut geht, wie die Nadeln, die Gi sich bald setzt. Von der Bühne geht’s ins Bordell, wo sie, als selbst da ihre Tage als zweigeschlechtliche Schönheit gezählt sind, mit der Kraft des Mannes den Rausschmeißer für lästige Freier und mit der Zuneigung einer Frau die „Tante“ für die Kinder der Kolleginnen macht.

Bild: pixabay.com

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In einer Art Besitzerstolz beschließt Rafa seine neue Freundin der Gang vorzustellen, und dann ist da Samuel, dessen Mutter Gi aus Zimmer 102 kannte, und ihn bereits als Baby. „Irgendwann strich ihm Gi mit der Hand über den Kopf, und er ließ diese Zärtlichkeit mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu, wie ich es niemals gekonnt hätte. Wie es nur jemand kann, der den Umgang mit Transvestiten von klein auf gewohnt ist. Mich traf es wie eine Pfeilspitze in den Kopf: So gestreichelt zu werden, war mehr, als die meisten vom Leben verlangen konnten.“

Das Glück, jemanden gefunden zu haben, für den man zählt, die Erfahrung, auch selbst etwas geben zu können, wird von Rafas Eifersucht zernagt. Hin und her gerissen zwischen Zuneigung und Verachtung, gebeutelt von Geltungsdrang und Gruppenzwang, gleitet Rafa ohne es zu merken in eine Abwärtsspirale des Bösen. Zurück zu den Wurzeln von Gewalt erzeugt wieder Gewalt. Denn der irre Fábio und sein Schlägertrupp treten an, um „das Unnatürliche“ auszumerzen. „,Zieht ihr die Hose runter, dann sehen wir, ob sie ein Mann oder eine Frau ist‘, sagte Fábio. Er zielte, versetzte ihr einen Tritt in den Magen und sagte: ,Es ist ein Typ!‘“

Gisberta überlebt das mehrtägige Martyrium nicht. Rafa und Samuel können ihr nicht helfen und treten unter dem Druck der Horde sogar selbst ein paar Mal zu. Afonso Reis Cabral schreibt dies nieder, ohne auf eine Zartbesaitetheit der Leserinnen und Leser Rücksicht zu nehmen. „Aber wir lieben dich“ ist ein grausamer Lesestoff, den man in seiner Intensität aushalten muss – und am Ende wird der, der Gi am meisten liebt, ihr den Gnadentod geben.

Im Anhang zitiert der Autor aus seinem Quellen. Der Público schrieb damals über die Leiche des toten Mannes und triefend vor Ignoranz gegenüber der LGBT-Community: „Was sich tatsächlich in dem verlassenen Haus abspielte, ist nach wie vor alles andere als aufgeklärt. Manche Zeugen berichten, es habe oft Streit mit dem Opfer gegeben. Einer der an der Tat Beteiligten bezeichnete ihn trotzdem als seinen Freund.“ Es sind diese blinden Flecken in der faktischen Wahrnehmung, die Afonso Reis Cabral mit der verstörenden Wucht seiner Fiktion füllt. Wobei er die Täter niemals mit einem Opfermythos verklärt, sondern ihrem Machtwillen als Mittel zum Überleben, zum Sich-seinen-Platz-Sichern in einer barbarischen Umgebung, ihrem Glauben an das Recht des Stärkeren durchaus Raum lässt.

Mit „Aber wir lieben dich“ ist Afonso Reis Cabral ein vielschichtiger Roman gelungen. Was auch eine simple True-Crime-Story hätte sein können, ist aus seiner Feder ein bewegendes Drama geworden, vor allem aber eine beunruhigende Parabel über die Abgründe der menschlichen Natur.

Über den Autor: Afonso Reis Cabral, 1990 in Portugal geboren, studierte Portugiesisch und Fiktionales Schreiben. Er veröffentlichte bereits im Alter von 15 Jahren seinen ersten Gedichtband. Für seinen Debütroman „O Meu Irmão“ (Mein Bruder) wurde er 2014 mit dem Prémio LeYa ausgezeichnet. Bei Hanser erschien 2021 sein zweiter Roman „Aber wir lieben dich“, für den er 2019 den wichtigsten portugiesischen Literaturpreis, den Prémio José Saramago, erhielt.

Hanser Verlag, Afonso Reis Cabral: „Aber wir lieben dich“, Roman, 304 Seiten. Übersetzt aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.

www.hanser-literaturverlage.de

Screening-Tipp: September Mornings/Manhãs de Setembro

Einfühlsam und dabei vollkommen pathos- und kitschbefreit erzählt die fünfteilige brasilianische Mini-Serie von der Transfrau Cassandra, die in São Paulo ihrem großen Traum nachhängt. Tagsüber unterwegs als Botenfahrerin für eine Service-App, verwandelt sie sich nachts in einen Club-Star, eine Sängerin, die vor allem den Songs ihres Idols Vanusa, einer brasilianischen Sängerin der 1970er-Jahre, frönt.

In Ivaldo hat sie einen so leidenschaftlichen wie treu ergebenen Lover gefunden, der um ihre Geschlechtsumwandlung weiß, eben bezieht sie ihre erste eigene Wohnung. Da steht eines Tages, gleich einem Gespenst aus der Vergangenheit, Leide vor der Tür, ein jugendsündlicher One-Night-Stand, nein, nicht von Cassandra, sondern deren früherem männlichen Ich Clóvis – und mit ihr der gemeinsame Sohn Gersinho. Leide ist obdachlos, unstet, ob ihrer Not eine Kleinkriminelle, und Cassandra sieht das alles. Doch wird sie das Herz haben, die Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen?

Manhãs de Setembro: Singer-Songwriterin Liniker als Transfrau Cassandra. Bild: © Amazon Studios

Cassandra wird zum Vater wider Willen: Mit Gustavo Coelho als Sohn Gersinho. Bild: © Amazon Studios

Lover Ivaldo weiß von Cassandras Vergangenheit als Mann: Thomas Aquino. Bild: © Amazon Studios

In Brasilien längst Superstar: Liniker, die Kämpferin gegen Gender-Diskriminierung. Bild: © Amazon Studios

Die Produktion für Amazon Prime Video ist ein wahres Fundstück, getragen nicht zuletzt von Singer-Songwriterin Liniker, die mit ihrem rauen, seelenfängerischen Timbre, dann wieder rekurrentem Falsett das Publikum in ihren Bann zieht. Liniker ist Transfrau, und hat sich neben dem als Musikerin auch einen Namen als unermüdliche Kämpferin gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung gemacht.

Das unprätentiöse Spiel des gesamten Casts gibt nicht nur einen authentischen Einblick in eine Welt, die sonst meist mit Federboas, Pailletten und „Tunten-Alarm“ gepimpt ist, sondern zeigt auch den täglichen Überlebenskampf der nicht mit Reichtum gesegneten „Paulistanos“. Und bemerkenswert ist, wie normal und ohne Ausrufezeichen die Beziehung zwischen Cassandra und Ivaldo beschrieben wird. Zu streamen in deutscher Sprache oder in Portugiesisch mit englischen Untertiteln. Unbedingt sehenswert!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=O3iE_imB_7s           www.amazon.de

  1. 8. 2021

Kammerspiele der Josefstadt auf ORF III: Der Vorname

April 8, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Sollbruchstelle der Salonmarxisten

Beim Betrachten des Ultraschallbilds ist noch alles friedlich: Michael Dangl, Marcus Bluhm, Susa Meyer und Oliver Rosskopf. Bild: Herwig Prammer

Am 9. April um 20.15 Uhr zeigt ORF III in seiner Reihe „Wir spielen für Österreich“ die Komödie „Der Vorname“ aus den Kammerspielen der Josefstadt. Hier noch mal die Rezension vom Oktober 2019:

Wenn sich Michael Dangl von der Josefstadt in deren Kammerspiele begibt, ist das stets ein großes Glück fürs Publikum. Nach der zauber- haften Dragqueen Zaza, dem snobistischen Stotterer Georg VI. oder Rollstuhlfahrer Philippe, gibt Dangl nun den Immobilienmakler Vincent

Larchet, wohlhabend – und werdender Vater. Als solcher sprengt er ein Abendessen bei Schwester und Schwager, ist doch „Der Vorname“, den er scheint’s für seinen zu erwartenden Sohn gewählt hat, durch den Millionenmörder schlechthin schwer strapaziert. Die gewiefte Gesellschaftskomödie des französischen Autorenduos Alexandre de la Patellière und Matthieu Delaporte, 2012 von den zweien selbst fürs Kino adaptiert, 2018 von Sönke Wortmann neu verfilmt, ist seit gestern in der witzig-spritzigen Inszenierung von Folke Braband auf der Wiener Citybühne zu sehen.

Wobei sich der, wiewohl der Streitpunkt aufs Deutsch-Österreichische übertragen von besonderer Brisanz ist, ans Pariser Original hält. Vincent nämlich erklärt, dass sein Baby Adolphe heißen wird – und während er noch versucht auszuführen, er denke dabei an den romantischen Helden aus dem 18.-Jahrhundert-Roman von Benjamin Constant, sind alle anderen geistig längst vom „-Phe“ aufs „-F“ verfallen, und ergo bei Adolf Hitler angelangt. Die Folge: ein intellektueller Flächenbrand.

Großartig ist es, wie Braband die Charaktere von Beginn an in ihren Grundzügen skizziert. Im gutbürgerlich-sophisticated Ambiente von Bühnenbildner Tom Presting sind zuerst Susa Meyer und Marcus Bluhm als Gastgeber-Ehepaar Elisabeth Garaud-Larchet und Pierre Garaud zu erleben, er Professor für Literatur, sie Lehrerin, beide Eltern des hoffnungsvollen Nachwuchs namens Athena und Adonas. Köstlich, wie die beiden Bobo-Akademiker sich auf den sogleich eintreffenden Besuch vorbereiten, die Babou gerufene Elisabeth als Perfektionistin im Vollstress, damit ihr marokkanisches Buffet auch makellos ist, er komplett laid-back, weil sich auf der Meinung ausruhend, dass Haushaltspflichten nicht seine Sache sein können.

Michael Dangl und Michaela Klamminger. Bild: Herwig Prammer

Oliver Rosskopf und Michael Dangl. Bild: Herwig Prammer

Oliver Rosskopf mit Marcus Bluhm. Bild: Herwig Prammer

Dieweil Meyers Babou noch darum ringt, auch in Küchenschürze die Gleichberechtigung der Frau hochzuhalten, fläzt sich Dangls Vincent bereits auf ihrer Wohnzimmercouch, er ist unsichtbarer Erzähler, bevor er Protagonist wird, moderiert sich selbst als Machertyp ein, und zeigt sich bei Auftritt schließlich als sarkastischer Spaßvogel, dem man sein übersteigertes Gefühl männlicher Überlegenheit nur verzeiht, weil er so ein sympathisches Schlitzohr ist. Eingeladen ist außerdem Claude Gatignol, Posaunist beim Orchestre Philharmonique de Radio France und ein Freund seit Jugendtagen. Oliver Rosskopf spielt die sensible Seele mit wohldosiertem Humor. Dass Constants Figur Adolphe eine um Jahre ältere Frau verführt, wird für Rosskopfs Claude noch von doppelbödiger Bedeutung sein.

Dangl ist auf seiner Position als Wuchteldrucker wie entfesselt. Er spielt sein komödiantisches Können nicht nur im Konversationston der tadellosen Übersetzung von Georg Holzer aus, sondern sogar in der Körpersprache, und während Tempo-und-Timing-Experte Braband dafür sorgt, dass die Pointen auf den Punkt genau sitzen, steigert sich das Ensemble von den anfangs liebevollen Neckereien unter Menschen, die einander seit Ewigkeiten kennen, zur aggressiv aufgeladenen Hysterie angesichts des historisch belasteten Namens.

Wie Dangls Vincent darauf eine Liste weiterer Allerweltsnamen runterrattert, die für eine Taufe wohl auch nicht mehr zu gebrauchen wären, von August bis Franz, Augusto Pinochet bis Francisco Franco, schlussendlich Josef – Stalin, der den biblischen ausgelöscht hätte, wie Hitler seinen Adolphe, entlarvt die Sollbruchstelle der zu gutsituierten Salonmarxisten mutierten Linksrevolutionäre aufs Vortrefflichste. Die zur Polemik geschliffenen Dialoge, die boshaften Wortgefechte, die Abgründe zwischen großsprecherischen Moralansprüchen und kleingeistiger Gehässigkeit, zwischen gesellschaftspolitischem Über-Ich und privatisiertem Es, entfalten in den 90 Minuten Aufführungsdauer ihre Wirkung: Man sieht in einen Spiegel und lacht.

Babou will nicht hören, was ihr Mann Pierre Besserwisserisches zu sagen hat: Susa Meyer mit Marcus Bluhm. Bild: Herwig Prammer

Je später der Abend, desto rauflustiger die Gäste: Bluhm, Meyer, Rosskopf, Klamminger und Dangl. Bild: Herwig Prammer

Nicht zuletzt über Bluhms Pierre, der in diesem farbenprächtigen Studierten-Sittenbild den Prinzipienreiter, den – was Belesenheit betrifft, wirklich alles – Besserwisser verkörpert, und der sich dennoch, und dank Babou bequem, in tradierten Rollenklischees suhlt. Im lebenslangen Gockelclinch mit Vincent, der ohne Uni reich wurde, wogegen er mit einem schmalen Hochschulgehalt zufrieden sein soll, wird Pierres antifaschistische Rage rasch auch als Ausdruck von Neid und narzisstischer Kränkung enttarnt. Mit dem verspäteten Erscheinen von Anna stellt sich Vincents Adolf-Ansage als schlechter Scherz heraus.

Ihr ist der Joke gegönnt, sich über den Namenspatron ihres Babys zu freuen, denkt sie ja an Vincents verstorbenen Vater Henri, inzwischen alle anderen den Kopf voll „Führer“ haben und an die Decke gehen, also ist die Ruhe, die kurz eintritt, nur die vor dem nächsten Sturm. Die Anwesenden samt ihren Gesichtszügen entgleisen zusehends, als die Vorwürfe massiver werden, man sich gegenseitig Geizkragen oder Egomane schimpft, arrogant oder rücksichtslos. Heraus stellt sich, wer zu wessen Gunsten die eigene Doktorarbeit aufgegeben hat, oder wer vor dreißig Jahren tatsächlich den Pudel der Tante ertränkte.

Nach und nach werden nicht nur Eigenschaften und Eigenheiten des Quintetts bloßgelegt, sondern auch diverse Ressentiments, die den für sich in Anspruch genommenen Humanismus unter der Gürtellinie treffen. In diesem Infight der Josefstädter bewährt sich Neuzugang Michaela Klamminger bestens, die sich mit ihrer pfiffigen Darstellung der so fragil wirkenden, hochschwangeren Anna, die aber genau weiß, wie sie ihren Filou Vincent an die Kandare nimmt, für kommende größere Aufgaben empfiehlt. Als alle ihr Pulver beinah verschossen haben, schießt sich die Gruppe auf Claude ein, reibt diesem seinen ihm bis dahin verheimlichten Spitznamen unter die Nase, „Reine-Claude“, dieser Wortwitz mit la Reine/die Königin allerdings nicht einzudeutschen, hält man den Musiker doch für schwul.

Da bleibt’s nicht beim verbalen Schlagabtausch, da fliegen alsbald die Fäuste, wenn nun Claude seinerseits ein Geheimnis offenbart, eine Bombe platzen lässt, indem er gesteht, dass er schon seit Jahren eine Frau habe, eine Geliebte – und diese sei Françoise, die Mutter von Babou und Vincent. Nach einem Uppercut für Claude lässt Dangl seinen Vincent in mustergültiger Muttersöhnchen-Art in sich zusammenbrechen, Mama hat Sex!, doch Susa Meyer gehört, als alle anderen am Ende sind, die Highlight-Szene dieses höchst amüsanten Abends: eine emanzipatorische Explosion samt Abgang mit einer Flasche Hochprozentigem …

Mit viel Gespür für Doppelsinn und Hintersinn haben Folke Braband und seine Schauspieler die bildungsbürgerliche Fassade der Familie Garaud-Larchet zum Zerbröseln gebracht. „Der Vorname“ an den Kammerspielen ist ein scharfzüngiges, augenzwinkerndes, aberwitziges Stück Theater. Und absolut sehenswert! Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=34995

Video: www.youtube.com/watch?time_continue=3&v=asym-zVSPWw           www.josefstadt.org

tv.orf.at/program/orf3          Danach sieben Tage in der tvthek.orf.at

8. 4. 2021

Jessica Bab Bonde und Peter Bergting: Bald sind wir wieder zu Hause

Januar 19, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Shoah-Überlebende: Als Kinder im Konzentrationslager

Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur haben als Kinder den Terror des Dritten Reichs knapp überlebt. Vor allem der 1924 in der Tschechoslowakei geborene Roth, Autor, Dozent, Sozialarbeiter und in Auschwitz-Birkenau Dr. Mengele mit Mühe entkommen, vom Olof-Palme- über den Raoul-Wallenberg- bis zum Nelson-Mandela-Preis vielfach ausgezeichnet, ist als Zeitzeuge ein nimmermüder Berichterstatter über die Gräueltaten der Nationalsozialisten.

„Ich glaube, dass das Wissen über den Holocaust uns etwas über die Zukunft lehren kann“, ist sein Credo. „Eine Generation ohne historische Bildung ist schutzlos, wenn es darum geht zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“ Diese Worte haben Jessica Bab Bonde und Peter Bergting bei ihrer Graphic Novel „Bald sind wir wieder zu Hause“ beherzigt, in der sie das Schicksal dieser sechs erzählen, die als Kinder in Konzentrationslager gesperrt wurden. Buchenwald, Theresienstadt, Ravensbrück …

Susanne aus dem ungarischen Makó kam über Zwischenstationen in Strasshof und Bruck an der Leitha nach Bergen-Belsen. Entrechtet, von ihren Familien getrennt und ihrer Menschenwürde beraubt, erfuhren die Protagonistinnen und Protagonisten des Bonde-Bergting-Buchs die Angst und Verfolgung im Ghetto, quälenden Hunger, Deportation und schließlich die Entmenschlichung durch den industriellen Massenmord.

Sie mussten mitansehen, wie Eltern und Geschwister verhungerten oder an den Selektionsrampen „auf die andere Seite“ gejagt wurden. Die eine führte ins Elend der Arbeits-, die andere in die Vernichtungslager. Ins Gas. In Gesprächen gaben sie Autorin und Zeichner ihre Erlebnisse weiter. Es ist diese subjektive Perspektive, die das Ganze so besonders macht: das Millionenverbrechen, das sich in abstrakten Horrorzahlen aufzulösen droht, wird durch die einzelne, den einzelnen geschildert.

Der aus Łódź stammende Tobias Rawet engagiert sich, seit er 1992 hörte, wie der französische Geschichtsrevisionist Robert Faurisson den Holocaust leugnete. Susanna Christensen, weil sie das Gefühl hat, dass der Hass auf Juden dieser Tage heftiger wird. „Sie hat“, schreibt Bonde, „keine Angst mehr um ihrer selbst willen, hofft aber, dass ihre Nachkommen nie etwas von dem erleben werden, was ihr widerfahren ist.“ „Bald sind wir wieder zu Hause“ sieht die Verbrechen der Shoah mit Kinderaugen.

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

Viele Worte braucht es dafür nicht. Der Ton der Graphic Novel ist nüchtern, die Illustrationen von Peter Bergting sind düster, sie transportieren die bedrückende Stimmung zwischen den Viehwaggons und den Baracken. Die Farben sind schlammig, schmutzig, Grau-braun, Rot wird verwendet, um Blut oder Feuer darzustellen. Bergtings visuelle Aufarbeitung ist schlicht, aber explizit. Vor einer Rückkehr des Antisemitismus warnt auch Jessica Bab Bonde in ihrem Vorwort und wirft die Frage auf, ob ähnliche Verbrechen heute noch geschehen könnten.

Schließlich fanden die Novemberpogrome und ihre furchtbaren Folgen vor aller Augen statt: „Nur wenige lehnten sich auf, sprachen darüber, was sie seltsam oder falsch fanden … Die meisten kümmerten sich nicht darum, zu viele fühlten nicht mit denen, die so erniedrigt wurden. Zu viele schauten weg und waren beruhigt, solange ihnen und ihren Familien nichts passierte …“ Am Ende des Buches finden sich eine geschichtliche Zeitleiste sowie ein Glossar, in dem Begriffe wie „Todesmärsche“, „Davidstern“ oder „Weiße Busse“ erklärt werden.

„Bald sind wir wieder zu Hause“, diese erschütternde Sammlung von Erinnerungen und unbedingt lesens- wie sehenswerte Geschichtslektion, sollte zur Pflichtlektüre werden. Gerade jetzt, da sich rechtsradikale, rassistische Vorfälle von Tatsachenverdrehern und Verschwörungstheoretikern weltweit wieder häufen. Ein beeindruckendes Plädoyer gegen das Vergessen und für ein Niemals wieder!

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

© Bonde, Bergting. © Cross Cult Verlag / Reprodukt

Über die Autorin: Jessica Bab Bonde, geboren 1974, ist eine schwedische Autorin und Verlagsagentin. Im August 2019 gründete Bonde zusammen mit David Lagercrantz die neue Agentur „Brave New World“.  Im Jahr davor veröffentlichte sie zusammen mit Illustrator Peter Bergting die Graphic Novel „Bald sind wir wieder zu Hause“ über den Holocaust. Das Buch basiert auf Interviews mit den KZ-Überlebenden Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur. Es wurde für den August-Preis in der Kinder- und Jugendkategorie nominiert.

Über den Zeichner: Peter Bergting, der Spross einer Künstlerfamilie, arbeitet seit 17 Jahren als professioneller Maler und Illustrator. Seine Arbeiten – vor allem Kinderbuch- und Rollenspielillustrationen – erschienen in weit mehr als 500 Publikationen. Er wurde 1970 in jener kleinen schwedischen Stadt geboren, die durch den Film „Fucking Åmål“ einige Berühmtheit erlangt hat. Derzeit lebt er mit Frau und Tochter in der Nähe von Stockholm.

Cross Cult Verlag, Jessica Bab Bonde (Text), Peter Bergting (Zeichnungen): „Bald sind wir wieder zu Hause“, Graphic Novel, 104 Seiten. Übersetzt aus dem Schwedischen von Monja Reichert.

www.cross-cult.de           www.bergting.com

  1. 1. 2021

Barbara Sukowa und Martine Chevallier in „Wir beide“

Oktober 28, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Recht auf späte Liebe

Martine Chevallier und Barbara Sukowa. Bild: © Paprika Films

Nach außen hin ist alles klar, und Nina nur die Nachbarin von nebenan. Tatsächlich aber ist Nina für Madeleine die große Liebe. Schon seit Jahren führen die Frauen eine geheime Beziehung und träumen davon, ein neues Leben in Rom zu beginnen. Wo man einander einst kennenlernte, die Französin und die Deutsche, beide sind sie jenseits der Siebzig, und es soll keine Rolle mehr spielen, was die Leute denken.

Doch Madeleine kann sich nicht überwinden, ihrer Familie die Wahrheit übers „Wir beide“, so der Titel des Films, der am 16. Oktober im Kino anläuft, zu sagen. Für ihre erwachsenen Kinder ist sie die aufopferungsvolle Witwe und Groß-/Mutter, und Nina, die eigentlich längst bei Madeleine wohnt, bleibt bei deren Auftauchen nur das leise Retourschleichen in ihr eigenes, logischerweise ziemlich leeres Apartment. Da schlägt das Schicksal zu. Madeleine erleidet einen Schlaganfall, Nina findet die Geliebte bewusstlos in der Küche – über die nun plötzlich andere verfügen: die Tochter, die Ärzte, eine kurzerhand engagierte 24-Stunden-Pflegekraft. Nur Nina ist von Madeleines Leben ausgeschlossen …

Wie schön und klar und unprätentiös Comédie-Française-Schauspielerin Martine Chevallier und Filmstar Barbara Sukowa dies Paar spielen! Die Enttäuschung, die Entschuldigung, in Sukowas Gesicht dieses „Bitte offenbare dich für deine Frau!“, die Angst vor Enttarnung, die Angst vorm Verlust. Der junge italienische Regisseur und Drehbuchautor Filippo Meneghetti hat aus dem Stoff, den er im Wohnhaus eines Freundes so ähnlich beobachtete, ein sutiles Psychodrama für Herz und Hirn gemacht.

Erste Szene: Zwei Mädchen spielen an einem Parkweg unter Bäumen Verstecken, und schon ist das eine verschwunden, hat sich in Nichts aufgelöst, und das andere zweifelt an seinen Sinnen ebenso wie der Zuschauer. Später wird sich dies Ereignis als Ninas Albtraum erweisen, und dieser unheimliche, ästhetisch wie vom Arthouse-Horror inspirierte Beginn prägt fortan die Dramaturgie von „Wir beide“. Kameramann Aurélien Marra gestaltet dazu die passenden Bilder, größte Nähe bei völliger Distanz, etwa wenn Nina durch den Türspion über den Gang hinüber zu Madeleines Wohnung linst, Licht fällt durchs Oberlicht, was passiert dort drüben? Oder auch, wenn deren Tochter, César-Preisträgerin 2019 Léa Drucker als Anne komplettiert das Damentrio, der Mutter verbissen die Haare föhnt.

Léa Drucker und Martine Chevallier. Bild: © Paprika Films

Martine Chevallier. Bild: © Paprika Films

Martine Chevallier und Léa Drucker. Bild: © Paprika Films

Barbara Sukowa. Bild: © Paprika Films

Zuerst aber sieht man die Sukowa und die Chevallier via Badezimmerspiegel Zärtlichkeiten tauschen, kochen, zu Betty Curtis‘ „Chariot“-Version tanzen, berührend ist das, intim, niemals voyeuristisch. Die Charaktere entfalten sich, Madeleine ist eine stille, zaghafte Frau, deren Wohnung auf die Geschichte ihrer Ehe und die Bürde familiärer Bindungen verweist, die zupackende Nina eine energische Kämpfernatur, deren provokant provisorische Nichteinrichtung regelrecht darauf pocht, endlich Richtung Rom aufzubrechen. Der von Marra ausführlich gefilmte Gang ist gleichsam Verbindungsschnur wie Demarkationslinie.

Barbara Sukowa zeigt in diesem Kammerspiel ums Recht auf die späte, hier lesbische Liebe ihre ganze große Schauspielkunst, ihr Spiel dabei so intensiv wie zurückgenommen. Sukowa gleicht einem brodelnden Vulkan, um dessen baldigen Ausbruch man fürchten muss. Wie sie allein im gemeinsamen Bett liegt und ungesehene Tränen weint, wie sie einsam unter Bäumen auf der Parkbank sitzt, da ist mit Verzögerung der Albtraum wieder, wie Meneghetti generell vieles erst im Nachhinein entschlüsselt. Welch Szene, als die Kinder in Madeleines Wohnung kommen, um ein paar Sachen zusammenzupacken, Nina verbirgt sich schnell, da sind zwei Zahnbürsten? Sie nehmen beide mit.

Martine Chevallier und Barbara Sukowa. Bild: © Paprika Films

Sorgen, Warten, Hoffen, Harren, Schlaflos-Sein, Meneghetti ergreift bedingungslos Partei für sein Liebespaar, dafür baut er seinen grandiosen Darstellerinnen eine Bühne – Kinder verlangen von den Eltern irgendwann, sie ziehen zu lassen, warum gilt das nicht vice versa, ist die Frage, die er aufwirft, und die danach, was man eigentlich tatsächlich vom Nächsten, vom Nachbarn weiß. Und apropos: Welch ein Plädoyer für Partnerschaft jenseits aller Fragen nach Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion.

Was Wunder, hat man als persönlichen Soundtrack zu diesem Film Jaques Brels „Ne me quitte pas“ im Ohr. Und wieder die Traumsequenz: Sukowa rettet das verlorengegangene Mädchen aus dem Wasser. Nina geht’s also an. Nämlich Pflegerin Muriel – Schauspielerin Muriel Benazeraf – zu beschwatzen, sich als Hilfe anzubieten. Muriel, die die aufdringliche, fremde Frau erst bedrohlich findet, ja, die Sukowa kann tragikomisch-schwarzen Humor, bevor sie zur ersten Eingeweihten wird. Während Nina noch mit ihrem „Geh‘ hinüber und sag‘ es ihnen!“ ringt, und Muriel von Anne höchst unhöflich behandelt wird – eine Minidrama sozialer Diskrepanzen, das Meneghetti hier aufwirft, und das ist Österreich, siehe #Corona-Alarm um rumänische Pflegerinnen, nicht anders ist.

Die Anne von Léa Drucker stattet Meneghetti mit der typischen Ambivalenz des Nicht-Wissen-Wollens aus. Nie hat sie sonderlich interessiert, was Mutter so treibt, jetzt findet sie Album um Album voller Urlaubsfotos von Madeleine und Nina. Das ist, als hätte sie sie „im Bett erwischt“, empört sie sich in einer Moral-Vorstellung. Und merkt gar nicht, dass sie ihre Mutter dem Leben geradezu entreißt, Martine Chevallier, die mit ihrem stummen Spiel besticht, den Blick ins Nirgendwo gerichtet und auf einmal wache Augen, wenn in der Diskussion rund um sie für Madeleine wichtige Themen angesprochen werden.

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, heißt es, und Nina wird am Schluss ein Husarenstück wagen, dessen Ende Meneghetti offen lässt – was an dieser Stelle das Beste ist, das seinen Protagonistinnen und dem Publikum passieren kann.

www.weltkino.de/filme/wir-beide

15. 10. 2020

Arash T. Riahi: Ein bisschen bleiben wir noch

Oktober 1, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Aus Kindersicht aufs Abschieben geschaut

Oskar und Lilli haben sich eine heile Fototapetenwelt gebastelt: Leopold Pallua und Rosa Zant. Bild: © Filmladen Filmverleih

„Wenn man den Mund lange genug offenlässt, können die Sorgen vielleicht aus einem rausfliegen“, hofft Oskar flüsternd und probiert es gleich einmal aus. Doch so einfach ist es nicht. Der Achtjährige und seine fünf Jahre ältere Schwester sitzen vor der Heile-Welt-Fototapete, die sie sich gebastelt haben. Elefanten, ein Rehkitz, Eichhörnchen

bevölkern das Fantasieland von Ortsa und Leila – die un/längst zu Oskar und Lilli geworden sind. Um weniger aufzufallen, nicht aus der Masse rauszufallen. Die Polizei wummert an die Tür, dringt in die mehr als bescheidene Bleibe ein, durchwühlt die wenigen Habseligkeiten. Sie wisse doch um den Ausweisungsbescheid, wird die Mutter zurechtgewiesen, und festgestellt, dass die Behörde Sohn und Tochter nun mitnehme. Zu „Schnitzeln“ und „an sauberem G’wand“ – und die verzweifelte Frau, Schauspielerin Ines Miro, läuft ins Bad, schließt sich ein, die Pulsadern, Blut fließt …

Regisseur Arash T. Riahi hat den Roman „Oskar und Lilli“ von Monika Helfer verfilmt. „Ein bisschen bleiben wir noch“ ist ab morgen in den Kinos zu sehen, und Riahis Zugang zum Thema, er selbst als achtjähriger Flüchtling in den 1980er-Jahren aus dem Iran in Europa angekommen, kein sozialrealistischer, sondern ein poetischer. Ihm gehe es um die Unschuld, die Unschuld der Kinder und die des menschlichen Glaubens an Gerechtigkeit, sagt Riahi, und „dass wir viele der Probleme unserer Zeit nicht durch bürokratische Ansätze sondern durch humanistische lösen werden können“. Lilli und Oskar, sie kennen keine andere „Heimat“ als Österreich.

Dass ihm die Kindersicht aufs Abschieben so glänzend gelingt, ist seinen Darstellern Rosa Zant als Lilli und Leopold Pallua als Oskar zu danken, die schlicht hinreißend spielen. Die kühle, abweisende Teenagerin und den fantasiebegabten, warmherzigen kleinen Bruder, die sich im Folgenden ihre je eigene Überlebensstrategie zurechtlegen. Wobei Riahi in kontrastreichen Aufnahmen zwischen Leinwandmagie, Albtraumsequenzen aus einem zerstörten Land und unverblümter österreichischer Härte zu wechseln weiß.

Die überforderten Öko-Pflegeeltern: Alexandra Maria Nutz und Markus Zett. Bild: © Filmladen Filmverleih

Manchmal verliert sogar Oskar die gute Laune: Leopold Pallua. Bild: © Filmladen Filmverleih

Frei fliegend im „Scherm“ – Lilli blüht im Prater auf: Rosa Zant. Bild: © Filmladen Filmverleih

Geborgen bei Oma Erika: Christine Ostermayer und Leopold Pallua. Bild: © Filmladen Filmverleih

Die aus Tschetschenien geflohene Familie, der Vater vor Jahren in irgendeinem Grenzland verloren gegangen, wird einmal mehr auseinandergerissen. Die Mutter wird nach ihrem Selbstmordversuch in die Psychiatrie eingewiesen, Oskar und Lilli verschiedenen Pflegeeltern zugeteilt, damit sie sich, so die Logik von Jugendamtsmitarbeiterin Veronika Glatzner, nicht zusammen in ihrem Trauma einigeln können. „Ich werde dich finden, egal wo sie dich hinbringen“, ist Lillis letztes Versprechen. Dann entführt Riahi seine minderjährigen abgewiesenen Asylwerber in eine Gutmenschen-Farce.

Lilli landet bei Single Ruth, als die Simone Fuith herrlich aufgeklärt-aufgedreht agiert, sie wisse ja, die Tschetschenen essen viel Fleisch, plappert sie beim ersten Abendmahl und dass sie sich nicht als Ersatzmutter, sondern Lillis neue beste Freundin verstehe. Oskar wird zu einem von Alexandra Maria Nutz und Markus Zett lustvoll überzeichneten Lehrerehepaar verfrachtet, zwei Ökofundis und Vegetarier, die auf Oskars Kommentar zum fleischlosen Eintopf – „Ihr seid alle nicht normal!“ – mit Entsetzen reagieren und sofortige Integration einfordern. Doch mehr als alles Missverstehen schwebt über beiden Haushalten „das gute Gefühl, dass wir das machen“.

Da lacht sich Oma Erika – Christine Ostermayer, die ihre Rolle mit nahezu erschreckend realitätsnaher Hingabe verkörpert – fast kaputt. Mit deren Parkinsonerkrankung die Lehrer ebenso überfordert und ergo hysterisch sind wie mit ihren Moralvorstellungen, und Söhnchen Simon (Filmemachers Neffe Simon Fraberger-Riahi), und es wird Oskar sein, der sich, zunächst als eine Art „Heimhilfe/Babysitter“ zweckentfremdet, um das Schicksal auch dieser Familie annehmen wird. In seinem maßlosen Optimismus, die Existenz und das Verhalten der Menschen um sich zu verändern, zu verbessern, und so sein eigenes, um einiges dramatischeres Leben zu meistern.

Das macht Leopold Pallua in doppeltem Sinne zum Herz des Films, sein Oskar, der Künstler und Erfinder, dessen Neugier und Neunmalklugheit, dessen trockener Humor und Leichtigkeit Situationen zu meistern, den Grundtenor der Traurigkeit erst erträglich machen. Ihm schenkt Riahi all die lyrischen Momente, allein wie er Großmutters Wunderkammer-Schlafzimmer entdeckt, alldieweil Lilli sich an der Wirklichkeit reiben muss. Ruths zwielichtigem Lover Georg, Rainer Wöss, zum Beispiel. Von dem man lange glaubt, dass er Lilli an die Wäsche, während er sie nur so rasch wie möglich wieder loswerden will.

Tschetschenische Albträume: Rosa Zant, Leopold Pallua und Ines Miro als Mutter. Bild: © Filmladen Filmverleih

Die einzige Schulfreundin bleibt Betti, Anna Fenderl, Tochter von Studio 2-Moderatorin Birgit Fenderl, mit einer weiteren Probe ihres Talents, Problemfamilienmitglied Betti also, Raucherin und Wodkatrinkerin, die Lilli das Taschengeld abluchst, damit sich ihre Mutter die Drogensucht nicht auf dem Straßenstrich finanziert. Wenig wirft hier ein gutes Licht auf den sogenannten Westen und seine Werte. Und irgendwie mystisch und zauberhaft spiegelt

die schon hinüber entschwindende Großmutter, deren Geschichte ein großes Rätsel bleibt, das Gestern ins Jetzt. Mit welch Szenen Arash T. Riahi sein Anliegen illustriert: Lilli, die sich noch einmal in die alte Wohnung schleicht, um das Blut der Mutter wegzuwaschen. Lilli an ihrem Zufluchtsort des Glücks, frei fliegend im Prater-„Scherm“. Oskar, der die gefrustete Bio-Lehrerin im Supermarkt beim Wurstfressen ertappt. Oskar, der sich darin übt, ein „gefährliches Kind“ zu sein, um eine Adoption zu verhindern.

Die Mutter im Krankenhausgarten, die vorgibt ihre Kinder nicht zu erkennen, und wie der Zuschauer merkt, es ist ihr Schwindel für deren bessere Zukunft. Die persönlich liebste, als Oskar der Lehrerin eine Leberkässemmel unter die Matratze schiebt, damit der Lehrer glaubt, sie furzt – und Klein-Simon die Semmel hervorholt und isst. Mehr Rebellion, mehr Widerstand geht nicht. Und schließlich ein Seifenblasentanz mit Mutter, Lilli und Großmutter Erika – Momente wie dieser in Filmen stets ein Zeichen für den Tod.

„Ein bisschen bleiben wir noch“ ist an keiner Stelle ein kitschiges Betroffenheitsdrama, der Film ist ein zutiefst menschliches Werk, das seine jugendlichen Hauptfiguren nie zu wandelnden Klischees verkommen lässt. Leopold Pallua, Rosa Zant und Anna Fenderl spielen sich mit einer rauen Emotion durch den kaum entrinnbaren, aber dennoch mit Hoffnungsschimmern erfüllten Mikrokosmos ihrer Figuren, dass es eine Freude ist. Aufwühlend und beglückend, die unter der Oberfläche schwelende Tragik niemals beschönigend, endet der Film mit einem Schlussbild, das in seiner Ambiguität jedem selbst zu deuten überlassen ist. Real, surreal, sch*egal, um den alten Sponti-Spruch abzuändern. Bei Oskar wird: Das be*scheidenste Leben ein schöner Traum.

www.einbisschenbleibenwirnoch.at           Trailer: vimeo.com/396736862           www.youtube.com/watch?v=_1o5thmI3ik           Behind the Scenes-Clip mit Arash T. Riahi über die Besetzung seines Baby-Neffen Simon – Sehenswert!: www.facebook.com/OskarAndLilli/videos/1296956990643097/

  1. 10. 2020