Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt

August 21, 2022 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Die laserscharfe Satirikerin erstmals auf Deutsch

Fran Lebowitz ist Kult. Von Andy Warhol weiland entdeckt und zu Amerikas liebster Lästerzunge seit Truman Capote avanciert, wird die Trockenhumoristin seit ihrer Zusammenarbeit mit Martin Scorsese für Netflix im vergangenen Jahr nun auch in Europa gefeiert. Dem Rowohlt Verlag kam es zu, Lebowitz‘ Bestseller „Metropolitan Life“ und „Social Studies“ im Erzählband „New York und der Rest der Welt“ für ein deutschsprachiges Publikum erstmals zusammenzufassen.

Es gibt nichts, worüber die Lebowitz nicht schreibt: Großstadtleben und Manieren, Wissenschaft, Kunst und Fahrstuhlmusik, Leute, Dinge, Orte, Ideen, Körperkult und Kindererziehung, Eitelkeit und beruflichen Ehrgeiz. Und immer tut sie dies cool und komisch, doppeldeutig und hintergründig.

Ihr aphoristischer Wortwitz, ihre laserscharfe Satire ist von sprachlich zeitloser Eleganz. „Salat ist keine Mahlzeit, sondern ein Lebensstil“, ist eine ihrer gern zitierten Weltweisheiten. Und so wie sie in ihren New Yorker Sittenbildern mal als Miniatur, mal als Schlachtengemälde die Marotten ihrer Mitmenschen nachzeichnet, so macht sie sich selbstironisch über die eigenen Spleens her.

Derart beginnt das Buch mit dem Kapitel „Mein Tag: Eine Art Einführung“: „12:35 – Das Telefon klingelt. Ich bin nicht erfreut. Nicht meine Art, aufzuwachen. Es ruft ein Agent aus Los Angeles an. Er ist hörbar braungebrannt. Er interessiert sich für meine Arbeit und meint, wir sollten reden und zwar auf meine Kosten. Ich entgegne, dass ich mir den Trip nach Los Angeles nur als Postkarte leisten könnte.“ Es folgt ein sinnloser Versuch, wieder einzuschlafen, ein verunglücktes Frühstück knapp nach 16 Uhr, ein romantisches Zwischenspiel: „18:55 – Das Objekt meiner Zuneigung erscheint mit einer Topfpflanze in der Hand.“

„21:30 – Ich gehe mit einer Gruppe von Leuten essen, zu denen zwei Models, ein Modefotograf, die Pressefrau des Modefotografen und ein Artdirector gehören. Ich rede fast nur mit dem Artdirector, vermutlich, weil er über den größten Wortschatz verfügt“, um 2 Uhr früh erste Vorbereitungen, endlich zu arbeiten: „Ich nehme mir einen Stift und starre auf das Blatt Papier. Ich kritzle auf dem Rand herum. Sehnsüchtig geht der Blick zum Sofa, das sich doch mühelos ohne Weiteres in ein Bett verwandeln lässt. Ich zünde mir eine Zigarette an. Ich starre auf das Blatt. 4:50 – Das Sofa gewinnt. Wieder ein Sieg für die Möbel.“

Bild: pixabay.com

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Die längsten der Geschichten sind nur wenige Seiten kurz. Sie zünden und verglühen wie ein Feuerwerk, wohl weil sich Übersetzerin und Übersetzer Sabine Hedinger und Willi Winkler mit viel Verve an die Lebowitz’schen Kracher und Raketen herangewagt haben. Großartig ist der Bonmot-Pyrotechnikerin Berufsberatung, fulminant fies und wie erdacht für die derzeitige Weltlage (aber vielleicht ist die ja zu allen Zeiten die gleiche?) ihr diesbezüglicher Fragebogen für Diktatoren – hier in Kurzfassung:

„1. Nichts macht mir mehr Angst als  … a) neue Leute kennenzulernen b) Schlangen c) ein Staatsstreich. 2. Was tue ich am liebsten an einem gemütlichen Sonntagnachmittag? a) Kochen b) Mit Make-up experimentieren c) Menschen aus dem Land weisen. 3. Wenn ich auf eine große Ansammlung Fremder treffe, reagiere ich wie? a) Ich gehe auf jeden zu, der interessant aussieht b) Ich verkrieche mich in eine Ecke, um zu schmollen c) Ich veranlasse eine Säuberungsaktion. 4. Wenn jemand anderer Meinung ist als ich, reagiere ich wie? a) Ich diskutiere ruhig und vernünftig b) Ich bekomme schlechte Laune c) Ich lasse ihn hinrichten.“

Was Wunder, dass die Ausarbeitung von derart Schwerwiegendem in der Selbsterkenntnis enden muss: „Den inneren Frieden gibt es nicht. Es gibt nur Nervosität oder Tod. Der Versuch das Gegenteil zu beweisen, ist inakzeptabel.“ Mag sein, man muss aus der Metropole des Stadtneurotikers sein, um diesen Tief- und Weitblick zu erlangen. Die Seele ist kein weites Land, bei Lebowitz hangelt sie sich durch Hochhausschluchten. Ihre alles und jeden entlarvende Beobachtungsgabe erinnert an die große Österreicherin Inge Morath, nur dass Lebowitz‘ Objektiv ein sehr subjektives ist.

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Egal, ob sie sich über Nagelpflege auslässt – die Begleiterin muss zur Maniküre, um einen abgebrochenen Nagel durch „ein Transplantat“ zu ersetzen, sehr zur Belustigung der spitzfindigen Schriftstellerin, die im Weiteren ganz chirurgisch kein Wort von Nagelbruch bis Nagelbank auslässt. Eine Nagelprobe. Oder – siehe Salat – über die Mahlzeiten im Manhattaner Hochsommer philosophiert, die in „erstaunlich dürftigen Portionen“ serviert werden, wobei sie einen Lkw-Fahrer imaginiert, „der sich im Diner zur Theke vordrängt und lauthals etwas zum Mitnehmen bestellt: ,Zwei Gurkensüppchen – schön kalt; ein Endiviensalat – mit Balsamico-Vinaigrette; und einmal den erntefrischen Spargel – die Hollandaise könnt ihr weglassen.“

Die Stand-Up-Essayistin und eine ihrer verdeckten Sozialstudien. Lebowitz, 1950 in der Kleinstadt Morristown in New Jersey geboren, hinein in eine Familie, „deren literarisches Vermächtnis sich weitgehend auf Ansichtskarten beschränkte“, Nachfahrin ungarischer Juden, von denen schließlich eine nach Ellis Island verschifft wurde, liebt das Gedankenspiel, die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen der Intellektuellen- und Künstlerclique, in der sie sich bewegt, ins Gegenteil zu verkehren: „Denn wer von uns könnte behaupten, seine Lebenserfahrung gleiche einem Seurat-Gemälde, wo es doch eher die Pflanzenschaukel aus Makramee ist.“

Lebowitz‘ Schreibstil ist schnell und präzise. Die meisten ihrer Texte entwickelt sie aus der Ich-Erzählerinnen-Perspektive. Sie geht davon aus, dass ihre Schlussfolgerungen auch anderen hilfreich sind und transformiert also die zur eigenständigen Kunstform gewordene Ich-Umkreisung zur literarischen Psychotherapiesitzung. Und stets gilt: Ein guter Witz ist ein Lebowitz.

Bild: pixabay.com

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Zum Schluss der Autorin Blick auf Europa, auch hier eine Kurzversion: „Mailand ist sehr politisch und voller kommunistischer Graffiti. In Mailand sind alle gut angezogen. – In den zwei Wochen, die ich in Rom verbrachte, wurde fünf Mal gestreikt. Streiken ist in Rom vor allem eine Stilfrage, um Geld geht es weniger. – Cannes: Das Filmfestival und die Kellner auf der Terrasse des Carlton sind damit beschäftigt, Ihre Bestellung nicht aufzunehmen. Doch kaum sind zwei Stunden vergangen, bringt Ihnen der Kellner einen Martini, den ein anderer bestellt hat …

… Sie halten den Drink mit großer Geste hoch und sehen sich suchend um. Ein paar Tische weiter wird jemand anderer Ihr Perrier mit Zitrone in die Höhe halten, und schon sind Sie auf dem besten Weg zu einer neuen Freundschaft oder einem Deal. – Paris: Wenn Sie dorthin fahren, sollten Sie eines nicht vergessen: Egal, wie langsam und deutlich Sie einen Pariser nach etwas fragen, er wird Ihnen unweigerlich auf Französisch antworten.“ Kann man die Dame zwecks Vorkommnis in der nächsten Kolumne bitte nach Wien einladen?

Über die Autorin: Fran Lebowitz arbeitete unter anderem als Taxifahrerin und Putzfrau, behauptet sie, bevor Andy Warhol sie als Kolumnistin für sein legendäres Magazin Interview entdeckte. Später schrieb sie für Mademoiselle und Vanity Fair und fand schnell Zutritt zu den Kreisen um Jerome Robbins, Robert Mapplethorpe oder den New York Dolls. Sie gilt als Stilikone, Verkörperung des New Yorker Witzes und als Expertin für das Leben an sich. Durch Martin Scorseses nach wie vor zu streamende Netflix-Serie „Pretend It’s a City“ (Trailer: www.youtube.com/watch?v=MClMxqD-HNA) wurde sie weltweit bekannt. Ihre Erzählbände „Metropolitan Life“ und „Social Studies“ waren Bestseller in den USA, in diesem Band erscheinen sie erstmals auf Deutsch. Lebowitz lebt ohne Mobiltelefon oder Computer, sie definiert sich selbst als „lesbian“.

Rowohlt Berlin, Fran Lebowitz: „New York und der Rest der Welt“, Erzählband, 352 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Hedinger und Willi Winkler.

www.rowohlt.de           franlebowitz.com

Fran Lebowitz in „The Tonight Show“ von Jimmy Fallon: www.youtube.com/watch?v=Hkc71hM9vT0

  1. 8. 2022

sirene Operntheater online: Die Verbesserung der Welt

Juli 15, 2021 in Klassik, Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Der gesamte Zyklus ab sofort zum Streamen

Die Verbesserung der Welt: 6 – Ikarus. Bild: © Helmut Hussian

Das sirene Operntheater hat vergangenen Herbst beim Festival „Die Verbesserung der Welt“ sieben Kammeropern zur Uraufführung gebracht. Nun sind diese Werke mit Untertitelung online abrufbar. In fast allen Kulturen und Religionen gibt es Tugendreihen, die das Bild eines idealen Menschen beschreiben. Das Besondere an der Tugend ist, dass sie bei aller Dringlichkeit der Empfehlung doch eine freiwillige Handlung bleibt, die das Gute zur persönlichen Entscheidung macht, zum Hinauswachsen über das

Gesetz aus Pflichten und Verboten. Insofern ist die Tugend so etwas wie Schönheit – sie ist nicht notwendig, aber sie ist ein entscheidender Schritt aus dem Minimum des Existierens in die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Geistes. Damit ist sie ein Modellfall der aufgeklärten Souveränität des Menschen, die seine Würde und Persönlichkeit begründet.

Zu den ursprünglich sechs exemplarischen Werken der Barmherzigkeit aus der sogenannten Endzeitrede Jesu bei Matthäus, Hunger stillen, Durst löschen, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, fügte der Rhetoriklehrer Lactantius im dritten Jahrhundert noch die Ehrung der Verstorbenen hinzu und vervollkommnete damit analog zur Zählung der Todsünden die Siebenzahl. Die zunehmende verbale und ethische Verwahrlosung des Diskurses, die Verhärtung gegen jene, denen es schlechter geht, und das Gefühl, mit Europa und der Welt gehe es unaufhörlich bergab, hat Kristine Tornquist und Jury Everhartz dazu inspiriert, ja fast gedrängt, dem etwas Positives entgegenzusetzen. sirene erteilte sieben Autorinnen und Autoren, Komponistinnen und Komponisten den Auftrag, sich eines dieser Werke der Barmherzigkeit anzunehmen.

1 – Ewiger Frieden. Bild: © Armin Bardel

2 – Elsa. Bild: © Armin Bardel

Playlist DIE VERBESSERUNG DER WELT

1. Die Toten begraben: EWIGER FRIEDEN – Text: Kristine Tornquist, Musik: Alexander Wagendristel.
Eine Frachtkiste wird ins russische Bestattungsinstitut geliefert. Es handelt sich dabei um Cargo200, so die Bezeichnung für militärische Tote. Die beiden Bestatter verständigen die Witwe und machen sich auf ihre übliche Arbeit gefasst. Doch dieser Tote, stellt sich heraus, ist kein gewöhnlicher Fall, denn er ist in einem Krieg gefallen, den es nicht gibt. Derart geleugnet von der Staatsmacht sieht die Witwe keinen Bedarf an einem Begräbnis und der Leichnam steigt aus dem Sarg. www.youtube.com/watch?v=ASkHq2GZsqA
2. Die Nackten bekleiden: ELSA – Text: Irene Diwiak, Musik: Margarete Ferek-Petric.
Drei halbwüchsige Schüler wetten, wer von ihnen über die Ferien eine Frau dazu bringt, sich auszuziehen. Ein Foto soll es beweisen. der verwöhnte Nicolas löst diese Aufgabe wie gewohnt mit Geld. Er überredet die verschuldete Putzfrau Elsa, sich gegen Bezahlung vor ihm auszuziehen und fotografieren zu lassen. Eine moderne Paraphrase zu Schnitzlers Fräulein Else. www.youtube.com/watch?v=bSJd01PmViY

3 – Der Durst der Hyäne. Bild: © Armin Bardel

4 – Der Fremde. Bild: © Helmut Hussian

3. Den Durstigen zu trinken geben: DER DURST DER HYÄNE – Text: Kristine Tornquist, Musik: Julia Purgina.
Die kongolesischen Bauern Rosine und Mamadou haben ihre Kuh verloren – sie hat das Wasser des Flusses getrunken, in den die Kobaltmine ihre Abwäser leitet. Von der Mine ist keine Entschädigung zu bekommen, deshalb gehen sie zum traditionellen Zauberer, der ihnen verspricht, das Ungleichgewicht wieder zurechtzurücken, den Fluss zu reinigen und den Bauern ihre Kuh wiederzubeschaffen. www.youtube.com/watch?v=370SwYUX1CM
4. Die Fremden aufnehmen: DER FREMDE – Text: Martin Horváth, Musik: Gerhard E. Winkler.
Ein Fremder bittet um Unterschlupf. Der Vater der Familie nimmt den Fremden auf, er beruft sich auf das Gesetz der Nächstenliebe. Der Sohn ist empört, denn das Beherbergen eines Fremden ist gegen das Gesetz. Die Mutter ist von der fremden Kultur irritiert und mag vor allem nicht, dass der Fremde und die Tochter sich näherkommen. Die blinde Tochter allein sieht den Fremden mit den Augen des Herzens – vorurteilslos und mitfühlend.www.youtube.com/watch?v=QtZe2jd8ud4

5 – Amerika oder die Infektion. Bild: © Armin Bardel

7 – Die Verwechslung. Bild: © Kristine Tornquist

5. Die Kranken pflegen: AMERIKA ODER DIE INFEKTION – Text: Antonio Fian, Musik: Matthias Kranebitter.
Die Ärzte sind besorgt, die beiden alten Patientinnen leiden an einer Infektion. Frau Hinterleitner isst nichts mehr. Und Frau Obermaier ist verwirrt und phantasiert. Nur der Besuch ihres Sohnes, eines erfolgreichen Kochs in Amerika, von dem sie immerfort spricht, könnte ihr helfen. Doch der Sohn ist nicht aufzufinden. So wird ein junger Koch aus Ottakring überredet, für Frau Obermaier den Sohn zu spielen. www.youtube.com/watch?v=5NwndJzrCmo
6. Den Hungrigen zu essen geben: IKARUS – Text: Thomas Arzt, Musik: Dieter Kaufmann.
Victor, der junge Produktentwickler der Firma Ikarus, hebt ab. Auf seinem Höhenflug verliert er den Boden unter den Füssen: weder hat er Zeit für seine schwangere Freundin Marie und seinen Freund Alexander, noch für den Bettler, der vor dem Eingang des feinen Restaurants, in dem Victor mit seinen Geschäftspartnern diniert, hungert. Doch als die Erfolgskurve sinkt und Victor zur Umkehr oder vielmehr zum Absturz zwingt, findet er sich zuletzt gerade dort – als hungriger Habenichts vor der verschlossenen Tür. www.youtube.com/watch?v=_-HKpGnBpuc
7. Die Gefangenen besuchen: DIE VERWECHSLUNG – Text: Helga Utz, Musik: Thomas Desi.
Der junge Gustav sehnt sich nach Freiheit, er kritisiert das System der DDR. Als Systemfeind wird festgenommen. Während sein Vater hilflos verzweifelt, macht sich seine verwirrte Grossmutter auf, um Gustav im Gefängnis zu besuchen. Ihr Besuch erscheint den Beamten verdächtig und Gustav wird verprügelt. Er landet schwer verletzt in der Krankenstation des Gefängnisses bei der sanften Krankenschwester Pauline. www.youtube.com/watch?v=HYz0Lp0x4no&t=7s

Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43890           www.sirene.at           www.sirene.at/video

15. 7. 2021

Academy Awards Streaming: Neues aus der Welt

April 7, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Paul Greengrass‘ Western ist nominiert für vier Oscars

Captain Jefferson Kyle Kidd will Johanna zu ihren Verwandten bringen: Tom Hanks und Helena Zengel. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Zwar in keiner der Hauptkategorien, aber immerhin in vieren ist Paul Greengrass‘ Westerndrama „Neues aus der Welt“ mit Tom Hanks und Helena Zengel nominiert. Am 25. April, bei den Academy Awards 2021, könnte es punkto Beste Kamera für Dariusz Wolski, Bestes Szenenbild für David Crank und Elizabeth Keenan, Beste Filmmusik für James Newton Howard und Bester Schnitt für Oliver Tarney und Team „and the Oscar goes to“ heißen. Hier noch mal die Filmkritik vom Februar 2021:

Die Frohe Botschaft im Vorhof der Hölle verkünden

Eine Kinopremiere blieb Regisseur und Drehbuchautor Paul Greengrass‘ Westerndrama „Neues aus der Welt“ Corona-bedingt versagt, und so kam Netflix die Ehre zu, die Produktion der Universal Studios ins Programm zu nehmen. Oscar-Preisträger Tom Hanks und Helena Zengel, die bereits in „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt mit ihrer schauspielerischen Stärke beeindruckte (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34792), fahren als Sezessionskriegsveteran und Waisenmädchen durch tief gespaltene Vereinigte Staaten.

Ein Western als Gegenwartskritik. Diesbezüglich angesprochen auf „Lügenpresse“ und Fake News, auf #BlackLivesMatter und Verschwörungstheorien, Stickwort: Mauer zu Mexiko, sagte ein schmunzelnder Greengrass zu deadline.com, er hätte den Roman von Paulette Jiles gelesen und seine „Wünschelrute“ habe eben reagiert. In seinem epischen Werk der wenigen Worte schickt er Tom Hank als ehemaligen Südstaaten-Helden auf ein Himmelfahrtskommando; dies das Bild, das dieses Roadmovie bestimmt:

Mitten im Post-Bürgerkriegs-Purgatorium steht Jefferson Kyle Kidd im Wortsinn mit dem Rücken zur Wand, umringt von einem volltrunkenen Lynchmob verrohter Büffelschlächter, Mexikaner-Mörder, Schwarzen-Killer und Indianer-Hasser. In den Augen der Männer kocht heiß die durch das Unionsheer erlittene Schmach, die Demütigung durch den Norden, als wär’s nicht schon fünf Jahre her und immer noch hat der Feind in der Heimat das Sagen, ein wahrer Hexersabbat, ein Teufelstanz ist in Erath County zugange.

Herr und Meister über dies gesetzlose Niemandsland ist ein diabolischer Uncle Sam namens Mr. Farley, Darsteller ist Thomas Frances Murphy, der seine „Familie“ mit eiserner Faust befehligt, und damit dies auch so bleibt Kidd und Johanna mit gezogener Waffe in seine Stadt bittet … Johanna? Ah ja! Zurück auf Anfang: Als gewesener Konföderierten-Captain Jefferson Kyle Kidd kutschiert Tom Hanks im Jahr 1870 kreuz und quer durch Texas, um sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen, indem er Unterhaltsames, Wundersames, Grausames aus den aktuellen Zeitungen vorliest – im Schummerlicht der Gaslaterne und mit Vergrößerungsaugenglas fürs Kleingedruckte.

Er berichtet vom Eisenbahnbau, von tödlichen Epidemien und Abenteuern aus fernen Welten, für sein leseunkundiges Publikum meist hochdramatisch aufbereitet – und mit Cheers! und Boohs! und „Texas first!“ bedankt, letzterer ein Ruf, bei dem die Yankee-Soldaten am Eingang in Habtachstellung gehen. Kidd bringt den Bildungsfernen im Wilden Westen laut Titel „Neues aus der Welt“, Infotainment für einen Dime, Nachrichten von jenseits des Horizonts samt den „Federal News“, die hier keiner hören mag, die Forderung von Präsident Ulysses S. Grant, in Texas endlich die Sklaverei abzuschaffen, heißt: die Ratifizierung des 13. Zusatzartikels der Verfassung, ein Muss, damit die Region wieder Teil der Union und ein Bundesstaat werden kann.

Captain Kid und Johanna wehren sich … Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

… gegen Almays Männer: Michael Angelo Covino. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Leonberger: Neil Sandilands und Winsome Brown. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Abschiedsschmerz: Helena Zengel und Tom Hanks. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Da, eines Tages auf dem Weg, ein umgestürzter Wagen, ein erhängter Schwarzer, der wohl auf Beamte der Indianerbehörde hoffte, aber offensichtlich Gegnern der Sklavenbefreiung in die Hände fiel, an die Brust geheftet ein Zettel: „Texas sagt Nein! Das ist das Land der Weißen“, und ein blondes Mädchen, gekleidet wie eine Indianerin, die Kidds Fragen in schlechtem Deutsch oder perfektem Kiowa beantwortet.

Zikade nennt sich die Kleine, als die Helena Zengel den großen Tom Hanks ziemlich an die Wand spielt, und einem Schreiben entnimmt er, dass „Johanna Leonberger“, deren deutschstämmige Siedler-Eltern vor Jahren von den Kiowa abgeschlachtet und sie als Kleinkind vom Stamm entführt worden waren, zu Verwandten nach Castroville gebracht werden soll. Die Aufmerksamkeit des internationalen Filmbusiness‘ ist der Zwölfjährigen mit diesem Auftritt als Findelkind gewiss. Zengel schlüpft in die Rolle der doppelt verwaisten, denn nun haben die Weißen ihre Kiowa-Eltern getötet, der Sprachbarrieren wegen fast stummen Johanna wie diese in ihr Lederkleid.

In den Augen den wissenden Blick einer jahrhundertealten Weltenkenntnis, das Temperament, die Temperatur wechselnd von Verletzlichkeit zu Verzweiflung, von Sturheit zu Trotz zu einer stolzen Eiseskälte, mit der die junge Frau der First Nation die Errungenschaften der Neuen Nation ablehnt, Rüschenkleidchen, Essbesteck etc., derart ist Zengel die Sensation des Films. Greengrass braucht Johannes Story nicht in Flashbacks erzählen, er erzählt sie einzig und allein über Helena Zengels Gesicht.

Welch ein Sittenbild. Rebellen unterm Blood-Stained Banner auf Kriegspfad gegen die Washingtoner Gesetzeshüter – das Hinterland, durch das Kidd zieht, fühlt sich damals wie heute vom Kapitol verraten -, die Native Americans bis zur Grenze des Genozids verfolgt, eine Besatzungsarmee, der alles egal ist, solang der Eisenbahnbau voranschreitet, eine verheerte, verkehrte Welt – und zwischendrin Tom Hanks‘ Kidd, der wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind kommt.

Denn niemand will die „Wilde“, keiner fühlt sich zuständig. Bei diesem selbstbestimmten, aufmüpfigen Kind endet die christliche Nächstenliebe. Kidd und Johanna, die keiner der sich hysterisch befehdenden Gruppen zugehören, mussten im Lone Star State zueinanderfinden, ihre Annäherung erfolgt in der Einsamkeit der weiten Prärie, womit „Neues aus der Welt“ alle Westernelemente hat, die’s braucht. Er lehrt sie „Zivilisation“, sie bringt ihm die Natur in ihrer Ganzheit und deren Schützenswürdigkeit nahe.

Winsome Brown. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios.

Tom Hanks. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios.

Helena Zengel. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios.

Hanks wirft sein komplettes Guter-Kerl-Sein in die Waagschale, wie ein Prediger verkündet Vorleser Kidd Greengrass‘ Frohe Botschaft im Vorhof der Hölle: Nur wenn alle bereit sind, einander zuzuhören, voneinander zu lernen, kann Frieden entstehen. Allein Humanität und Respekt vor allem Lebendigen – und das inkludiert Mutter Erde – machen aus den Schlacht- wieder Erntefelder. Schade, dass diverse FilmkritikerInnen diesen Gedanken alsbald als „totgeritten“ empfanden.

Greengrass bedient sich gleichnishafter Szenen: In Dallas, wo man erfährt, dass Witwer Kidd durchaus kein Heiliger ist, da er in Saloonbesitzerin Miss Gannett, Elizabeth Marvel, eine Bettgenossin hat, will ihm der Schurke Almay mit seinen Kumpanen, schön sinister: Michael Angelo Covino mit Clay James und Cash Lilley, Johanna für 50 Dollar abkaufen. Die Kunde von der verwaisten „Rothaut“ aus Wichita Falls hat bereits die Runde gemacht, die Männer wollen sich mit einem exotischen Spielzeug vergnügen, erst „die Blauen“ beenden die Schlägerei.

Dass Almay blutige Rache schwört, führt zu einer der wohldosierten Actionszenen im Film, ein Shootout, bei dem sich Johanna als erfahrene Kämpferin erweist. Die Bildmacht, mit der Kameramann Dariusz Wolski zu überwältigen weiß, ist überbordend. Vom Himmel her fängt er entgrenzende Panoramen ein, Landschaftsgemälde von einem Viehtrieb oder einem Planwagentreck, alle unterwegs dorthin, wo das Gras grüner sein soll. Wolski drückt sich im Halbdunkel an Türöffnungen mit freiem Blick auf Liebeslager vorbei, er rast mit einer sich überschlagenden Kutsche den Berg hinunter und duckt sich bei Schusswechseln hinter Felsen.

„Neues aus der Welt“ ist ein Kinostart von Herzen zu wünschen, auf der großen Leinwand wird das alles besser zur Geltung kommen: die Verfolgungsjagd durch die potenziellen Kidnapper Johannas, die Schießerei und die Prügelei. Das macht Tempo, bevor sich Raum und Zeit auf dem Marsch unter gleißender Sonne wieder zerdehnen. Wie ein Geistbild wirkt Johannas Gang ins Haus der Toten; Kidd und sie finden eine zerstörte Kiowa-Siedlung; Johanna entdeckt in Chaos und Gerümpel eine Strohpuppe und behält sie. Nur wer sich erinnert, kann nach vorne blicken, sagt sie im Kiowa-Englisch-Deutsch-Gemisch, das ihre gemeinsame Sprache mit Kidd wird.

Im beredten Schweigen finden sich Kidd und Kind. Nur einmal verlieren sie einander, in einem Sandsturm, der auf zauberische Art und Weise einen Indianerstamm auf dem Zug in die Reservate materialisiert, Schemen von zermürbten Gesichtern und zerlumpten Gestalten – und wieder verweht. Noch ein Geistbild, und kein stolzer Krieger, nirgendwo. Message kann Greengrass auch in der eingangs beschriebenen Farley-Szene. Der Clan-Chef will Kidd als Propagandist seiner zu Heldentaten stilisierten Gräueltaten missbrauchen.

Der Indianerbeamte als Opfer eines Lynchmob. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Im Wagentreck: Helena Zengel und Tom Hanks. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Die Metropole Dallas anno 1870. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Umzingelt von Mr. Farleys „Familie“. Bild: Bruce Talamon – © 2020 Universal Studios. All Rights Reserved.

Doch statt aus Farleys County-Postille vorzulesen, beginnt Kidd mit einer Parabel aus Pennsylvania. Dort hätten sich nach einem schweren Minenunglück einige wenige der lebendig Begrabenen aus der Tiefe ans Licht, in die Freiheit gekämpft, worauf die Kohlekumpel gegen die schlechten Arbeitsbedingungen protestierten, ja, sogar eine Gewerkschaft gründeten! Was Wunder, dass Mr. Farley sich alsbald mit einem Aufstand in den eigenen Reihen konfrontiert sieht. Kurioser lässt sich das „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ kaum illustrieren.

Bleibt: Castroville, wo Kidd Johanna den seltsamen, bigotten Onkel und Tante Wilhelm und Anna Leonberger, Neil Sandilands und Winsome Brown, aushändigt [um ein Haar hätte man geschrieben: ausliefert]. Sie mögen das traumatisierte Kind, das Menschlichkeit und Wärme braucht, in seinem Wissensdrang befördern und ihm Bücher geben, empfiehlt Kidd. „Sie muss arbeiten“, befindet der Onkel, und da das nicht funktioniert und sie immer wieder wegläuft, wird Johanna wie ein Tier mit einem Strick an einen Pfosten gebunden. Zum Glück kommen Kidd, der seit Tagen unterwegs nach San Antonio ist, Zweifel, ob seine Entscheidung Johanna den Leonbergers zu überlassen richtig war. Die wilde Waise hat sein vom Krieg gebrochenes Herz kuriert …

Mit „Neues aus der Welt“ ist der Zuschauer, die Zuschauerin unterwegs in einer Welt der Weißen, und es wird an keiner Stelle so getan, als hätten die Vertriebenen oder eben noch Versklavten schon Anspruch auf einen Platz darin bekommen. Präsent sind sie dennoch, die Schuld steht verdrängt im Raum. Das Elend der vermeintlich Privilegierten allerdings auch. Nur schlimmste Verbrecher, wie Almay und Mr. Farley, sind von Grund auf böse, allen anderen gewährt Greengrass eine zweite Chance.

Trotz Zeitbezug vermeidet „Neues aus der Welt“ tagesaktuelle Predigten und lässt stattdessen lieber Tom Hanks seine ganze Gravitas in der ersten (!) Wildwest-Variante seines Good American ausspielen. „Ich verstehe euch ja“, sagt der vernunftbegabte Kidd zu seinen Zuhörern, „wir alle leiden“, doch es könne nicht länger um den Nord-Süd-Konflikt gehen, man müsse endlich eins werden. Dass Kidd nach 1865 auf der Verliererseite und nicht auf der der Gewinner steht, ist ein Kunstgriff von Autorin Jiles, den Hanks mit breitgekautem Texas-Idiom zu bedienen weiß.

Zu Helena Zengel entwickelt der Hollywood-Star eine natürlich wirkende distanzierte Nähe, die den Film mühelos über zwei Stunden trägt. Des alten weißen Mannes und des sich indigen fühlenden Mädchens vorsichtige, versöhnliche Annäherung und ihre stoisch-melancholische Heilsgeschichte ist genau der Western, den die Welt gerade braucht.

Trailer dt./engl.: www.youtube.com/watch?v=yGod2iwZQCs           www.youtube.com/watch?v=ZfrO7za1MBY           www.netflix.com

BUCHTIPP:

Sebastian Barry: „Tage ohne Ende“ und „Tausend Monde“: Die Bürgerkriegssoldaten Thomas McNulty und sein Geliebter John Cole adoptieren die Indianerwaise Winona – und finden in all dem Horror ein stilles Glück (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=31215); in der Fortsetzung leben sie glücklich auf einer Tabakfarm in Tennessee – doch alte Feinde lassen nicht lange auf sich warten (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=42818).

7. 4. 2021

Goldie Goldbloom: Eine ganze Welt

April 6, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Im Clinch mit Gottes Regeln

„Ist das nicht aufregend?“, fragt Hebamme Val die schwangere Frau. Surie zögert. „Nein“, sagt sie. „Ich habe mich darauf gefreut, endlich ein bisschen Zeit für mich zu haben.“ Sie hätte aber doch zehn Kinder und zweiunddreißig Enkelkinder, was machten da ein, zwei zusätzliche schon groß aus, meint die Geburtshelferin. „Surie antwortete leise, dass ein einziges Kind eine ganze Welt sei …“

Surie Eckstein ist die Protagonistin in Goldie Goldblooms neuem Roman „Eine ganze Welt“, „eine Frau, von der die anderen Leute glaubten, sie wüssten alles über sie – Ausländerin [denn zu dieser macht sie sich freiwillig im eigenen Land], religiöse Fanatikerin, ein anachronistischer Witz, eine ungebildete Mutter“, die kaum englisch, sondern jiddisch spricht, die unter der obligaten Perücke kahlgeschoren ist und den Körper verhüllende Kleidung trägt.

Surie lebt in Williamsburg, New York, als wertgeschätztes Mitglied der chassidischen Gemeinde, die anderen, das sind die jenseits der Synagoge in der Kent Street, die allzu leicht ein Urteil über das fällen, was ihnen „fremd“ ist. Das jüdische Brooklyn liegt für sie im Nirgendwo eines gewesenen Jahrhunderts, ein Schtetl, wie’s ihnen

nur in Barbra Streisands „Yentl“ gefällt. Den ultraorthodoxen Gläubigen sind die Vorurteile der Yuppie-Hood freilich einerlei, jetzt aber fürchtet Surie den Schuldspruch ihrer nächsten Nachbarschaft. Im „knarzenden Alter“ von 57 Jahren erwartet sie Zwillinge, welch ein Regelverstoß! Im Gegensatz zu Ehemann Yidel, dem 62-jährigen Sofer des Tempels, dessen schlimmster es ist, abends unter der Dusche zu singen. Sie hat den Brustkrebs überwunden, und die beidseitige Mastektomie. Soll sie die bevorstehende Niederkunft als nahezu so wundersam preisen, wie die von Sarah, Abrahams Frau?

Die Schande! Der Skandal! Ein Sex-Skandal, würde die Geburt doch bekanntmachen, dass Yidel sie „über das normale Alter hinaus“ begehrenswert findet. Nach der Geburt des jüngsten Sohnes Chaim Tzvi, als sie es bereits „ungefährlich“ wähnten, hatten sie die Betten zusammengeschoben und kostbare Tage einer stillen Innigkeit waren abgebrochen. „Die meisten Mütter in der Gemeinde hatten mit Anfang vierzig den Laden dichtgemacht“, nun würden sie beim Anblick des „sexbesessenen Flittchens“ erröten – und alle Heiratschancen für ledige Kinder und Kindeskinder wären auf ewig zunichte gemacht …

Mit solch frechen, flotten Formulierungen führt die Chicagoer Autorin Goldie Goldbloom, sie selbst chassidisch, achtfache Mutter, queer und bekannte Streiterin für LGBTQ-chassidische Jugendliche, in Suries Gedanken- und eine den meisten unbekannte Welt ein, zu deren Erklärung es ein Glossar und eine Eckstein’sche Familientafel braucht. Eine Welt, in der einzig die ein Leben lang die Gebote Gottes studierenden Männer das Sagen haben: „Nuschim, zeyt schtil!“ – und trotzdem die ungarische Holocaust-Überlebende und Urgroßmutter Dead Onyu das letzte Wort hat. Und im Gegensatz zur jüdisch-amerikanischen Literatur von Philip Roth bis Chaim Potok erfährt Surie keinen Glaubensverlust.

Gleich einem weiblichen Hiob liebt sie Gott, sie kämpft nicht mit IHM, sondern jenen restriktiven Regeln, die ihr mehr und mehr von ihren Mitmenschen diktiert und deshalb ablehnenswert scheinen. Dies trifft vor allem auf den Umgang der Gemeinde mit Suries Sechstgeborenem Lipa zu, geboren 1981, gestorben 2003, der nach Kalifornien ging, eigentlich dorthin vertrieben wurde. Eine unausgesprochene Verbannung, ausgesprochen wegen Lipas Homosexualität, das Problemkind, das in Manhattan der-Teufel-weiß-wen datete und sich mit HIV infizierte. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Lipa in seinem Ghetto nie von Aids gehört hatte, Goldbloom schreibt, dass er, der das Wort schwul gar nicht kannte, also auch „Kondome für Gebiete, über die mehrere Staaten herrschten, hielt“.

„Surie zog Gummihandschuhe und einen Mundschutz an und warf das Geschirr, von dem er aß, in den Ofen im Keller.“ Als der Anruf kam, „hielt Yidel das Telefon weg von seinem Ohr, weil ihm nicht klar war, wie die Infektion weitergegeben wurde“. Die Eltern müssen den Leichnam des Sohnes in San Francisco identifizieren, ein ausgemergelter Körper, 35 Kilo schwer und voller Drogeneinstiche. Lipa hatte sich im Golden Gate Park erhängt, das wird sich Surie nie verzeihen, dass sie ihm die goldbestickte „girly Jarmulke“ und anderes und damit ihre Empathie vorenthielt, doch immer noch, wenn sie mit Yidel über Lipa reden will, verlässt der fluchtartig das Haus. Das wird sie ihm nicht verzeihen.

Diese 288 Seiten währende Schuld, diese offene Wunde unter all den Eckstein’schen Narben, ist die eigentliche Story in „Eine ganze Welt“, nicht die späte Schwangerschaft. Eine ganze Welt, das sind zum Ersten die ungeborenen Babys, dann die gesamte Familie, schließlich Hasidic Williamsburg. „Wenn ich noch einmal die Chance hätte, würde ich ihn nach Hause holen und im bequemsten Bett schlafen lassen, und ich würde zu ihm sagen, dass er seinen Freund mitbringen soll, und meine Kinder und Enkelkinder sollen ihn anlächeln und nie damit aufhören. Weil Elternliebe nie aufhört, nie aufhören sollte“, sagt Surie zu Val.

Die Beziehung der orthodoxen Jüdin mit der unkonventionellen Hebamme wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Während die Krankenhausärzte einerseits über die ihnen medizinischen wie medialen Ruhm sichernde Sensation jubeln und sich andererseits mittels Aktenvermerken „für den Fall, dass etwas schiefgeht“ absichern, Stichwort: Hochrisikoschwangerschaft, während Surie über einen Abbruch derselben, der nicht rabbinisch sanktioniert wäre, nachdenkt, und sich ihr ob dieses sündigen Denkens der Magen umdreht, erkennt Val das Talent der vielfachen, in Geburten erfahrenen Mutter, auf ängstliche Schwangere beruhigend zu wirken.

Surie, die Yidel nach wie vor nichts gesagt hat, weil sie befürchtet, er wäre zornig und würde sie nicht länger lieben – Dead Onyu, der sie sich anvertraute, freut sich zwar schon darauf, „die kleinen Bubeles in ihren identischen Sachen“ und im brandneuen, von ihr gestifteten „europäischen“ Kinderwagen durch den Bezirk zu kutschieren, die älteste Tochter Tzila Ruchel aber war so angewidert von Mutters Gräueltat, dass Surie befürchtete, sie werde sich übergeben -, Surie also wird Laienhebamme im Krankenhaus. Für sie ein Grund, Yidel auszuweichen, der ihre wachsende Leibesfülle den Wechseljahren zuschreibt, für ihn ein Grund, seinen Freunden zu schildern, wie sehr sich seine Frau bei Bikur cholim engagiere – es gibt keine größere Mizwe!

Lügen, Schwindeleien, Notlügen, zu denen Surie nun regelmäßig Lipa erscheint, die Fäuste vor Wut geballt, den Mund offen, als würde er schreien. Doch Goldbloom wandelt die Momente des weiblichen Gehorsams in winzige Momente der Wahl, und Surie versteht die Bedeutung dieser kleinen Entscheidungen. Sie emanzipiert sich auf ihre Art, berät eine vierzigjährige Anwältin, die über Schwangerschaftsstreifen klagt, macht einer jungen Mexikanerin nach der sechsten Fehlgeburt Mut. Die Beschäftigung wird zum Beschwichtigungsmechanismus für Suries eigene Situation.

Bild: pixabay.com

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Und plötzlich sitzt sie als Jiddisch-Dolmetscherin der Teenager-Tochter einen Nachbarin gegenüber, geschwän- gert von jenem Schulpsychologen, zu dem Surie Lipa schickte – was diesen weiland in Panik versetzte. Surie, die keinen Kopf mehr dafür hat, mit ihren Freundinnen die beste Fleckentfernung und das schmackhafteste Kochrezept zu diskutieren, beschließt zu handeln. Sie sucht die Mutter des Mädchens in der Division Avenue auf – „On Division“ ist der Original-Titel des Romans -, die nicht öffnen will. „In der Mikwe würden die Männer am Erew Schabbes sagen, dass Rebezn Eckstein die Tür einer Frau eingetreten hatte“, doch Surie will ihre Schutz- befohlene vor einem Schicksal, wie es Lipa ereilte, ein „verlorenes Kind“ der Gemeinde zu werden, bewahren.

Dies der Goldbloom größte Abkehr von der jüdisch-amerikanischen Autoren-Tradition, die sich gemeinhin auf die persönliche Befreiung konzentriert, Asher Lev mit Kunst, Alexander Portnoy via Sex. Suries Befreiung aber soll der Weg zu einer gesellschaftlichen, sozialen, zeitgeschichtlichen sein. Statt dass Goldbloom Surie von ihrer Gemeinschaft befreit, bittet Surie ihre Gemeinschaft sich von ihrem schlimmsten Selbst zu befreien. Goldbloom kann dies genau deshalb tun, weil Surie den chassidischen Regeln folgt, Regeln, die ihr Dasein heiligen, wobei sie aber langsam und schmerzhaft akzeptiert, dass sie umso weniger bedeuten, je wirkmächtiger sie Lipas Leben zur Hölle gemacht haben.

Diese Akzeptanz ermöglicht es Surie, Regeln mit Bedacht zu brechen. Sie wägt ihren Ungehorsam sorgfältig ab. Persönliche Freiheit wird für Surie wichtig, aber nicht in dem, was ihr Mann das gojische „Ich, Ich, Ich“ nennt; sie befreit sich für die Menschen, die sie liebt, wie sie Gott liebt – und auf die Leserin strahlt Hoffnung … Das alles erzählt Goldie Goldbloom nicht ohne Humor, nicht ohne jüdischen Witz. So oft man über die bigotte Verbohrtheit der Williamsburger den Kopf schüttelt, so oft muss man auch schmunzeln.

Ob Surie ihr Hebammen-Lehrbuch im Wäschekorb versteckt, wo Yidel es findet und „das schmutzige Ding“ in den Ofen wirft, worauf Surie am nächsten Tag ein neues Exemplar mit nach Hause bringt: „Wenn jemand außerhalb der Familie erfuhr, dass sie sich zur Hebamme ausbilden ließ, würde keine Schule in ganz Williamsburg mehr ihre Kinder aufnehmen. Niemand würde mehr Yidel damit beauftragen eine neue Thorarolle zu schreiben. Ein Stein würde durch ihr Fenster fliegen. Schulfreunde würden nicht mehr zum Spielen kommen. Das Fleisch vom Metzger wäre zu fett, und die Papiertüte würde auf dem Nachhauseweg zerreißen …“

Ob Ruchel unter der Matratze ihres jüngeren Bruders Mattis gewisse Heftchen findet, Mattis, um dessen Schidech sich die Mutter längst kümmern sollte, und der sich nun als siebzehnjähriger „Leptup-Pornograph“ entpuppt, wo bereits der Besitz eines solchen satanischen Geräts den Ausschluss aus der Schil bedeutet. Mattis wandelte auf Lipas Spuren, er schämt sich ein Chasside zu sein und will lieber als hipper New Yorker leben!

Ob die allzu intelligente Enkelin Miryam Chiena Bubbie Suries Aufklärungs- und Geburtshilfe-Illustrationen findet und erklärt haben will, „etwas, worüber kein anderes Mädchen Bescheid wusste, und das Kind dann wieder in die Schule zu schicken, sei doch, als würde sie ein Geschoss abfeuern …“ Gern hätte man mehr gewusst über die arme Gittel, die Tochter, mit deren missglückter Hochzeit das Buch beginnt, mit einem Bräutigam, „der sich die Schläfenlocken schnitt, der eine lange Hose statt der würdevollen dreiviertellangen mit den weißen Kniestrümpfen trug“ – und seine Mutter kein Kopftuch! Und sein billiger Schtrajml – alles tropfte vor Modernität!

Inwieweit Surie die chassidischen Lebensgewohnheiten und das 21. Jahrhundert in sich vereinen und mit ihrem Glauben vereinbaren kann, gilt es selber nachzulesen. Die Wehen setzen ein, der noch immer ahnungslose Yidel ist in der Schil, wegen Schawuot darf nicht telefoniert werden, auch nicht mit Val, und weil keiner die Schabbat-Schaltung des Lichts geändert hat, ist es in der Wohnung stockdunkel. Ihre Unwahrheiten, ihre Heimlichkeiten drohen Surie zum Verhängnis zu werden. „Val glaubte, dass Geheimnisse etwas über Charakterstärke aussagten. Jetzt wusste Surie, dass das nicht stimmte. Geheimnisse waren die Wurzel von Schwäche …“

„Eine ganze Welt“ ist ein wunderbares Buch voller Weisheit über den Unterschied zwischen dem Leben, wie es sein sollte und wie es ist, über Ressentiments hie wie da, und wie es sie zu überwinden gilt. Goldie Goldbloom zeigt auf, wie schwierig es sein kann, sich selbst zu akzeptieren, sich in Selbstreflexion zu üben, sich selbst zu erkennen, und wie das, was – nicht nur chassidischen – Frauen als Stabilität und Sicherheit vermittelt wird, oft nur zu deren Käfighaltung führt. Ihr Roman gleicht einem Plädoyer für Mitmenschlichkeit, fürs Miteinander, für die Gleichheit aller Menschen, einem Plädoyer dafür, dass Regeln für Menschen, nicht die Menschen für die Regeln gemacht sind. Dem deutschsprachigen Feuilleton ist dieses literarische Kleinod weitestgehend entschlüpft, drum sei hier noch ein Wort gesagt: Lesenswert!

Über die Autorin: Goldie Goldbloom, geboren 1964 in Perth, Australien, wurde für ihren ersten Roman „The Paperbark Shoe“ mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman „Eine ganze Welt“ war in den USA ein großer Erfolg, wurde mit dem Jewish Fiction Award 2020 geehrt und erscheint in zahlreichen Sprachen. Goldbloom lebt als Chassidin in Chicago und hat acht Kinder.

Hoffmann und Campe Verlag, Goldie Goldbloom: „Eine ganze Welt“, Roman, 288 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube.

hoffmann-und-campe.de           www.goldiegoldbloom.com

FILMTIPP:

Der Netflix-Zweiteiler „Unorthodox“ von Regisseurin Maria Schrader erzählt von der 19-jährigen Chassidin Esty, die vor einer arrangierten Ehe aus Williamsburg nach Berlin flieht, und dort ungeahnte Freiheiten kennenlernt. Während sie an der Barenboim-Said-Akademie Musik zu studieren beginnt, reisen ihr Ehemann Yakov und dessen Cousin Moische an, um sie gegebenenfalls mit Gewalt zurückzuholen … www.netflix.com   Trailer: www.youtube.com/watch?v=t5mzqg-d_tU

  1. 4. 2021

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Januar 8, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

The Good, the Bad und die dazwischen

„Das Gefängnis verschlingt uns, es verdaut uns“, berichtet Paul Hansen über den unangenehmen Geruch des Eingesperrtseins: „Mief kasteiender schlechter Gedanken, sich überall ausbreitende Ausdünstungen schmutziger Einfälle, säuerliche Miasmen alten Bedauerns …“

Paul, im Jahr 2008 Insasse der kanadischen Haftanstalt Montreal, Boulevard Gouin Quest Nummer 800, am Rand des Rivière des Prairies, 1357 Häftlinge, gezählt ohne die zahlreichen Mäuse und Ratten, bis 1962 durch den Strang hingerichtete: 82, ist der Ich-Erzähler in Jean-Paul Dubois‘ jüngstem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, der sich 2019 überraschend und durchaus zurecht im finalen Rennen um den Prix Goncourt gegen die belgische Autorin Amélie Nothomb durchsetzte (Rezension von deren Nominee „Die Passion“: www.mottingers-meinung.at/?p=42473).

Wie Nothomb beherrscht Dubois die Kunst, die großen Fragen, die existenziellen Themen des Lebens in Romane zu gießen, doch malt sie bevorzugt mit kräftigen Farben, sind seine Arbeiten gleich

Aquarellen mit getuschten Konturen. Der langjährige Journalist Dubois ist ein exakter Beobachter, der seine Plots und Protagonisten stets entlang der Realität entwirft, und so ist auch „Jeder von uns …“, dies so intensive wie stille Buch, dies hingeschriebene Innehalten, zunächst eine Jedermanns-Geschichte wie dem Chronik-Teil entliehen. Im abgeklärt-lakonischen Tonfall eines Mannes, der nichts mehr sein Eigen nennt und ergo nichts zu verlieren hat, schildert Paul seinen nunmehr zweijährigen Alltag hinter Gittern.

Was ihn in diese Situation gebracht hat, was tatsächlich passiert ist, Paul weiß es ebenso wenig wie die Leserin, der Leser, erst 250 Seiten später werden sie’s gemeinsam erfahren. Sobald Paul sich nämlich wieder erinnern kann. Derweil aber müht sich das Gedächtnis um Rekonstruktion der Straftat, hört Paul ganz hinten im Gehirn „alle Knochen brechen“, gehen seine in Literatur festgehaltenen Gedanken im Kreis.

Die tragikomisch anrührenden rund um seinen Zellengenossen Patrick Horton, ein Hüne von einem Hells Angel, der bestreitet, ein Mörder zu sein. Patrick, der von unberechenbar über aberwitzig bis leutselig die ganze Skala menschlicher Stimmungsschwankungen bespielt, ein Bursche, der mal ein Viertel der Stadtbevölkerung per Machete halbieren möchte und mit einem Blick Wärter wie Mitknackis in Schach hält, mal „wie ein junger Senator im Wahlkampf“ jedem zuwinkt, der seinen Weg kreuzt. Patrick, der seine heilige Harley „Fat Boy“ liebt und wie der biblische Samson panische Angst vorm Haareschneiden hat. Und eine Rattenphobie, was sich wirklich zum Tränenlachen liest.

Die Herzbeklemmung auslösenden Gedankenkreise sind die rund um die Hansen’sche Familiensaga. Paul beginnt diese bei seiner Geburt 1955 in Toulouse. Er ist der Sohn des dänischen Pastors Johanes Hansen und der französischen Programmkinobetreiberin Anna Margerit, der Vater, „ein smørrebrød-Esser, ein Mann aus dem nördlichen Jütland, der zu seinem Wort stand, denn die hierzulande beliebte flickflackernde Dialektik, die das Offensichtliche bereitwillig leugnet und frühere Aussagen bestreitet, war ihm völlig fremd.“

Die Mutter eine Schönheit, von der der Heranwachsende bemerkt, dass sie das Mojo besitzt, das Verlangen der Männer zu erregen, wofür Patrick Paul sofort rügt, so denkt man nicht an die eigene Mutter!, Anna Margerit, die Atheistin, in deren „künstlerischem Sammelbecken der revolutionären Avantgarde“ auf einem Plakat steht: „Wie soll man im Schatten einer Kapelle frei denken?“ Dies Johanes an die Wand gemalter Teufel. Der Protestant hat’s in Katholikenland schwer genug, und zum endgültigen Zerwürfnis kommt’s als Mutter 1972 beschließt, ihrem Publikum den Kassenschlager-Porno „Deep Throat“ zu zeigen.

Des Pastors Schäfchen sind entsetzt, und er ist seine Diözese los. Bis zur Scheidung schreien sich die Eheleute wegen „Deep Throat“ fortan die Kehle aus dem Hals. Also geht Papa als Prediger nach Kanada, ins Tagebau-Armageddon von Thetford Mines, wo in rauen Mengen Chrysotil aus der von Narben verheerten Landschaft gesprengt wird, und Paul folgt ihm in jene Asbesthölle, deren Skandal noch in den Startlöchern steckt – ein Philosoph im Paläolithikum. Pauls bedacht gewählte Ausdrucksweise, gespickt mit markigen Patrick-Zitaten, füllt die Zeilen, in die man beim Lesen eintaucht wie in den ruhigen See von Pauls Seelenruhe.

Die rührt nicht zuletzt her von seinen Begleitern: sein entschlummerter Vater, seine ebenfalls bereits verstorbene Ehefrau Winona Mapechee, eine Tochter der First Nations, und die gemeinsame – no na – tote Hündin Nouk sind die Geistwesen, die Paul nächtens besuchen – „um uns das zu geben, was wir auf grausamste Weise vermissten, ein wenig Trost und Wärme“, inmitten all der Langeweile und des schlechten Essens und dem winterlichen Frost von beinah minus 40 Grad, ab und zu ein Messerattentat, drei Schutzengel, auf deren Erscheinen Verlass ist und in dessen Verläufen sich enträtselt, wie sie zu Tode gekommen sind.

Bild: pixabay.com

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Mit Johanes teilt Paul Desillusion und Resignation eines, der „draußen“ in der Welt nichts mehr zu erwarten hat, und Dubois verflicht mit Verve sein Figurenkabinett, im Wortsinn gottvoll ist Kirchenorganist Gérard LeBlond, der unter Bach gern einmal Procul Harum mischt, mit kanadischer Zeitgeschichte: die von René Lévesque und seiner Parti Québécois angestrebte „assoziierte Souveränität“, eine Rechnung, durch die ihm Premier Pierre Trudeau, Vater des aktuellen Amtsinhabers Justin, einen dicken Strich machte; die heraufdämmernde Subprimes-Krise mit ihren in den Sand gesetzten Milliarden; der im 17. Jahrhundert aus Europa importierte „Glaubenskrieg“ Franzosen gegen Engländer, das zweisprachige Land nur einig im Dissen der indigenen Völker. Im Spiegel des Individuums liefert Dubois ein Epochen-Porträt von der linken 1968er-Bewegung bis zum Anbruch eines neuen neoliberal-kalten Millenniums.

Während Patrick sein Lebensmotto auf den Rücken tätowiert trägt, „Life is a bitch and then you die“, denkt sich Paul den Menschen als der Bitch Kollateralschaden. In Montreal wird er erst Hausmeister, später Verwalter der Wohnhausanlage „Excelsior“, die alte Dame nicht weniger „labil, verspielt, grillenhaft“ als ihre 63 Eigentümer, die der freundliche, mitfühlende, ja, zartbesaitete Mann alle mit gleicher Aufmerksamkeit betreut. Einer davon, Kieran Read, ein Schadensregulierer, der für Versicherungen zwecks auszuzahlender Summe den Wert eines eben Dahingeschiedenen kleinrechnet, wird ein Freund. Und wieder beim Lesen das große Fragezeichen, was denn um Himmels Willen passiert sei in diesem irdischen Paradies.

Paul lernt Winona kennen und lieben, sie stolze Besitzerin und Pilotin eines Wasserflugzeugtaxis, eine pragmatische Frau mit Algonkin-Draht zu den „Botschaften des Windes oder des Regens“, „die in jeder Sekunde in dem Bewusstsein lebte, dass das Leben viel zu kurz und zu wertvoll ist, um es in den Warteschlangen zweitrangiger Probleme auszubremsen“. Eines Tages findet sie die verwaiste Nouk und das Paar gibt dem Tier ein neues Zuhause, Nouk, die heißgeliebte, mit der Paul bald eine gemeinsame Sprache spricht.

Alles Friede und Freude im Soziotop, bis sich Edouard Sedgwick der Eigentümer-Versammlung als neuer Vorsitzender aufdrängt. Ein Unsympath und Cost Killer, „ein zwanghafter Anhänger von Memos“, „kontrollierte hier, beschnitt da und vermehrte die nutzlosen Zusätze in den Paragraphen der Hausordnung, bis diese den Umfang eines Telefonbuchs hatte“. Dubois verfasst diese Seiten als Parabel darüber, wie ein böswilliger Mensch alles und alle in seinem Umfeld zum Schlechteren zu ändern vermag.

„Die Atmosphäre im Haus war bedrückend geworden, und eine Art generelles, vom Vorsitzenden qua seines Amtes gesätes Misstrauen hatte sich in allen Stockwerken ausgebreitet. Nach und nach hatte jeder jeden zu überwachen und argwöhnisch darauf zu achten begonnen, dass die Vorschriften, und seien sie noch so unsinnig und marginal, Punkt für Punkt befolgt wurden.“

Allen Schikanen zum Trotz bewahrt Paul lange seinen Gleichmut, bis Sedgwick seinen Hass auf Hunde an Nouk auslässt, und Paul in ungeahnter Rage blutrotsieht … Und so endet die Wechselerzählung von Gefängnis-Jetzt und Freiheits-Vergangenheit mit einem Epilog über des Schicksals ewiges Unentschieden-Spiel zwischen Soll und Haben, Sein und Werden, Vertrauen und Selbst-/Zweifel, Verlust und Scheitern, Hoffnung und immer wieder Neuanfang.

Jean-Paul Dubois‘ Roman über die Guten, die Bösen und die dazwischen, einen Casuality Adjuster mit Anstand, einen skrupellosen Kostenminimierer, einen kuriosen Koloss von einem Kumpel, Winona, Nouk und Paul und „die ganze Wildheit des Rudels“, einen Vater, der post mortem endlich ein „Min son, jeg er stolt af dig“, mein Sohn, ich bin stolz auf dich, über die Lippen bringt, ist bis zum Schluss eine Liebeserklärung an die Condition humaine. Denn „Jeder von uns …“ ist stets nur einen Schritt vom Straucheln, nur einen Schritt vom falschen Weg entfernt.

Jean-Paul Dubois. Bild: © Lee Dongsub

Über den Autor: Jean-Paul Dubois, geboren 1950 in Toulouse, studierte Soziologie und arbeitete zunächst als Sportreporter für verschiedene Tageszeitungen. Später berichtete er für den Nouvel Observateur aus den USA. Er hat mehr als zwanzig Romane veröffentlicht und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Prix Femina und 2019 für „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ mit dem Prix Goncourt, dem bedeutendsten französischen Literaturpreis. Er zählt zu den wichtigsten französischen Autoren der Gegenwart.

dtv Verlag, Jean-Paul Dubois: „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, Roman, 256 Seiten. Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver.

www.dtv.de

  1. 1. 2021