Willem Dafoe und Oscar Isaac in „The Card Counter“
März 3, 2022 in Film
VON MICHAELA MOTTINGER
Ein Profigambler mit Abu-Ghraib-Trauma

Hat eine alte Rechnung aus Abu Ghraib offen: Oscar Isaac als William Tell (re.) und Willem Dafoe als Verhörspezialist Major John Gordo. Bild: © Polyfilm
„Die Einsamkeit verfolgt mich mein ganzes Leben“, notiert Martin Scorseses „Taxi Driver“ Travis Bickle 1976 in sein Tagebuch. „Es gibt kein Entkommen davor. Ich bin Gottes einsamster Mann.“ Derart bezeichnet der damalige Drehbuchautor Paul Schrader bis heute viele der Außenseiter und Antihelden, die er in
seinen Scripts zu einem Dasein als Underdogs verdammt. Bis sich die Schattengeschöpfe auflehnen, aufbäumen – mit in der Regel tödlichem Ausgang. Erlösung, dies ein durchaus christlicher Gedanke, gibt es erst, wenn Blut fließt. Nun haben sich die „New Hollywood“-Veteranen wieder zusammengetan, Paul Schrader Drehbuch und Regie, Martin Scorsese Produktion, um erneut von einem Einzelgänger zu berichten. „The Card Counter“, ab 4. März in den Kinos, ist nicht nur die atemberaubend spannende Geschichte eines Profigamblers, sondern in bester Tradition der beiden Filmemacher auch eine über die politische Verfasstheit der USA. „Jeder kann durchdrehen“, schreibt diesmal ein William Tell♦ in sein Diarium und stellt die Frage: „Ist es möglich zu wissen, wann man sein Limit erreicht hat?“
♦ Der vieldeutige Name mag sich freilich auf den Schweizer Freiheitskämpfer beziehen, jedenfalls aber meint „tell“ im Englischen die verräterische Mimik oder Gestik eines Spielers, die ihn als Bluffer entlarvt.
Womit natürlich nicht das am Poker- oder Black-Jack-Tisch gemeint ist. Tell, so lernt man den mittels seiner Aufzeichnungen zum Off-Erzähler gemachten Charakter kennen, ist ein cool kalkulierender Kartenspieler, der das – von den Spielbanken verbotene – Zählen der Karten in seinen Jahren im Militärgefängnis erlernt hat. Möglichst anonym bleiben, kleine Gewinne, kleines Risiko, und vor allem kein Casino-Verbot, das ist seine Devise, da kann ihm Poker-Agentin und Geldgeberin La Linda noch so sehr mit Ruhm und Reichtum locken wollen.
Allein in seinem Auto, in der Selbstisolation mittelschäbiger Motelzimmer, wo er in einem seltsamen Ritual alle Möbel – als wär‘ ein Verhüllungsprojekt von Christo in einem Horrorfilm gelandet – mit weißen Tüchern umwickelt: Der Mann könnte ebenso gut Serienmörder sein – und war’s in gewisser Hinsicht auch. Atlantic City, Kansas City, Las Vegas, Kameramann Alexander Dynans atmosphärisch dichte Kunstlichtbilder lassen die Schauplätze dieses Neo-Noir-Thrillers bis zur Austauschbarkeit verschmelzen, die immer gleichen Fake-Glitzer-Foyers voller Spielautomaten, die ausdruckslosen Gesichter der Croupiers und Croupières, die Lüge vom schnellen Geld, der hämisch abfotografierte American Way of Life. Am grausigsten in der allgemein skurrilen Statisterie verkörpert durch den wie verrückt herumhüpfenden Zocker „Mister USA“, der mit penetrantem Hurra-Patriotismus den Umstand überbrüllt, dass sein einziges Zuhause die Parallelwelt am Spieltisch ist.
Und mitten drin, düster und wortkarg, der Tell, ein Kontrollsüchtler, der mit Mathematik sein Trauma niederdrückt, Darsteller Oscar Isaac so gut wie nie zuvor, dem das Paradoxon gelingt in steinernem Pokerface tausend Emotionen widerzuspiegeln und hinterm todeskalten Blick ein mit seiner Vergangenheit ringendes Individuum durchscheinen zu lassen. In einem der trostlosen Prunkpaläste, die Tell rastlos bereist, spült es ihn mehr oder minder zufällig in eine im Casino stattfindende Waffenmesse und in den Vortrag eines gewissen (Ex-)Majors John Gordo. Sofort ist klar, dass Tell mit dem Verhörspezialisten eine alte Rechnung offen hat.
In einer albtraumhaften, wie durch einen Türspion aufgenommenen Rückblende enträtselt sich: Gordo war während der Besetzung des Irak durch die Vereinigten Staaten Herr über das Foltergefängnis Abu Ghraib, Szenen, die einem wie Nadeln unter die Haut fahren, die Entmenschlichung des Menschen wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern vorexerziert, und Tell alias damals Tillich sein willfähriger Lehrling. „Nichts kann rechtfertigen, was wir getan haben“, hält Tell in seinem Tagebuch über die Sogwirkung von Gewalt fest, erschüttert von seinem „Talent“ zum Sadisten, das er an den Gefangenen alsbald genüsslich auslebte.

William Tell zieht als Kartenspieler durch die Casinos von Amerika: Oscar Isaac. Bild: © Polyfilm

Cirk Baufort will Tell als Partner für seine Rache an Gordo: Tye Sheridan (li.) mit Oscar Isaac. Bild: © Polyfilm

Man kommt sich näher: Tiffany Haddish als Spielerbrokerin La Linda mit Oscar Isaac. Bild: © Polyfilm

Herr über das Foltergefägnis Abu Ghraib: Willem Dafoe als Major John Gordo. Bild: © Polyfilm
Doch da nur jene Marines zur Rechenschaft gezogen wurden, die auf den Lynndie-England-Fotos zu sehen sind, ging Gordo frei und in die Privatwirtschaft, während Tell als einer der Sündenböcke hinter Gittern landete. Bei Gordos Vortrag nun wird Tell von einem jungen Mann angesprochen, der genau zu wissen scheint, mit wem er es zu tun hat: Cirk Baufort, dessen Vater ebenfalls von Gordo ausgebildet, unehrenhaft aus der Armee entlassen, darob zum Trinker und Familienprügler wurde, bevor er sich schließlich erschoss. Cirk will Rache und Tell als Partner für seine Pläne.
Da besinnt sich der, stimmt Spielerbrokerin La Lindas finanziellem Angebot zu – Schrader findet hier sogar Zeit für eine zart knospende Love Story, wunderschön ein nächtlicher Spaziergang der beiden Illusionslosen durch die Illusion eines wie von Glühwürmchen beleuchteten botanischen Gartens – und nimmt nun an hochdotierten „No Limit Texas Hold’em“- Turnieren teil. Mit dem Gewinn aus diesen World Poker Series soll Cirk seine Schulden bezahlen und sein Studium wiederaufnehmen – et voilà mutiert das Road- zum Buddy-Movie …
Als Widerling Gordo gibt Willem Dafoe eine gespenstische Performance, mit der er einen Auftragsarbeiter für Folter bei der Ausübung seines Geschäfts vorführt, einen, der sich entschieden hat, das Grauen seiner Taten zu ignorieren. Dafoes Gordo ist die personifizierte Banalität des Bösen, denn böse ist Gordo in dem Sinne, dass er nichts Verwerfliches an seinen Misshandlungen finden kann – ist doch sein „hehres“ Ziel die Bevölkerung der USA vor deren Feinden allüberall zu beschützen, ein schwerwiegendes moralisches Dilemma seines Heimatlands, das Paul Schrader da thematisiert – unter anderem mit Aufnahmen aus Guantanamo.
Die Entdeckungen in „The Card Counter“ sind Tiffany Haddish als resche, redegewandte und doch so romantisch veranlagte La Linda, die Haddish mit einer sibyllenhaft gütigen Abgebrühtheit anlegt. Und X-Men-Cyclops Tye Sheridan, der Cirk mit einem hilflos beharrlichen, La Lindas mütterliches Herz im Sturm erobernden Charme ausstattet. Bemerkenswert sind die Szenen mit Isaacs Tell, dem Mentor wider Willen, der Cirk einerseits nicht seinen gefährlichen Fantasien überlassen kann, andererseits den Jungen in einer geschmeidigen Äquidistanz- Ausweichbewegung hält. Was nicht verhindern wird, dass sich beider Schicksale ineinander verheddern.
Seinen Mix aus Figuren- und Milieustudie schildert Schrader in einer labyrinthisch verschlungenen Schleife, einem Möbiusband, auf dem Schuld und Sühne, seit jeher Schraders große Themen, ihre Kreise drehen, bis das Publikum den Gordo’schen Knoten zerschlagen hat. Dazu verleiht Schraders via William Tell transportierte Wut auf die himmelschreienden Vorkommnisse in der Kriegsnation USA seinem Film eine unter der glatten Casino-Oberfläche schwelende Energie.
Vor allem amerikanische Filmkritikerinnen und -kritiker waren kurzerhand bereit, die „Card Counter“-Geschöpfe als besonders abschreckende Exemplare toxischer Männlichkeit abzustempeln. Das ist ein wenig kurz gedacht, will Schrader einen doch durchaus mitnehmen ins Innenleben seines verstörten Protagonisten, wo er für diesen, wenn schon nicht um Vergebung, so immerhin um ein Verstehen heischt. Trotz aller davor demonstrierten Härte trifft einen das Ende wie ein Keulenschlag. „The Card Counter“ schließt mit einem Folter-Showdown, den man nicht sieht, nur hört, was zum Magenumdrehen reicht – und bald wird in diesem Spiel mit lebensbedrohlichen Einsätzen einer zu hoch gepokert haben …
Trailer Englisch mit Untertiteln: www.youtube.com/watch?v=TCCJ-dtVrWg&t=4s
- 3. 2022