VON MICHAELA MOTTINGER
Im Clinch mit Gottes Regeln
„Ist das nicht aufregend?“, fragt Hebamme Val die schwangere Frau. Surie zögert. „Nein“, sagt sie. „Ich habe mich darauf gefreut, endlich ein bisschen Zeit für mich zu haben.“ Sie hätte aber doch zehn Kinder und zweiunddreißig Enkelkinder, was machten da ein, zwei zusätzliche schon groß aus, meint die Geburtshelferin. „Surie antwortete leise, dass ein einziges Kind eine ganze Welt sei …“
Surie Eckstein ist die Protagonistin in Goldie Goldblooms neuem Roman „Eine ganze Welt“, „eine Frau, von der die anderen Leute glaubten, sie wüssten alles über sie – Ausländerin [denn zu dieser macht sie sich freiwillig im eigenen Land], religiöse Fanatikerin, ein anachronistischer Witz, eine ungebildete Mutter“, die kaum englisch, sondern jiddisch spricht, die unter der obligaten Perücke kahlgeschoren ist und den Körper verhüllende Kleidung trägt.
Surie lebt in Williamsburg, New York, als wertgeschätztes Mitglied der chassidischen Gemeinde, die anderen, das sind die jenseits der Synagoge in der Kent Street, die allzu leicht ein Urteil über das fällen, was ihnen „fremd“ ist. Das jüdische Brooklyn liegt für sie im Nirgendwo eines gewesenen Jahrhunderts, ein Schtetl, wie’s ihnen
nur in Barbra Streisands „Yentl“ gefällt. Den ultraorthodoxen Gläubigen sind die Vorurteile der Yuppie-Hood freilich einerlei, jetzt aber fürchtet Surie den Schuldspruch ihrer nächsten Nachbarschaft. Im „knarzenden Alter“ von 57 Jahren erwartet sie Zwillinge, welch ein Regelverstoß! Im Gegensatz zu Ehemann Yidel, dem 62-jährigen Sofer des Tempels, dessen schlimmster es ist, abends unter der Dusche zu singen. Sie hat den Brustkrebs überwunden, und die beidseitige Mastektomie. Soll sie die bevorstehende Niederkunft als nahezu so wundersam preisen, wie die von Sarah, Abrahams Frau?
Die Schande! Der Skandal! Ein Sex-Skandal, würde die Geburt doch bekanntmachen, dass Yidel sie „über das normale Alter hinaus“ begehrenswert findet. Nach der Geburt des jüngsten Sohnes Chaim Tzvi, als sie es bereits „ungefährlich“ wähnten, hatten sie die Betten zusammengeschoben und kostbare Tage einer stillen Innigkeit waren abgebrochen. „Die meisten Mütter in der Gemeinde hatten mit Anfang vierzig den Laden dichtgemacht“, nun würden sie beim Anblick des „sexbesessenen Flittchens“ erröten – und alle Heiratschancen für ledige Kinder und Kindeskinder wären auf ewig zunichte gemacht …
Mit solch frechen, flotten Formulierungen führt die Chicagoer Autorin Goldie Goldbloom, sie selbst chassidisch, achtfache Mutter, queer und bekannte Streiterin für LGBTQ-chassidische Jugendliche, in Suries Gedanken- und eine den meisten unbekannte Welt ein, zu deren Erklärung es ein Glossar und eine Eckstein’sche Familientafel braucht. Eine Welt, in der einzig die ein Leben lang die Gebote Gottes studierenden Männer das Sagen haben: „Nuschim, zeyt schtil!“ – und trotzdem die ungarische Holocaust-Überlebende und Urgroßmutter Dead Onyu das letzte Wort hat. Und im Gegensatz zur jüdisch-amerikanischen Literatur von Philip Roth bis Chaim Potok erfährt Surie keinen Glaubensverlust.
Gleich einem weiblichen Hiob liebt sie Gott, sie kämpft nicht mit IHM, sondern jenen restriktiven Regeln, die ihr mehr und mehr von ihren Mitmenschen diktiert und deshalb ablehnenswert scheinen. Dies trifft vor allem auf den Umgang der Gemeinde mit Suries Sechstgeborenem Lipa zu, geboren 1981, gestorben 2003, der nach Kalifornien ging, eigentlich dorthin vertrieben wurde. Eine unausgesprochene Verbannung, ausgesprochen wegen Lipas Homosexualität, das Problemkind, das in Manhattan der-Teufel-weiß-wen datete und sich mit HIV infizierte. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Lipa in seinem Ghetto nie von Aids gehört hatte, Goldbloom schreibt, dass er, der das Wort schwul gar nicht kannte, also auch „Kondome für Gebiete, über die mehrere Staaten herrschten, hielt“.
„Surie zog Gummihandschuhe und einen Mundschutz an und warf das Geschirr, von dem er aß, in den Ofen im Keller.“ Als der Anruf kam, „hielt Yidel das Telefon weg von seinem Ohr, weil ihm nicht klar war, wie die Infektion weitergegeben wurde“. Die Eltern müssen den Leichnam des Sohnes in San Francisco identifizieren, ein ausgemergelter Körper, 35 Kilo schwer und voller Drogeneinstiche. Lipa hatte sich im Golden Gate Park erhängt, das wird sich Surie nie verzeihen, dass sie ihm die goldbestickte „girly Jarmulke“ und anderes und damit ihre Empathie vorenthielt, doch immer noch, wenn sie mit Yidel über Lipa reden will, verlässt der fluchtartig das Haus. Das wird sie ihm nicht verzeihen.
Diese 288 Seiten währende Schuld, diese offene Wunde unter all den Eckstein’schen Narben, ist die eigentliche Story in „Eine ganze Welt“, nicht die späte Schwangerschaft. Eine ganze Welt, das sind zum Ersten die ungeborenen Babys, dann die gesamte Familie, schließlich Hasidic Williamsburg. „Wenn ich noch einmal die Chance hätte, würde ich ihn nach Hause holen und im bequemsten Bett schlafen lassen, und ich würde zu ihm sagen, dass er seinen Freund mitbringen soll, und meine Kinder und Enkelkinder sollen ihn anlächeln und nie damit aufhören. Weil Elternliebe nie aufhört, nie aufhören sollte“, sagt Surie zu Val.
Die Beziehung der orthodoxen Jüdin mit der unkonventionellen Hebamme wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Während die Krankenhausärzte einerseits über die ihnen medizinischen wie medialen Ruhm sichernde Sensation jubeln und sich andererseits mittels Aktenvermerken „für den Fall, dass etwas schiefgeht“ absichern, Stichwort: Hochrisikoschwangerschaft, während Surie über einen Abbruch derselben, der nicht rabbinisch sanktioniert wäre, nachdenkt, und sich ihr ob dieses sündigen Denkens der Magen umdreht, erkennt Val das Talent der vielfachen, in Geburten erfahrenen Mutter, auf ängstliche Schwangere beruhigend zu wirken.
Surie, die Yidel nach wie vor nichts gesagt hat, weil sie befürchtet, er wäre zornig und würde sie nicht länger lieben – Dead Onyu, der sie sich anvertraute, freut sich zwar schon darauf, „die kleinen Bubeles in ihren identischen Sachen“ und im brandneuen, von ihr gestifteten „europäischen“ Kinderwagen durch den Bezirk zu kutschieren, die älteste Tochter Tzila Ruchel aber war so angewidert von Mutters Gräueltat, dass Surie befürchtete, sie werde sich übergeben -, Surie also wird Laienhebamme im Krankenhaus. Für sie ein Grund, Yidel auszuweichen, der ihre wachsende Leibesfülle den Wechseljahren zuschreibt, für ihn ein Grund, seinen Freunden zu schildern, wie sehr sich seine Frau bei Bikur cholim engagiere – es gibt keine größere Mizwe!
Lügen, Schwindeleien, Notlügen, zu denen Surie nun regelmäßig Lipa erscheint, die Fäuste vor Wut geballt, den Mund offen, als würde er schreien. Doch Goldbloom wandelt die Momente des weiblichen Gehorsams in winzige Momente der Wahl, und Surie versteht die Bedeutung dieser kleinen Entscheidungen. Sie emanzipiert sich auf ihre Art, berät eine vierzigjährige Anwältin, die über Schwangerschaftsstreifen klagt, macht einer jungen Mexikanerin nach der sechsten Fehlgeburt Mut. Die Beschäftigung wird zum Beschwichtigungsmechanismus für Suries eigene Situation.

Bild: pixabay.com

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Und plötzlich sitzt sie als Jiddisch-Dolmetscherin der Teenager-Tochter einen Nachbarin gegenüber, geschwän- gert von jenem Schulpsychologen, zu dem Surie Lipa schickte – was diesen weiland in Panik versetzte. Surie, die keinen Kopf mehr dafür hat, mit ihren Freundinnen die beste Fleckentfernung und das schmackhafteste Kochrezept zu diskutieren, beschließt zu handeln. Sie sucht die Mutter des Mädchens in der Division Avenue auf – „On Division“ ist der Original-Titel des Romans -, die nicht öffnen will. „In der Mikwe würden die Männer am Erew Schabbes sagen, dass Rebezn Eckstein die Tür einer Frau eingetreten hatte“, doch Surie will ihre Schutz- befohlene vor einem Schicksal, wie es Lipa ereilte, ein „verlorenes Kind“ der Gemeinde zu werden, bewahren.
Dies der Goldbloom größte Abkehr von der jüdisch-amerikanischen Autoren-Tradition, die sich gemeinhin auf die persönliche Befreiung konzentriert, Asher Lev mit Kunst, Alexander Portnoy via Sex. Suries Befreiung aber soll der Weg zu einer gesellschaftlichen, sozialen, zeitgeschichtlichen sein. Statt dass Goldbloom Surie von ihrer Gemeinschaft befreit, bittet Surie ihre Gemeinschaft sich von ihrem schlimmsten Selbst zu befreien. Goldbloom kann dies genau deshalb tun, weil Surie den chassidischen Regeln folgt, Regeln, die ihr Dasein heiligen, wobei sie aber langsam und schmerzhaft akzeptiert, dass sie umso weniger bedeuten, je wirkmächtiger sie Lipas Leben zur Hölle gemacht haben.
Diese Akzeptanz ermöglicht es Surie, Regeln mit Bedacht zu brechen. Sie wägt ihren Ungehorsam sorgfältig ab. Persönliche Freiheit wird für Surie wichtig, aber nicht in dem, was ihr Mann das gojische „Ich, Ich, Ich“ nennt; sie befreit sich für die Menschen, die sie liebt, wie sie Gott liebt – und auf die Leserin strahlt Hoffnung … Das alles erzählt Goldie Goldbloom nicht ohne Humor, nicht ohne jüdischen Witz. So oft man über die bigotte Verbohrtheit der Williamsburger den Kopf schüttelt, so oft muss man auch schmunzeln.
Ob Surie ihr Hebammen-Lehrbuch im Wäschekorb versteckt, wo Yidel es findet und „das schmutzige Ding“ in den Ofen wirft, worauf Surie am nächsten Tag ein neues Exemplar mit nach Hause bringt: „Wenn jemand außerhalb der Familie erfuhr, dass sie sich zur Hebamme ausbilden ließ, würde keine Schule in ganz Williamsburg mehr ihre Kinder aufnehmen. Niemand würde mehr Yidel damit beauftragen eine neue Thorarolle zu schreiben. Ein Stein würde durch ihr Fenster fliegen. Schulfreunde würden nicht mehr zum Spielen kommen. Das Fleisch vom Metzger wäre zu fett, und die Papiertüte würde auf dem Nachhauseweg zerreißen …“
Ob Ruchel unter der Matratze ihres jüngeren Bruders Mattis gewisse Heftchen findet, Mattis, um dessen Schidech sich die Mutter längst kümmern sollte, und der sich nun als siebzehnjähriger „Leptup-Pornograph“ entpuppt, wo bereits der Besitz eines solchen satanischen Geräts den Ausschluss aus der Schil bedeutet. Mattis wandelte auf Lipas Spuren, er schämt sich ein Chasside zu sein und will lieber als hipper New Yorker leben!
Ob die allzu intelligente Enkelin Miryam Chiena Bubbie Suries Aufklärungs- und Geburtshilfe-Illustrationen findet und erklärt haben will, „etwas, worüber kein anderes Mädchen Bescheid wusste, und das Kind dann wieder in die Schule zu schicken, sei doch, als würde sie ein Geschoss abfeuern …“ Gern hätte man mehr gewusst über die arme Gittel, die Tochter, mit deren missglückter Hochzeit das Buch beginnt, mit einem Bräutigam, „der sich die Schläfenlocken schnitt, der eine lange Hose statt der würdevollen dreiviertellangen mit den weißen Kniestrümpfen trug“ – und seine Mutter kein Kopftuch! Und sein billiger Schtrajml – alles tropfte vor Modernität!
Inwieweit Surie die chassidischen Lebensgewohnheiten und das 21. Jahrhundert in sich vereinen und mit ihrem Glauben vereinbaren kann, gilt es selber nachzulesen. Die Wehen setzen ein, der noch immer ahnungslose Yidel ist in der Schil, wegen Schawuot darf nicht telefoniert werden, auch nicht mit Val, und weil keiner die Schabbat-Schaltung des Lichts geändert hat, ist es in der Wohnung stockdunkel. Ihre Unwahrheiten, ihre Heimlichkeiten drohen Surie zum Verhängnis zu werden. „Val glaubte, dass Geheimnisse etwas über Charakterstärke aussagten. Jetzt wusste Surie, dass das nicht stimmte. Geheimnisse waren die Wurzel von Schwäche …“
„Eine ganze Welt“ ist ein wunderbares Buch voller Weisheit über den Unterschied zwischen dem Leben, wie es sein sollte und wie es ist, über Ressentiments hie wie da, und wie es sie zu überwinden gilt. Goldie Goldbloom zeigt auf, wie schwierig es sein kann, sich selbst zu akzeptieren, sich in Selbstreflexion zu üben, sich selbst zu erkennen, und wie das, was – nicht nur chassidischen – Frauen als Stabilität und Sicherheit vermittelt wird, oft nur zu deren Käfighaltung führt. Ihr Roman gleicht einem Plädoyer für Mitmenschlichkeit, fürs Miteinander, für die Gleichheit aller Menschen, einem Plädoyer dafür, dass Regeln für Menschen, nicht die Menschen für die Regeln gemacht sind. Dem deutschsprachigen Feuilleton ist dieses literarische Kleinod weitestgehend entschlüpft, drum sei hier noch ein Wort gesagt: Lesenswert!
Über die Autorin: Goldie Goldbloom, geboren 1964 in Perth, Australien, wurde für ihren ersten Roman „The Paperbark Shoe“ mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman „Eine ganze Welt“ war in den USA ein großer Erfolg, wurde mit dem Jewish Fiction Award 2020 geehrt und erscheint in zahlreichen Sprachen. Goldbloom lebt als Chassidin in Chicago und hat acht Kinder.
Hoffmann und Campe Verlag, Goldie Goldbloom: „Eine ganze Welt“, Roman, 288 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube.
hoffmann-und-campe.de www.goldiegoldbloom.com
FILMTIPP:
Der Netflix-Zweiteiler „Unorthodox“ von Regisseurin Maria Schrader erzählt von der 19-jährigen Chassidin Esty, die vor einer arrangierten Ehe aus Williamsburg nach Berlin flieht, und dort ungeahnte Freiheiten kennenlernt. Während sie an der Barenboim-Said-Akademie Musik zu studieren beginnt, reisen ihr Ehemann Yakov und dessen Cousin Moische an, um sie gegebenenfalls mit Gewalt zurückzuholen … www.netflix.com Trailer: www.youtube.com/watch?v=t5mzqg-d_tU
- 4. 2021