Wendy Holden: Teatime mit Lilibet

November 20, 2020 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Die True Story der Gouvernante von Queen Elizabeth II.

Ein Prolog und ein Epilog bilden die Klammer zu Wendy Holdens dieser Tage erschienenem historischem Roman „Teatime mit Lilibet“. Es ist Juli 1987, eine alte Frau steht in ihrem Wohnzimmer in Aberdeen am Fenster, ihr Haus liegt direkt an der Route, die die königliche Familie Richtung Balmoral Castle nimmt, auf den Tischen hinter der Frau stapeln sich Gurkensandwiches und Marmelade-Pennys – und Fotos zweier Mädchen, mal lächelnd im Kilt, mal äußerst ernst mit Krönchen.

Die Frau am Fenster ist die beinah 80-jährige Marion Crawford, 16 Jahre lang war sie die Gouvernante der Prinzessinnen Elizabeth und Margaret, und nein, niemals werden die Queen und ihr Gefolge auf dem Weg in die Sommerfrische bei ihr einkehren …

Wendy Holden erzählt nun, als wär’s das Prequel zur gerade auf Netflix laufenden Serie „The Crown, Season 4“, die True Story von „The Governess“, wie der englische Originaltitel lautet. In einem Antiquariat sei ihr, so die Autorin im Nachwort, deren Autobiografie „The Little Princesses“ vom Regal buchstäblich in die Hände gefallen. Jenes Werk, das der Anfang vom Ende war.

Crawford veröffentlichte es 1950, bereits in Pension und vom Königshaus mit dem Nottingham Cottage auf dem Gelände des Kensington Palastes und einem Wagen mit Chauffeur ausgestattet, wohl unter dem Einfluss ihres nunmehrigen Ehemanns George Buthlay. Als die Königin/demnächst Queen Mum von diesem Ansinnen hörte, schrieb sie Crawford in einem Brief:

„I do feel, most definitely, that you should not write and sign articles about the children, as people in positions of confidence with us must be utterly oyster. If you, the moment you finished teaching Margaret, started writing about her and Lilibet, well, we should never feel confidence in anyone again.“ Und wo wurde Crawfie, wie die Kinder sie nannten, vom Hof geächtet.

Doch bevor es so weit ist, liegen vorm Leser, der Leserin mehr als 500 Seiten Royal History aus einer bis dato kaum bekannten Perspektive. Marion Crawford wird eingeführt als Pädagogik-Schülerin am Moray House Teacher Training College in Edinburgh, eine feministische, sozialistisch eingestellte, 23-jährige, sturschädelige Schottin, deren Fanal für die Gleichberechtigung ein Eton-Crop-Kurzhaarschnitt ist. An ihren freien Samstagen unterrichtet sie die Kinder in den Brennpunktvierteln der Stadt.

Bis ihr Rektorin Isabel Golspie einen Ferialjob bei Lady Rose Leveson-Gower überantwortet, der Schwester der Herzogin von York, um den Bildungstand von deren Tochter Lady Mary aufzupolieren. Marion nimmt an. Wegen des dringend benötigten Salärs. Und weil ihr Miss Golspie einbläut, wer die Gesellschaft ändern wolle, müsse die Upper Class über die Existenz der Elenden unterrichten: „Genau das ist der Grund, weshalb Sie die Vermögenden etwas lehren sollten. Wer sonst soll ihnen sagen, wie arme Menschen leben?“

In Lady Roses Rosyth sieht sich Crawford alsbald Schwager Bertie und Schwester Elizabeth gegenüber, die die unkonventionelle Erzieherin unbedingt abwerben wollen, und schon sieht sich diese, die in Edinburgh ihren geliebten, kommunistischen Studenten Valentine und den sie liebenden, braven Studenten Peter zurücklässt, „Maid Marion“ ist kein Kind von Traurigkeit und wird doch im Dienste der Krone unverheiratet bleiben müssen, von den Slums um Grassmarket nach 145 Piccadilly versetzt.

Erste Szene: Eine Kissenschlacht im herzoglichen Schlafgemach, Eltern gegen Töchter, „,Fleh um Gnade!‘, forderte Elizabeth ihren Vater auf. ,N-n-niemals!‘, keuchte er, bevor er einen Hustenanfall bekam“, während sich draußen die sogenannten Hungermärsche formieren. Es ist 1932, das Land hat drei Millionen Arbeitslose, und die fordern die Abschaffung jener Bedürftigkeitsprüfung, nach der bei der Errechnung des Arbeitslosengeldes alle Ersparnisse sowie Hab und Gut der gesamten Familie einkalkuliert werden. Hinter den königlichen Mauern ist das Realitätsbewusstsein: Null. Nur die Schrullen-Skala reicht ins schier Unendliche.

Geschickt verwebt Holden ihren anekdotenhaften Schreibstil mit der britischen wie der Weltgeschichte. Das ganze Pomp and Circumstance erscheint Crawford wie eine Theaterinszenierung, und Holden setzt die dröhnende Stimme von George V. in Versalien, Königin Mary mit den von Haarklammern gehaltenen Stirnlöckchen und ihrem Festhalten an der viktorianischen Garderobe, die so lautlos und gleichzeitig lärmend wie ein Trompetenstoß auf der Bildfläche zu erscheinen vermag – „ein Coup de théâtre“, der Sohn des Königs als passionierter Hobbygärtner, der „in Gummistiefeln herumstolziert wie eine moderne männliche Marie-Antoinette“.

Der dauergelangweilte Prinz of Wales mit seinem verächtlichen Schnauben „Manche Männer sind an ihre Schreibtische gekettet! Ich bin an den Banketttisch gekettet!“, die erzkonservative Kinderfrau Mrs Knight, die Feindin, die Schurkin, in der Marion bestürzt ein altjungferliches Alter Ego erkennt, die Herzogin, hinter deren Dauerlächeln und süßlicher Stimme sich ein eiserner Wille verbirgt – Hitler nennt sie später „die gefährlichste Frau Europas“, und die Marion sogar das Tragen ihrer bevorzugten Kleiderfarbe Nebelblau verbietet – welch ein Ausmaß an Anspruchsdenken.

Doch Crawfie ist auf ihre sozialistische Art um nichts weniger snobistisch, und es macht Spaß, sich in Wendy Holdens Unterhaltungsliteratur fallen zu lassen wie auf ein weiches Chesterfield Sofa. Auf dem Marion nicht landet. Auch nicht mit Sir Alan „Tommy“ Lascelles, „The Crown“-Fans bekannt als Privatsekretär und in anderer Art steif als in der Serie dargestellt. Nach einem Sprung in den Schlossteich und dem Ausziehen seines Hemdes, fällt Marion auf, „wie breit seine Schultern und wie muskulös seine Brust war. Er rubbelte sich ab, und sein nasses Fleisch glänzte im Sonnenlicht. Sein dunkler Blick schnellte wie eine Reitgerte über ihre Brüste.“

Queen Elizabeth II. Bild: pixabay.com

König Georg V. Bild: pixabay.com

Edward und Wallis Simpson. Bild: pixabay.com

Die Queen und Prinz Philip. Bild: pixabay.com

Marion is a Woman with a Mission, sie will vor allem Elizabeth, Lilibet, das wirkliche Leben zeigen. „,Hier‘, sagte Marion. ,Auf diesem Plan siehst du alle U-Bahnstationen Londons.‘ Elizabeth griff sofort danach. Dann stieß sie einen aufgeregten Seufzer aus. ,Ich verstehe! Wenn ich am Hyde Park Corner bin und nach Elephant & Castle möchte – was ist das für ein lustiger Name!‘ Sie blickte auf und grinste ihr breites Grinsen. Marion beobachtete, wie die Prinzessin mit ihrem Finger über den Plan strich. Unvorstellbar, dass sie im Imperium ihrer Großeltern lebte und so gut wie gar nichts darüber wusste.“

Es mag etwas überzogen wirken, dass Wendy Holden ihrer Crawfie die Veranlassung all jener Errungenschaften andichtet, die das heutige Bild der Queen ausmachen: Sie ist es, die Lilibet vom Rüschenkleid befreit und in den Schottenrock steckt, sie ist es, die mit dem Lesen von Enid Blyton’s Hundekolumne die Anschaffung des ersten Corgi namens Dookie, übrigens ein durchtriebenes Biest, forciert, sie ist es, an deren Beispiel Lilibet erkennt, der Job ist gleich Selbstaufgabe, der Beruf stets auch Berufung, sie ist es, die Elizabeths Talent, auf Menschen zuzugehen, erst formt. Holden zeichnet die junge Elizabeth als nachdenkliches, dennoch fröhliches Kind, Margaret als temperamentvollen, unkontrollierbaren Wildfang, Elizabeth als rational, argumentativ, pragmatisch, Margaret als egozentrisch, launisch, eine ärgerliche zweite Geige.

Lieblingsszene, ein schriftstellerisches Kabinettstück, ist Marions erstes Mal auf Balmoral, das Abendessen, bei dem „sechs Sackpfeifer tatsächlich unter ohrenbetäubendem Gedudel die Runde um den Tisch machten, einer davon, wie angekündigt, eindeutig betrunken“, angeführt vom obersten Butler in Schäfer-Montur, die Ermahnung, nicht auf Queen Victorias Lieblingsstuhl Platz zu nehmen, „Es ist niemandem erlaubt, sich darauf zu setzen, niemals!“, „während der Papagei des Königs sich pickend über die silbernen Platten hermachte, sich am Ei Seiner Majestät gütlich tat“ – und Ramsey MacDonalds Nationalregierung gewaltsam gegen das Volk vorgeht.

Mit der Naivität einer Inselbewohnerin erlebt Marion Crawford den aufkeimenden Faschismus, Hitler, dessen Hakenkreuzfahne von der Fassade der deutschen Botschaft hängt, Mussolini, Franco, Valentine, der im Spanischen Bürgerkrieg fällt, Oswald Mosley und seinen Cable-Street-Kampf, Dollfuß und seine Ermordung beim Juliputsch. Auftritt Mrs Wallis Simpson, Marion trifft sie beim Wandern auf Balmoral beim Prince Albert’s Cairn, Edward VIII. Thronverzicht, Marions Arbeitgeber, der George VI. wird – und sie als Lilibets Lehrerin gleichsam die der künftigen Königin. Was Margaret mit dem Satz „Sie übt sich schon in Papas Zähneknirschen“ kommentiert.

Mit Blick aufs royale Schlüsselloch erfährt der Leser, die Leserin brisante Geheimnisse, die ansonsten der Nachrichtensperre unterliegen, hört den „Buck House“-Klatsch der Bediensteten, und in all dem die Weltpolitik und ihre Auswirkungen auf zwei Mädchen, Lilibet, die Wortfetzen der Erwachsenen auffängt und vor Angst Zwangsstörungen entwickelt, und Margaret im Größenwahn, die das diensthabende Regiment quält, indem sie immer und immer an den Palastwachen vorbeirennt, so dass diese wieder und wieder salutieren müssen. Und ist es nicht wahr, so ist es gut erfunden. „,Lilibet ist mein ganzer Stolz‘, pflegte der König unbekümmert zu sagen, ,und Margaret meine Freude.‘“

Es folgen Krieg, Churchill, Blitzkrieg, die Prinzessinnen im Flirtalter. In der Militärakademie Dartmouth steht Elizabeth Kadett zur See Philip gegenüber, der sofort seine „Suchscheinwerfer“ bedient und „anerkennend auf ihre Beine in Strumpfhosen starrte“, just heute begehen die beiden ihren 73. Hochzeitstag, vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters stößt Margaret auf dessen neuen Stallmeister, das hochdekorierte Fliegerass Peter Townsend, dem sie augenblicklich „in atemloser Bewunderung“ verfällt. Marion wiederum, sich zurückgesetzter, überflüssiger fühlend, eifersüchtiger als es Margaret je war, trifft Major George Buthlay.

Der Abschied naht. „Das Gefühl, dass in gewisser Weise das Schicksal der Nation von ihr abhing, war höchst verführerisch gewesen. Noch verführerischer und mächtiger war darüber hinaus die Vorstellung, dass die Mädchen im Grunde genommen ihre Töchter waren und sie ihre Mutter. Und jetzt hatte sie diese Macht abgegeben.“ Beatrice und Bruce Gould nahen, Amerikaner und Herausgeber von The Ladies‘ Home Journal, und sie machen Marion ein Angebot, dem George Buthlay nicht widerstehen kann …

In der jüngeren Literatur, Hugo Vickers Biografie „Elizabeth, the Queen Mum“ oder Robert Laceys Buch und Grundlage zur Netflix-Serie „The Crown“, erfährt Marion Crawford „endlich die Neubewertung, die sie verdient“, so Wendy Holden. Wie auch immer, ist es schier unglaublich, dass die Geschichte dieser kecken Pionierin, die ihre liberalen Ansichten in einer Institution verteidigte, die traditioneller kaum sein könnte, noch nie erzählt wurde. Wendy Holden tut dies auf bestechende Weise, mit jenem britischen Humor, der einen Hang zum Skurrilen hat, aber auch mit einem großen Herzen fürs Drama in den Situationen. „Teatime mit Lilibet“ berichtet von der Tragikomödie des Lebens. Und wenn sich heut‘ noch niemand die Filmrechte gesichert hat, so gewiss morgen.

Über die Autorin: Wendy Holden hat als Journalistin für The Sunday Times, Tatler und The Mail on Sunday gearbeitet, bevor sie sich dem Schreiben von Büchern zuwandte. Sie hat dreizehn Romane geschrieben, von denen in Großbritannien jeder ein Bestseller war. Sie lebt mit ihrem Mann Jon McLeod und ihren beiden Kindern Andrew und Isabella in Derbyshire und arbeitet derzeit an einem Roman über Wallis Simpson.

List Verlag/Ullstein Buchverlage, Wendy Holden: „Teatime mit Lilibet“, Historischer Roman, 528 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Elfriede Peschel.

www.ullstein.de           wendyholden.net

  1. 11. 2020

The Phantom of the Opera at the Royal Albert Hall – online auf The Show Must Go On!

April 18, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein viktorianisches Schauerstück wird zur Opernsatire

Der Rote Tod erscheint auf dem Maskenball: Ramin Karimloo als das Phantom auf Bühne und Leinwand. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Musical-Titan Andrew Lloyd Webber bietet dieser Tage seine berühmtesten Werke auf dem Youtube-Channel „The Show Must Go On!“ als kostenlosen Stream an. Zum Wochenende je ein neues, am Karfreitag war das selbstverständlich „Jesus Christ Superstar“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39238), gestern folgte „The Phantom of the Opera at the Royal Albert Hall“ aus dem Jahr 2011, das bis inklusive Sonntagabend online ausgestrahlt wird.

Weiland war die Bühnenproduktion zum 25-Jahr-Jubiläum des Phantoms live in Kinosäle auf der ganzen Welt übertragen worden. Eine Aufzeichnung davon, die elektrisierende Atmosphäre des großen Ganzen und – als Überblendungen – spezielle Close-Ups der Darsteller gibt es nun zu sehen, die Gemeinschaftsarbeit von Theaterregisseur Laurence Connor und Filmregisseur Nick Morris eben mehr als ein „Mitschnitt“, sondern ein eigenständiges Erlebnis – und als solches eins nicht nur für eingefleischte „Phans“.

Denn tatsächlich, die zuletzt 1988 in der goldenen Peter-Weck-Ära gesehene Musikschmonzette hat an Dramatik nichts eingebüßt. Immer noch spektakulär ist der damalige Aha-Effekt aus Nebel-Wasser-Barke-Kerzenschein, die Hits von „The Music of the Night“ bis „The Point of No Return“ sowieso, und um’s gleich zu sagen: In London’s most iconic venue saust der Kronleuchter nicht mit Karacho Richtung der Zuschauerköpfe, er explodiert in der imperialen Höhe des Konzertsaals – fürs Filmpublikum heißt das natürlich Vogelperspektive und „hautnah“.

Derart sitzt man beim #stayathome auf den besten Plätzen. Was die Magie des Moments, die Emotionen, die leidenschaftliche Stimmung betrifft, und auch den Sound. Das von Anthony Inglis dirigierte 45 Mann und Frau starke Haus-Orchester thront dafür auf einer Plattform oberhalb des Bühnengeschehens, hinter sich eine gigantische Vidiwall für etwaige Groß- und Backstage-Aufnahmen, beispielsweise sieht man das Phantom beim Verfassen seiner „Operngeist“-Anweisungen an die Direktoren, alldieweil die Messieurs Firmin und André diese dreisten Billets bereits lesen. Gelungen auch die Phantom-Verdopplung bei dessen abruptem Erscheinen in der „Masquerade“-Szene, die Schädelmaske des Roten Tods in überlebensgroß besonders schaurig.

Ramin Karimloo und Sierra Boggess als Christine Daaé. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Boggess flüchtet in die Arme von Hadley Frasers Raoul. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Demaskiert: Ramin Karimloo als Phantom. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Der Showdown mit Karimloo, Boggess und Fraser. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Was im aus der Raumnot eine inszenatorische Tugend machenden Setting gezeigt wird, ist very british und wunderbar Vintage. Beginnend mit der holprigen „Hannibal“-Probe und dem poetischen „Think of Me“ zeigen Sierra Boggess und Wendy Ferguson was gesanglich und schauspielerisch in ihnen steckt, Boggess eine Christine Daaé, deren schöner lyrischer Sopran übers Anforderungsprofil „Musicalstimme“ weit hinausragt, Ferguson als Carlotta Giudicelli eine höchst theatralische Primadonna assoluta, die begnadete Komödiantin ein Glanzpunkt des Abends, wenn ihr Operndivenschein beim „Poor Fool He Makes Me Laugh“-Gequake in Schieflage gerät.

Und apropos, „Il Muto“: Ein Auskenner-Auge werfen sollte man auf den 2011-Gerade-noch-Shootingstar Sergei Polunin, der Ballett-Rebell hier mal als Slave Master im „Hannibal“, mal als Shepherd in „Il Muto“ Spitze, mittlerweile erwachsen gewordenes Enfant terrible, der seine bravouröse Technik auf Leinwand zuletzt im Biopic „Nurejew – The White Crow“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34617) demonstrierte. Ein zweites auf den Umstand, dass Regisseur und Webber-Experte Laurence Connor ins Gewand seines viktorianisch kostümierten Gothic Horror gekonnt eine humorvoll-gfeanzte Satire auf verschmockte Musiktheatermanierismen und ein opernweltliches Starunwesen kleidet. Kitsch meets Kunst.

Das gilt für Aufführung wie Ambiente. Denn selten zuvor war’s so ersichtlich, dass das Phantom, nicht nur mit einer abscheulichen Fratze, sondern auch mit dem absoluten Gehör gestraft, zugleich Zertrümmerer und Erneuerer im Musentempel ist. Einer, der mit der Atonalität der Avantgarde, siehe sein „Don Juan Triumphant“, das allzu Genregewöhnliche ausmerzen will, die Art Spearhead/Queer Head, der für seine Vision alle in den Wahnsinn treibt, ein Wesenszug, der Genies wie Möchtegerns anhaften mag, einer, der dafür Kollateralschäden in Kauf nimmt, ein mörderischer Pygmalion, der die von ihm erschaffene Göttin nicht loslassen kann und will.

Wendy Ferguson als Carlotta Guidicelli. Bild: The Really Useful Group Ltd.

Shootingstar Sergei Polunin. Bild: The Really Useful Group

Maskenball: Sierra Boggess und Hadley Fraser. Bild: The Really Useful Group Ltd.

Der in Teheran geborene Ramin Karimloo (www.raminkarimloo.com), mit seinen Eltern als Kleinkind vor dem Khomeini-Regime nach Kanada geflüchtet, spielt davon jede Facette. Der Phantom-Profi, seit er Anfang der 2000er erst in die Rolle des Raoul, dann in die des Phantoms schlüpfte, bietet in der Royal Albert Hall eine andere, eine unerwartete Interpretation der Figur. Selbstverständlich kann Karimloo Schmerz und Schreck und spooky sein, doch seine Augen hinter der Maske, mal funkensprühend böse, mal vor Tränen funkelnd, die Sehnsucht in seiner Körpersprache, dann wieder seine Hybris, die das Bemitleidenswerte übertüncht, diese subtilen Signale werden auf dem Bildschirm erst so richtig ersichtlich. Karimloo macht in düsteren Nuancen die gefährliche seelische Instabilität des Phantoms deutlich, und macht, was eindimensional sein könnte, so zum schillernden Main Charakter.

Dass zwischen Karimloo und Boggess die Chemie stimmt, weiß, wer die beiden bereits im Phantom-Sequel „Love Never Dies“ gesehen hat, sie tut’s auch zwischen Boggess und Hadley Fraser, der mit seinem angenehm sanften Bariton den Vicomte Raoul de Chagny gleich einem Fels in der Brandung singt. Man glaubt Fraser bis in jede Faser, dass er der ganze Mann ist, der sich gegen das Monster stellen wird, je hypnotischer das Phantom, desto wutentbrannter er, der Realist im irrationalen Treiben. Raouls beschützende Kraft ist dabei die gegen- sätzliche zur besitzergreifenden, obsessiven des Phantoms, mit dem Ergebnis, dass die beiden samt der zwischen zwei Lieben hin- und hergerissenen Christine der Sierra Boggess die perfekte Ménage à trois ergeben.

Ihr Highlight auch hier die „The Point of No Return“-Reprise, „The Final Lair“, das Grande Finale dargeboten mit vollem Schmelz, die Schraube, die das Phantom zweifelsohne locker hat, von Laurence Connor bis zum Abschlag angezogen, das Ende für Christine beinah ein emanzipatorisches, ihr „One Love, One Lifetime“ definitiv ans Phantom gerichtet. „Love conquers all“ heißt’s, also auch das Phantom, und bezüglich „Love Never Dies“, wer weiß, vielleicht wird das ja in einer der kommenden Wochen noch gestreamt.

Unterirdische Bootsfahrt mit Boggess und Karimloo. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Wynne Evans, Wendy Ferguson, Daisy Maywood, Barry James, Gareth Snook und Hadley Fraser. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

„Il Muto“-Satire mit Stephen John Davis (re.) als Don Attilio. Bild mit freundl. Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Zwölftongeorgel: Ramin Karimloo und Sierra Boggess. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

„The Phantom of the Opera“ ist in seinem 35. Jahr immer noch phänomenal, das beweist diese Show aus der Royal Albert Hall. Die mit Barry James und Gareth Snook als amüsant-überhebliche Operndirektoren Monsieur Firmin und Monsieur André, Liz Robertson als gouvernantenhafte Unheilkünderin Madame Giry, Daisy Maywood als töchterliche Ballettmaus Meg Giry, Wynne Evans als Pavarotti-Lookalike Ubaldo Piangi und Nick Holder als finstere Späße treibenden Bühnenmeister Joseph Buquet auch in den weiteren Rollen tadellos besetzt ist.

Ein Tipp: Nach dem Schlussapplaus noch zwanzig Minuten dranbleiben. Es gibt eine Überraschung, Andrew Lloyd Webber tritt auf, und was dann folgt, hat sehr viel mit ihm und seinem persönlichen „Angel of Music“ Sarah Brightman zu tun. Gänsehaut garantiert! Die Royal Albert Hall jedenfalls tobte …

Trailer: www.youtube.com/watch?v=C90eHuBPhS8

Die ganze Show: www.youtube.com/watch?v=nINQjT7Zr9w

www.youtube.com/channel/UCdmPjhKMaXNNeCr1FjuMvag     www.thephantomoftheopera.com         www.andrewlloydwebber.com            www.royalalberthall.com                    www.reallyuseful.com

18. 4. 2020

Wiener Festwochen: Democracy in America

Mai 25, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Kapitalismus als Erbschuld der Gründerväter

Von allen guten Geistern verlassen: Elizabeth zweifelt in der neuen Heimat an ihrem alten Gottglauben. Bild: Guido Mencari

Es beginnt mit einer Glossolalie aus Oklahoma City. Die Gnadengabe des Heiligen Geistes wird ins Dunkel des Volkstheaters gewispert, gestöhnt, gesingsangt. Glossolalie, das ist etwas, auf das die Pfingstkirche sehr steht, es bedeutet „in Zungen reden“, also: es redet mich, und ist ein unverständlich gebrabbeltes Gebet. Interessant eigentlich, dass gerade die Erleuchteten nicht immer die hellsten sind.

Interessant auch, dass stets die, die einander am ähnlichsten sind, übereinander herfallen. Von Far West bis Near East, jedenfalls wird es in weiterer Folge noch viel um Zungenschlag, Zündeln und gespaltene … gehen. Die Socìetas von Romeo Castellucci ist einmal mehr mit einer bemerkenswerten Arbeit in Wien: „Democracy in America“. Der Bühnenmagier hat sich diesmal von Alexis de Tocquevilles 1835 erschienener Abhandlung „De la démocratie en Amérique“ inspirieren lassen – und er sagt’s dem Home of the Brave so richtig rein.

Bereits Tocqueville begutachtete die weiße Realutopie mit gemischten Gefühlen. Zwar war er von der Demokratie in der jungfräulichen Neuen Welt durchaus angefixt, doch sah er auch die Gefahren und die Grenzen des Konstrukts: die Tyrannei einer Mehrheit über viele Minderheiten, die Schwächung der Intellektualität und der auf die Fahnen gehefteten Freiheit durch populistische Rhetorik, letztlich die Kreation des Kapitalismus durch die Versklavung von Menschen, durch die Marginalisierung von Menschen. Die in der Verfassung und ihren Amendments, die in der Bill of Rights beschworene Gleichheit, sie ist bis heute Chimäre. Der Kapitalismus der USA ist eine Erbschuld.

Castellucci hat seine Inszenierung seit der Uraufführung in Antwerpen weiterentwickelt. Und er setzt diesmal beinah schon auf Narration. Natürlich, im Mittelpunkt der enigmatischen Aufführung stehen – im Wortsinn – im Gazenebel gehaltene Szenen, Tänze oft, fantastische Theaterbilder, die wegen ihrer Schönheit und in ihrer eindringlichen Stille betroffen machen. Eine Fahnenschwenktruppe formt Begriffe. Crime ist zu lesen, und Cynic. Eine blutüberströmt nackte Frau schält sich aus der Gruppierung und beginnt mit ihren langen, nassen Haaren auf einen Metallgalgen einzudreschen. Gong. Gong. Gong. Sie peitscht das Joch, das ihr der Schöpfer auferlegt hat, denn mehr als üblich arbeitet sich Castellucci diesmal am Gottesbegriff ab. Es geht um Aberglaube und Abfall vom Glauben, um Puritanismus, er letztlich die Grundlage der USA, um Bigotterie – und um das Gefühl, von Gott verlassen zu sein.

Von bösen Geistern umzingelt: Nathanael versucht die alten Indianerkräfte von seinem neuen Besitz fernzuhalten. Bild: Guido Mencari

Man hört den „Steinmetzsong“ schwarzer Häftlinge aus dem Jahr 1966, sieht einen gespenstischen Aufmarsch des Ku-Klux-Klans, schamanistische Visionen von God’s own Country, liest projizierte Geschichtsdaten. Schlacht folgt auf Schlacht. Geburt, auch die einer Nation, besteht aus Blut und Scheiße. Auf derart philosophische Sketches folgen bewegende Szenen. Der schweißrote Faden ist ein Siedlerschicksal zur Zeit der „Pilgerväter“.

Ein hart gewordener Menschenschlag in einem harten Land, Elizabeth und Nathanael. Sie verkauft ihre Tochter für Werkzeug und Saatgut, macht ihr Kind zum Pflugschar. Eine alte Indianerin beobachtet die Szene – und ergreift als Geist von der jungen Frau Besitz. Die beginnt nun besessen in einer indianischen Sprache wehzuklagen und den abwesend-schweigenden Gott zur Rede zu stellen. Blasphemie! Der Rest ist … Hexenjagd.

Schließlich, Schlussszene. Noch eine Tragödie hat die Theatercollage zu beleuchten: die der amerikanischen Ureinwohner. Zwei von ihnen lernen in einem Dialog die Migrantensprache – Englisch. Mühsam, warum nur klingt Hair fast wie Ear, meint aber nicht dasselbe? Sie wollen nicht Fremde im eigenen Land werden, sie wollen von der Mayflower-Mutter-Borg assimiliert werden. Lieber denn ausgerottet werden, besser denn auszusterben. Ihre Bemühungen haben nichts genützt, man weiß es. Im Land of the Free führte die hellhäutige Fackel die indigenen Völker in die Finsternis, das nationalistische Heilsversprechen der Staatengründer, es galt nicht für sie.

Castellucci Ensemble besteht nur aus Frauen: Evelin Facchini, Olivia Corsini, Gloria Dorliguzzo, Giulia Perelli, Stefanie Tansini, Sophia Danae Vorvila, Daniela Nitsch, Bianca Anne Braunesberger, Wendy Kok, Paolina Neugebauer, Anicka Prokopova, Nadine Schimetta, Nicole Steininger, Sarah Dworak, Magdalena Bönisch, Anja Struc, Irina Mocnik  und Janine Hickl. Ist das sein Woman is the Nigger of the World? Längst hat man verstanden, meint man verstanden zu haben, Castellucci geht’s in seiner suggestivkräftigen Arbeit um mehr Vereinigtes, als nur die Staaten. Sein Theaterrätsel scheint ein prinzipiell gemeinter Einspruch gegen „Herrscher“ und sozialdarwinistische Herrschaftsverhältnisse. Seine Performance ist ein Puzzle, wie stets auch diesmal ein Denk/Spiel, das dem Publikum Raum für individuelle Interpretation lässt.

Und dann ist man doch gedanklich wieder bei den USA und irgendwie der Hoffnung, dass, solange Europa Vordenker und Freigeister wie Castellucci hat, hier das Blasen von biblischen Trumpeten verhindert, heißt auch abgewählt, werden kann. Nämlich, von Democracy zu crazy ist es nur ein Buchstabe …

www.festwochen.at

24. 5. 2017