Theater Drachengasse VoD: Das weiße Dorf

Januar 29, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Alles im Griff auf dem sinkenden Beziehungsschiff

Ruth und Ivan und eine getanzte Fantasie, wie’s hätte sein können: Johannes Benecke und Naemi Latzer, vorne: Julia Müllner und Hugo Le Brigand. Bild: © Andreas Friess / picturedesk

Vom bequemen Nickisuit übers Strickwesterl bis zu den Hausschlappen, rein nach den Kostümen von Thomas Garvie sind Darsteller wie Publikum modisch absolut Lockdown-up-to-date. Dass der Ausstatter auch tollkühn den kompletten Bühnenraum des Theaters Drachengasse geflutet hat, lässt sich Pandemie-bedingt nur via Bildschirm erleben. Ab heute, 20 Uhr, wenn die Drachengasse die Uraufführung von „Das weiße Dorf“ als Video on Demand anbietet. www.mottingers-meinung.at sah den Mitschnitt vorab.

Und siehe, während vielerorts Dramen zu Textflächen komprimiert und in diesen Charaktere zur Beliebigkeit gesplittet werden, findet hier Dialog statt. Ein höchst konkreter zwischen Ruth und Ivan, die beiden offenbar früher ein Paar, jetzt mit jeweils neuem Partner, neuer Partnerin auf Amazonas-Kreuzfahrt – und wie sich auf einem Schiff nicht ständig über den Weg laufen? An der Reling wie aneinander gekettet geht’s erst um die vorbeiziehende Landschaft, den perfekten Service an Bord, später wird gelobhudelt über zwischenzeitlich gemachte Karrieren.

Doch plötzlich knattert’s und knistert’s, wird anfängliche Verlegenheit mit gemeinsamer Vergangenheit weggelacht. Ist das schon ein Flirt? Nein, da steht man doch längst drüber … Teresa Dopler gewann für ihr Stück den Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2019, Valerie Voigt hat’s nun inszeniert. Und Naemi Latzer und Johannes Benecke sind fabelhaft als Ruth und Ivan, die beiden lupenreine Bobos, die sich dies Echtheitszertifikat mittels heftigem Polieren ihrer glatten Oberfläche erarbeiten.

Mit Allerwelts-Small-Talk kaschieren sie den gemeinsamen Imperfekt, lächeln nicht vergessen, positiv äußern, durch Nachfragen Interesse zeigen, Reaktionen interpretieren, das geht so weit, bis einen das Zuschauen schmerzt, und man sich fragt, wann diese Überfreundlichkeit in die Katastrophe kippen wird. Valerie Voigt bringt mit ihrer sich ganz auf die Schauspielerkraft und deren Sinn für Rhythmus verlassenden Arbeit das Impropre von Doplers Figuren auf den Punkt. Latzer und Benecke interpretieren dies mit Mimik und Gestik, sie machen ihre Körper zum Lügendetektor, der Ruths und Ivans Schönrederei in ihrer Falschheit entlarvt.

Latzer und Benecke. Bild: © Andreas Friess / picturedesk

Benecke und Latzer. Bild: © Andreas Friess / picturedesk

Ihre erwähnt glatte Oberfläche wird in der des knöcheltiefen schwarzen Wassers gespiegelt, fast fühlt man das feuchte Urwaldklima aufsteigen, und mitten drin Hugo Le Brigand und Julia Müllner als Gegensatz-Paar, sich – in einer Choreografie von Karin Pauer – umtänzelnd, sich umschlingend, Ruth und Ivan und eine Liebe, wie sie hätte sein können …

Teresa Doplers „Das weiße Dorf“ ist ein feiner Glücksgriff zum 40. Jubiläum des 1981 von Emmy Werner gegründeten Theaters Drachengasse. Die gebürtige Linzerin versteht es, den Weg eines jungen, modernen Europas auszuschildern, dessen Protagonistinnen und Protagonisten im steten Vorwärtsstreben vieles opfern – die Einsamkeit im Privaten, dieser Tage freilich virulent, ist bei Weitem kein Corona-Symptom, die im Ringen um „Authentizität“, heißt: Natürlichkeit, auf die Künstlichkeit eines sorgsam gebastelten Social-Media-Images setzen.

Auch via Bildschirm überträgt sich diese Atmosphäre, doch bleibt zu hoffen, dass die Drachengasse die Aufführung auch live wird zeigen können. Bis dahin, heute Abend, 20 Uhr! Tickets: www.drachengasse.at/spielplan_detail.asp?ID=937 bzw. www.eventbrite.de

www.drachengasse.at

  1. 1. 2021

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Januar 8, 2021 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

The Good, the Bad und die dazwischen

„Das Gefängnis verschlingt uns, es verdaut uns“, berichtet Paul Hansen über den unangenehmen Geruch des Eingesperrtseins: „Mief kasteiender schlechter Gedanken, sich überall ausbreitende Ausdünstungen schmutziger Einfälle, säuerliche Miasmen alten Bedauerns …“

Paul, im Jahr 2008 Insasse der kanadischen Haftanstalt Montreal, Boulevard Gouin Quest Nummer 800, am Rand des Rivière des Prairies, 1357 Häftlinge, gezählt ohne die zahlreichen Mäuse und Ratten, bis 1962 durch den Strang hingerichtete: 82, ist der Ich-Erzähler in Jean-Paul Dubois‘ jüngstem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, der sich 2019 überraschend und durchaus zurecht im finalen Rennen um den Prix Goncourt gegen die belgische Autorin Amélie Nothomb durchsetzte (Rezension von deren Nominee „Die Passion“: www.mottingers-meinung.at/?p=42473).

Wie Nothomb beherrscht Dubois die Kunst, die großen Fragen, die existenziellen Themen des Lebens in Romane zu gießen, doch malt sie bevorzugt mit kräftigen Farben, sind seine Arbeiten gleich

Aquarellen mit getuschten Konturen. Der langjährige Journalist Dubois ist ein exakter Beobachter, der seine Plots und Protagonisten stets entlang der Realität entwirft, und so ist auch „Jeder von uns …“, dies so intensive wie stille Buch, dies hingeschriebene Innehalten, zunächst eine Jedermanns-Geschichte wie dem Chronik-Teil entliehen. Im abgeklärt-lakonischen Tonfall eines Mannes, der nichts mehr sein Eigen nennt und ergo nichts zu verlieren hat, schildert Paul seinen nunmehr zweijährigen Alltag hinter Gittern.

Was ihn in diese Situation gebracht hat, was tatsächlich passiert ist, Paul weiß es ebenso wenig wie die Leserin, der Leser, erst 250 Seiten später werden sie’s gemeinsam erfahren. Sobald Paul sich nämlich wieder erinnern kann. Derweil aber müht sich das Gedächtnis um Rekonstruktion der Straftat, hört Paul ganz hinten im Gehirn „alle Knochen brechen“, gehen seine in Literatur festgehaltenen Gedanken im Kreis.

Die tragikomisch anrührenden rund um seinen Zellengenossen Patrick Horton, ein Hüne von einem Hells Angel, der bestreitet, ein Mörder zu sein. Patrick, der von unberechenbar über aberwitzig bis leutselig die ganze Skala menschlicher Stimmungsschwankungen bespielt, ein Bursche, der mal ein Viertel der Stadtbevölkerung per Machete halbieren möchte und mit einem Blick Wärter wie Mitknackis in Schach hält, mal „wie ein junger Senator im Wahlkampf“ jedem zuwinkt, der seinen Weg kreuzt. Patrick, der seine heilige Harley „Fat Boy“ liebt und wie der biblische Samson panische Angst vorm Haareschneiden hat. Und eine Rattenphobie, was sich wirklich zum Tränenlachen liest.

Die Herzbeklemmung auslösenden Gedankenkreise sind die rund um die Hansen’sche Familiensaga. Paul beginnt diese bei seiner Geburt 1955 in Toulouse. Er ist der Sohn des dänischen Pastors Johanes Hansen und der französischen Programmkinobetreiberin Anna Margerit, der Vater, „ein smørrebrød-Esser, ein Mann aus dem nördlichen Jütland, der zu seinem Wort stand, denn die hierzulande beliebte flickflackernde Dialektik, die das Offensichtliche bereitwillig leugnet und frühere Aussagen bestreitet, war ihm völlig fremd.“

Die Mutter eine Schönheit, von der der Heranwachsende bemerkt, dass sie das Mojo besitzt, das Verlangen der Männer zu erregen, wofür Patrick Paul sofort rügt, so denkt man nicht an die eigene Mutter!, Anna Margerit, die Atheistin, in deren „künstlerischem Sammelbecken der revolutionären Avantgarde“ auf einem Plakat steht: „Wie soll man im Schatten einer Kapelle frei denken?“ Dies Johanes an die Wand gemalter Teufel. Der Protestant hat’s in Katholikenland schwer genug, und zum endgültigen Zerwürfnis kommt’s als Mutter 1972 beschließt, ihrem Publikum den Kassenschlager-Porno „Deep Throat“ zu zeigen.

Des Pastors Schäfchen sind entsetzt, und er ist seine Diözese los. Bis zur Scheidung schreien sich die Eheleute wegen „Deep Throat“ fortan die Kehle aus dem Hals. Also geht Papa als Prediger nach Kanada, ins Tagebau-Armageddon von Thetford Mines, wo in rauen Mengen Chrysotil aus der von Narben verheerten Landschaft gesprengt wird, und Paul folgt ihm in jene Asbesthölle, deren Skandal noch in den Startlöchern steckt – ein Philosoph im Paläolithikum. Pauls bedacht gewählte Ausdrucksweise, gespickt mit markigen Patrick-Zitaten, füllt die Zeilen, in die man beim Lesen eintaucht wie in den ruhigen See von Pauls Seelenruhe.

Die rührt nicht zuletzt her von seinen Begleitern: sein entschlummerter Vater, seine ebenfalls bereits verstorbene Ehefrau Winona Mapechee, eine Tochter der First Nations, und die gemeinsame – no na – tote Hündin Nouk sind die Geistwesen, die Paul nächtens besuchen – „um uns das zu geben, was wir auf grausamste Weise vermissten, ein wenig Trost und Wärme“, inmitten all der Langeweile und des schlechten Essens und dem winterlichen Frost von beinah minus 40 Grad, ab und zu ein Messerattentat, drei Schutzengel, auf deren Erscheinen Verlass ist und in dessen Verläufen sich enträtselt, wie sie zu Tode gekommen sind.

Bild: pixabay.com

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Mit Johanes teilt Paul Desillusion und Resignation eines, der „draußen“ in der Welt nichts mehr zu erwarten hat, und Dubois verflicht mit Verve sein Figurenkabinett, im Wortsinn gottvoll ist Kirchenorganist Gérard LeBlond, der unter Bach gern einmal Procul Harum mischt, mit kanadischer Zeitgeschichte: die von René Lévesque und seiner Parti Québécois angestrebte „assoziierte Souveränität“, eine Rechnung, durch die ihm Premier Pierre Trudeau, Vater des aktuellen Amtsinhabers Justin, einen dicken Strich machte; die heraufdämmernde Subprimes-Krise mit ihren in den Sand gesetzten Milliarden; der im 17. Jahrhundert aus Europa importierte „Glaubenskrieg“ Franzosen gegen Engländer, das zweisprachige Land nur einig im Dissen der indigenen Völker. Im Spiegel des Individuums liefert Dubois ein Epochen-Porträt von der linken 1968er-Bewegung bis zum Anbruch eines neuen neoliberal-kalten Millenniums.

Während Patrick sein Lebensmotto auf den Rücken tätowiert trägt, „Life is a bitch and then you die“, denkt sich Paul den Menschen als der Bitch Kollateralschaden. In Montreal wird er erst Hausmeister, später Verwalter der Wohnhausanlage „Excelsior“, die alte Dame nicht weniger „labil, verspielt, grillenhaft“ als ihre 63 Eigentümer, die der freundliche, mitfühlende, ja, zartbesaitete Mann alle mit gleicher Aufmerksamkeit betreut. Einer davon, Kieran Read, ein Schadensregulierer, der für Versicherungen zwecks auszuzahlender Summe den Wert eines eben Dahingeschiedenen kleinrechnet, wird ein Freund. Und wieder beim Lesen das große Fragezeichen, was denn um Himmels Willen passiert sei in diesem irdischen Paradies.

Paul lernt Winona kennen und lieben, sie stolze Besitzerin und Pilotin eines Wasserflugzeugtaxis, eine pragmatische Frau mit Algonkin-Draht zu den „Botschaften des Windes oder des Regens“, „die in jeder Sekunde in dem Bewusstsein lebte, dass das Leben viel zu kurz und zu wertvoll ist, um es in den Warteschlangen zweitrangiger Probleme auszubremsen“. Eines Tages findet sie die verwaiste Nouk und das Paar gibt dem Tier ein neues Zuhause, Nouk, die heißgeliebte, mit der Paul bald eine gemeinsame Sprache spricht.

Alles Friede und Freude im Soziotop, bis sich Edouard Sedgwick der Eigentümer-Versammlung als neuer Vorsitzender aufdrängt. Ein Unsympath und Cost Killer, „ein zwanghafter Anhänger von Memos“, „kontrollierte hier, beschnitt da und vermehrte die nutzlosen Zusätze in den Paragraphen der Hausordnung, bis diese den Umfang eines Telefonbuchs hatte“. Dubois verfasst diese Seiten als Parabel darüber, wie ein böswilliger Mensch alles und alle in seinem Umfeld zum Schlechteren zu ändern vermag.

„Die Atmosphäre im Haus war bedrückend geworden, und eine Art generelles, vom Vorsitzenden qua seines Amtes gesätes Misstrauen hatte sich in allen Stockwerken ausgebreitet. Nach und nach hatte jeder jeden zu überwachen und argwöhnisch darauf zu achten begonnen, dass die Vorschriften, und seien sie noch so unsinnig und marginal, Punkt für Punkt befolgt wurden.“

Allen Schikanen zum Trotz bewahrt Paul lange seinen Gleichmut, bis Sedgwick seinen Hass auf Hunde an Nouk auslässt, und Paul in ungeahnter Rage blutrotsieht … Und so endet die Wechselerzählung von Gefängnis-Jetzt und Freiheits-Vergangenheit mit einem Epilog über des Schicksals ewiges Unentschieden-Spiel zwischen Soll und Haben, Sein und Werden, Vertrauen und Selbst-/Zweifel, Verlust und Scheitern, Hoffnung und immer wieder Neuanfang.

Jean-Paul Dubois‘ Roman über die Guten, die Bösen und die dazwischen, einen Casuality Adjuster mit Anstand, einen skrupellosen Kostenminimierer, einen kuriosen Koloss von einem Kumpel, Winona, Nouk und Paul und „die ganze Wildheit des Rudels“, einen Vater, der post mortem endlich ein „Min son, jeg er stolt af dig“, mein Sohn, ich bin stolz auf dich, über die Lippen bringt, ist bis zum Schluss eine Liebeserklärung an die Condition humaine. Denn „Jeder von uns …“ ist stets nur einen Schritt vom Straucheln, nur einen Schritt vom falschen Weg entfernt.

Jean-Paul Dubois. Bild: © Lee Dongsub

Über den Autor: Jean-Paul Dubois, geboren 1950 in Toulouse, studierte Soziologie und arbeitete zunächst als Sportreporter für verschiedene Tageszeitungen. Später berichtete er für den Nouvel Observateur aus den USA. Er hat mehr als zwanzig Romane veröffentlicht und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Prix Femina und 2019 für „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ mit dem Prix Goncourt, dem bedeutendsten französischen Literaturpreis. Er zählt zu den wichtigsten französischen Autoren der Gegenwart.

dtv Verlag, Jean-Paul Dubois: „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, Roman, 256 Seiten. Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver.

www.dtv.de

  1. 1. 2021

Kino und Home Cinema: Die besten Filme fürs Frühjahr

Januar 1, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Neues von Tom Hanks, Naomi Watts & Kevin Kostner

Der Rausch: Mads Mikkelsen. Bild: Henrik Ohsten. © 2020 Zentropa Entertainments3 ApS, Zentropa Sweden AB, Topkapi Films B.V. & Zentropa Netherlands B.V.

Das alte Jahr war #Corona-bedingt ein Kinojahr zum Vergessen. Nun liegen alle Hoffnungen auf 2021, und tatsächlich warten etliche sehenswerte Filme nur auf das Lockdown-Ende. Neues gibt es etwa von Tom Hanks, Frances McDormand, Naomi Watts, Mark Wahlberg und Kevin Kostner. Für Österreich gehen Evi Romen mit ihrem Debütfilm „Hochwald“ und Arman T. Riahi mit dem Diagonale-Eröffner „Fuchs im Bau“ an den Start. Ein Überblick:

Kinovorschau: Jänner

Der Rausch. Martin ist Lehrer an einer Schule. Er fühlt sich alt und müde. Seine Schüler und ihre Eltern wollen, dass er gekündigt wird, weil sie mit der Qualität seines Unterrichts nicht zufrieden sind. Ermutigt durch eine abstruse Theorie stürzen sich Martin und drei Kollegen in ein Experiment: Sie wollen durch Alkoholkonsum ihren Blutalkoholwert konstant bei 0,5 Promille halten. Anfangs ist das Ergebnis positiv. Martin hat wieder Spaß am Unterrichten und auch die Liebe zu seiner Frau Trine entflammt neu. Doch die negativen Auswirkungen lassen nicht lange auf sich warten… In der bereits zehnfach ausgezeichneten Sozialsatire von Regisseur Thomas Vinterberg geht Mads Mikkelsen jeder Flasche auf den Grund. Ab 29. Jänner. Trailer: www.youtube.com/watch?v=oJwlO6vcsm0&t=16s

Kinovorschau: Februar

Lass ihn gehen. Was weit gehen Menschen, um ihre Liebsten zu schützen? USA, 1951: Der Sohn des pensionierten Sheriffs George Blackledge und seiner Frau Margaret kam vor ein paar Jahren bei einem Unfall ums Leben. Dessen nunmehrige Witwe ließ sich mit einem zwielichtigen Tagedieb ein. Als die entsetzte Margaret sieht, wie dieser „Stiefvater“ Donnie Weboy ihren Enkel in aller Öffentlichkeit prügelt, will sie das Kind retten. Doch Jimmy und seine Mutter leben auf der Farm des gefährlichen Weboy-Clans. Matriarchin Blanche führt ihre Familie mit eiserner Hand und denkt gar nicht daran, Jimmy gehen zu lassen. George und Margaret müssen um ihren Enkel kämpfen … Supermans Adoptiveltern Diane Lane und der für derlei Rollen wie geschaffene Kevin Kostner brillieren in diesem aufwühlenden Neo-Western nach dem gleichnamigen Roman von Larry Watson. Ab 19. Februar. Trailer: www.youtube.com/watch?v=bE8pwEF-3TI

Kinovorschau: März

Nomadland. Auf der Viennale 2020 bereits gezeigt, wartet „Nomadland“ nun auf den regulären Kinostart. Frances McDormand spielt als Fern einen jener Menschen, die nach der großen Rezession von 2008 alles verloren haben. Gezwungen in ihrem Van zu leben, hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mal zusammen mit Gleichgesinnten, die wie sie in der Welt keinen Platz mehr finden, dann wieder ist sie allein unterwegs in den schier unendlichen Weiten Nordamerikas. Begleitet von der Schönheit der Landschaft. Dicht gefolgt von der Einsamkeit. Und all jenen Problemen, die ein Leben auf der Straße mit sich bringt. Das Drama von Regisseurin und Drehbuchautorin Chloé Zhao, Gewinner des Goldenen Löwen 2020, gilt als eines der Highlights des kommenden Kinojahres. Ab 19. März. Trailer: www.youtube.com/watch?v=iEcIDpnv3qQ

Lass ihn gehen. © Universal Pictures

Fuchs im Bau. © Golden Girls Film

Falling. © Filmladen Filmverleih

Good Joe Bell. © Solstice Studios

Fuchs im Bau. Der neue Spielfilm von Regisseur Arman T. Riahi ist zugleich der Eröffnungsfilm der Diagonale’21. Die neue Arbeitsstelle des ehrgeizigen Mittelschullehrers Hannes Fuchs ist ungewöhnlich: Es ist die Gefängnisschule im Jugendtrakt einer großen Wiener Haftanstalt. Dort trifft Fuchs auf die eigenwillige Elisabeth Berger, die mit ihren unkonventionellen Lehrmethoden nicht nur die Untersuchungshäftlinge in Schach, sondern auch die Justizwache auf Trab hält. Dem obersten Wachebeamten ist Bergers Kunststunde ein Dorn im Auge, da er sie als Sicherheitsrisiko sieht. Doch genau auf diese legt Berger besonderen Wert, da sich während des Malens sogar die hartgesottensten Insassen erweichen lassen. Mit Aleksandar Petrović, Maria Hofstätter, Andreas Lust, Sibel Kekilli und Karl Fischer. Ab 19. März. Trailer: www.facebook.com/fuchsimbau

Hochwald. Das Spielfilmdebüt der Autorin und Editorin Evi Romen schildert die Berg- und Talfahrt eines jungen Mannes, der völlig orientierungslos ist, aber dennoch spürt, dass es irgendwo auch für ihn einen Platz geben muss. Das Leben des sensiblen und etwas schrägen Mario gerät aus den Fugen, als sein Jugendfreund Lenz auftaucht. Mario und Lenz kennen einander seit Kindertagen. Nun sind sie Zwanzig und auf dem Sprung, die Enge ihres Dorfes hinter sich zu lassen. Lenz, der Winzersohn, hat dafür eindeutig die besseren Karten in der Hand als der Träumer Mario. Doch plötzlich wird alles anders…. Ein kühnes Queering-Drama vor Bergkulisse, und somit ein großartiger Heimatfilm über Sex, Religion, Tod und Befreiung. Mit Thomas Prenn, Noah Saavedra und Josef Mohamed. Ab 31. März. Trailer: www.youtube.com/watch?v=J-BwyK0IY74

Kinovorschau: April

Falling. John lebt mit der Wut seines Vaters, seit er denken kann. Willis macht kein Hehl daraus, dass er den Lebensstil seines offen homosexuell lebenden Sohnes zutiefst verabscheut. Einst versuchte der Patriarch aus dem Mittleren Westen seinen Sohn zu einem „echten Mann“ zu erziehen – doch der weltoffene John distanzierte sich von dessen männlichem Rollenbild, das sich durch Aggressivität und Engstirnigkeit auszeichnet. Als Willis mit einer beginnenden Demenz kämpft, nimmt ihn John trotz der schmerzhaften Erinnerungen auf – und Willis lässt seinen homo- wie xenophoben Ausbrüchen gegenüber Johns Ehemann Eric und der gemeinsamen, aus Mexiko stammenden Adoptivtochter Monica freien Lauf. Doch John trägt nun die Verantwortung für jenen Mann, der ihm im Leben am meisten weh tut … Ausnahmeschauspieler Viggo Mortensen präsentiert mit „Falling“ seine erste Regiearbeit nach einem eigenen Drehbuch. Das Resultat ist gefühlvoll, packend und durchaus experimentell. Ab 9. April. Trailer: www.youtube.com/watch?v=-rZ5DSeUb00

Neues aus der Welt. © Universal Pictures

Penguin Bloom. © Hugh Stewart

Billie. © Polyfilm/ Getty / Michael Ochs Archives / REP Documentary / Marina Amaral

Anfang 2021 / ohne konkreten Starttermin

Penguin Bloom. Die Krankenschwester Sam Bloom verletzt sich während eines Urlaubes mit Ehemann Cameron und ihren drei Söhnen in Thailand schwer, als sie von einem Balkon stürzt. Von da an ist sie von der Hüfte abwärts gelähmt, was die gesamte Familie auf eine harte Belastungsprobe stellt. Nach ihrer Reha fällt Sam in eine tiefe Depression, doch dann bringt eines Tages einer ihrer Söhne einen verletzten Flötenvogel mit nach Hause. Sie nennen ihn wegen seines schwarz-weißen Gefieders Penguin. Immer mehr lässt der Vogel, der dringend aufgepäppelt werden muss, und der seiner neuen Mama bis ins Bett und unter die Dusche folgt, Sam ihren eigenen Schmerz vergessen und gibt ihr neuen Lebensmut. Naomi Watts in einem Film von Regisseurin Glendyn Ivin nach der wahren Geschichte der Familie Bloom und ihres Magpie-Kükens. Trailer: www.youtube.com/watch?v=q7eZEZHRrVg

Good Joe Bell. Noch eine True Story. Joe Bell ist der Inbegriff von Männlichkeit, und als Ehemann und Vater gewohnt zu brüllen und zu kommandieren, bis er bekommt, was er will. Sein 15-jähriger Sohn Jadin allerdings wird an der High School als schwul geoutet und fortan schikaniert, bis er Selbstmord begeht. Statt sich nach dessen Suizid in seiner Trauer zu verlieren, beschließt Joe durch die gesamten USA zu wandern und auf Mobbing und die möglichen Auswirkungen aufmerksam zu machen. Das Original ist an der Gründung von Faces for Change beteiligt, einer Anti-Mobbing-Stiftung, die das Engagement von Menschen an Schulen ehrt, die sich für Diversität und die Förderung von Toleranz einsetzen. Mark Wahlberg überzeugt in der Titelrolle, das Drehbuch stammt vom „Brokeback Mountain“-Duo Diana Ossana und Larry McMurtry. Trailer: solstice-studios.com

Billie. Ihre ungewöhnliche Stimme und ihre Lieder voll emotionaler Strahlkraft machten sie weltberühmt. Jahrzehnte vor der #BlackLivesMatter-Bewegung lieferte Billie Holiday mit ihrem Song „Strange Fruit“ den Soundtrack für die Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen People of Colour. Eine selbstbewusste, politisch denkende Frau, ein musikalisches Genie. Und die erste schwarze Frau in einer weißen Band. In den späten 1960er-Jahren sprach die Journalistin Linda Lipnack Kuehl mit Musikgrößen wie Charles Mingus, Tony Bennett und Count Basie über die Jazz-Legende, aber auch mit Billies Cousin und Schulfreunden, sowie einem FBI-Agenten, der die Diva einst verhaftete. Ihre Biografie über die Sängerin konnte die Autorin jedoch nie veröffentlichen. In seinem Dokumentarfilm verknüpft James Erskine nun aufwändig restauriertes Archivmaterial und die bisher ungehörten Tonbandaufnahmen von Kuehl mit den wichtigsten Auftritten von Billie Holiday. Er zeichnet das bewegende, vielschichtige Porträt einer Sängerin, deren kurzes Leben durch ihre spektakulären Shows, Exzesse und den Willen zur Rebellion gekennzeichnet war. Ein grandioses filmisches Denkmal. Trailer: www.youtube.com/watch?v=qTpMaxBw2aA

Nomadland. © Searchlight Pictures

Hochwald. ©Amour Fou – Flo Rainer

Virtues. © Channel 4

Neues aus der Welt. Eigentlich sollte Paul Greengrass‘ Westerndrama mit Tom Hanks Ende 2020 in den Kinos starten. Ob es nun dazu kommt oder der Film nach dem Roman von Paulette Jiles doch am 7. Jänner auf Netflix anläuft, ist nach wie vor nicht zu eruieren. Im mutmaßlichen Oscar-Nominee spielt Tom Hanks den abgehalfterten Bürgerkriegs-Captain Jefferson Kyle Kidd, der seit dessen Ende als Nachrichtenüberbringer und Zeitungsvorleser durch das Land zieht. Er erzählt den Menschen von einer neuen Pandemie (!), der Tuberkulose, und von der Eisenbahn, die bald auch Süd-Texas an den Rest des Landes anschließt. In Texas erhält er einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll die zehnjährige Johanna Leonberger, die vor vier Jahren von den Kiowa entführt wurde, nachdem sie ihre Familie getötet hatten, zu ihrer Tante und ihrem Onkel bringen. Hunderte Meilen soll der Mann mit dem traumatisierten Kind zurücklegen, während die gefährliche Wildnis und noch gefährlichere Menschen nach ihnen trachten. Doch die größte Herausforderung stellt Johanna selbst dar, die kein Wort Englisch, sondern nur ein paar Brocken Deutsch und Kiowa spricht. Mit Tom Hanks spielt Helena Zengel aus „Systemsprenger“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34792)! Trailer: www.youtube.com/watch?v=zTZDb_iKooI

Home Cinema

Der weiße Tiger. Balram Halwai erzählt seinen düster humorvollen Aufstieg vom armen Dorfbewohner zum erfolgreichen Unternehmer im modernen Indien. Die Gesellschaft hat ihn einzig und allein für eine Sache ausgebildet: Diener zu sein. Also macht er sich für seine reichen Herren, als Fahrer für die eben aus Amerika heimgekehrten Ashok und Pinky, unentbehrlich. Aber nach einer Nacht des Verrats erkennt er das korrupte und zu Gunsten weniger manipulierte System, und Balram beschließt eine neue Art von „Meister“ zu werden. Ein Film von Ramin Bahrani nach dem Debütroman des indischen Journalisten Aravind Adiga, der dafür mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Auf Netflix ab 22. Jänner. Trailer: www.youtube.com/watch?v=HuFypwQQEAA

Ein guter Mensch. Alzheimer im Frühstadium, diese Diagnose verändert das Leben des 65-jährigen Agâh Beyoğlu von einer Sekunde auf die andere. Doch der pensionierte Gerichtsangestellte hat andere Pläne, als sich dem Schicksalsschlag zu ergeben. Vor Jahren wurde in seinem Heimatort ein Verbrechen begangen und im großen Stil verschleiert. Nun beginnt Agâh einen blutigen Feldzug, eine Mordserie, die die Istanbuler Mordkommission bald alt aussehen lässt. Die von Onur Saylak inszenierte Miniserie ist ein hintergründiges Thrillerdrama mit klarem politischen Unterton gegen Erdogan und die AKP. Als rachsüchtiger Rentner wurde Haluk Bilginer 2019 vollkommen zu Recht als bester Schauspieler mit dem International Emmy ausgezeichnet. Bereits zu sehen auf Magenta TV und auf DVD. Trailer: www.youtube.com/watch?v=8sEcx8SX0lU

Der weiße Tiger. © Netflix Originals

Ein guter Mensch. © Magenta TV

Kampf um den Halbmond. © Arte TV

Des. © Lions Gate Entertainment

The Virtues. Joseph in einem Pub in Liverpool. Hier will er all die hinter sich lassen, die ihn verlassen haben, allen voran seine geschiedene Frau, die mit ihrem Sohn und „dem Neuen“ nach Australien ausgewandert ist. Joseph ist ein Wrack, psychisch und physisch, er kauft sich Freunde mit Lokalrunden, um am Ende allein daheim in seinem Erbrochenen aufzuwachen. Die Zuschauerin, der Zuschauer ahnt, dass der Anfang von Shane Meadows‘ Miniserie dies Ende ist. Vier Episoden lang verarbeitet der Regisseur derart die traumatischen Ereignisse seiner eigenen Jugend, und ebenso lang dauert Josephs Martyrium, das einem in nahezu jeder Szene die Kehle zuschnürt – vor Wut, Mitleid, Fassungslosigkeit. Mutig und gesegnet mit der Gabe, in die Verletzlichkeit dieses verlorenen Charakters einzutauchen, spiegelt Stephen Graham dessen Seelenqualen mit Gesicht und ganzer Körperhaltung wider. Warum Graham nicht schon längst zur ersten Liga der internationalen Schauspielerzunft zählt, es ist ein Rätsel … Auf DVD. Trailer: www.youtube.com/watch?v=DOons8oVsmE

Kampf um den Halbmond. Paris, 2014. Antoine ist ein junger und begabter Ingenieur, der erfolgreich in der Baufirma seines Vaters arbeitet. Doch in der Familie gibt es ein Drama: Vor zwei Jahren kam Antoines Schwester Anna, eine junge Archäologin, bei einem terroristischen Attentat in Kairo ums Leben. Antoine versucht, die Trauer zu überwinden und loszulassen, seine Partnerin Loraine und er wollen eine Familie gründen und ein Kind bekommen. Doch eines Tages sieht Antoine in einer Fernsehreportage über kurdische Kämpferinnen in Syrien eine Frau, die Anna sein könnte. Lebt sie und kämpft mit dem Frauenbataillon YPJ gegen den IS? Antoine macht sich auf die Suche nach Anna und gerät in Syrien zwischen die Fronten. Die franko-israelische Serie von Oded Ruskin, Staffel eins mit Félix Moati und Mélanie Thierry aus dem Jahr 2020, mischt Elemente von Thriller, Spionagefilm und Familiendrama und beweist sich als intensiver und informativer Einblick in einen Konflikt, der schwer zu verstehen ist. Eine zweite Staffel ist in Planung. Bereits zu sehen in der ARTE-Mediathek. Trailer: www.arte.tv/de/videos/RC-019886/kampf-um-den-halbmond

Des. Februar 1983. Ein Installateur findet im Abflussrohr eines Londoner Wohnhauses menschliche Knochen. Die Ermittlungen führen schnell zu Dennis Andrew Nilsen, „Des“, der im Verhör angibt, ab 1978 an die fünfzehn junge Männer getötet zu haben. Doch wer sind sie, und warum mussten sie ihre Begegnung mit Des mit dem Leben bezahlen? Auf diese Frage antwortet der von David Tennant verkörperte schottische Serienkiller schlicht: „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.“ Somit zeigt die von Lewis Arnold in Szene gesetzte dreiteilige True-Crime-Serie nicht die Suche nach dem Täter, sondern nach den Opfern, an deren Namen er sich nicht einmal mehr erinnert. Die größte Fahndung in der Geschichte Großbritanniens wird nicht nur aus der Sicht des Mörders, sondern auch aus der unter Druck geratener und rivalisierender Detectives und seines Biografen Brian Masters geschildert. Blut fließt nur im Kopf der Betrachterin, des Betrachters, doch dank der schnörkellosen Tennant-Performance ist das Ganze trotzdem ziemlich grauslich. Bereits zu sehen auf Starzplay. Trailer: www.youtube.com/watch?v=EzXgIV-EJQE

  1. 1. 2021

TAG: Weiße Neger sagt man nicht

Mai 9, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGERR

Vom Whitefacing in den Chefsessel katapuliert

Eine Trommelübung soll die Assessment-Center-Teilnehmer auflockern: Jens Claßen, Raphael Nicholas, Elisabeth Veit, Georg Schubert, Nancy Mensah-Offei und Michaela Kaspar. Bild: © Anna Stöcher

Dass hier niemand viel Wert auf political correctness legt, wusste man schon vor dem Schluss. Da nämlich entpuppt sich die geeignetste Kandidatin eines Assessment Centers als Nichte eines Bananenrepublik-Ministers, mehr noch: als dessen Erbin, die mit seinen „schwarzen“ Millionen den Konzern, von dem in den vorangegangenen 90 Minuten die Spreu vom Weizen selektiert wurde, aufgekauft hat. Darf man das schreiben: Schwarz + Bananen + Selektion?

Aber ja! Lasst uns im Gegenteil noch fröhlich einen (oder mehrere) draufsetzen. Topfenneger, I bin neger, Negerant, Negerkuss, Negerbrot, Mohr im Hemd und Meinl-Mohr und Franz Moor. Woman is The Nigger of the World. Horst Neger in der Wachau verkauft Kracherl, Thomas Neger in Mainz verkauft Metallsysteme, hat sich aber wegen seines Firmenlogos, ein hammerschwingender Schwarzer mit dicken Lippen und dicken Creolen, angreifbar gemacht. Sein Vater, der das Emblem erfand, erfand auch „Humbta tätära“.

So, uff. Der rassistische Witz leistet Rassismusbekämpfung. Am TAG kam diesbezüglich  „Weiße Neger sagt man nicht“ zur Uraufführung, Text und Regie von Esther Muschol, und wenn man einen Lauf wie derzeit das TAG hat, darf man sich auch mal verlaufen. Wie hier geschehen. Denn beim besten Willen geht einem bei dieser Produktion das Herz nicht auf. Muschol beruft sich auf Nestroys „Talisman“, und ja – das zu hörende Hintergrundgeräusch ist dessen Rotieren im Grab, nur hat sie die Haar- zu einer Hautfarbangelegenheit gemacht. Aus dem roten Titus Feuerfuchs wird die Schwarze Titania Coleman, auch sie rittert um einen Job, weil modern: in einem Führungskräfteauswahlverfahren, bis sich die Konstellationen drehen – und allen die schreckliche Wahrheit ins Gesicht gefärbt wird.

Dieses mittels Blackfacing, weil, wer Karriere machen will, dient sich auch dem gerade kräftigsten Teint an, beziehungsweise Whitefacing, denn offenbar wird der/die AfrikanerIn nur als Bleichgesicht zum Big Boss. Das Existenz bedrohende Feind- und Schreckensbild aller Populärrechten: der qualifizierte Schwarze. Lustig? Halb-! Was als Sarkasmus über den Bewerbungswahnsinn im Seminarraum Erzherzog Johann ein Feuerwerk an Esprit und Eloquenz hätte sein können, zündet nicht richtig. Die Alltagsrassismussätze über Fremdsein, „andere Welten“ und Verhaltensmuster sind zu wenig speziell, zu wenig ausgefeilt, die Figuren verrecken als Stereotype. Hoamatliada werden gesungen, und alle sind wie ein Herrgottsschnitzer-Holzschnitt.

Die Demütigungsspielchen treiben den einen beinah in den Herzinfarkt, …: Georg Schubert und Jens Claßen. Bild: © Anna Stöcher

… den anderen zwecks „Fleischbeschau“ in die Nacktheit: Raphael Nicholas mit Michaela Kaspar und Elisabeth Veit. Bild: © Anna Stöcher

Das TAG stolpert diesmal über seine eigene Vorgabe der Neu- und Überschreibung von Klassikern, hat doch nichts an dieser Aufführung irgend mit Nestroy zu tun. Nicht einmal „sehr frei nach …“. Es fehlt das Hinterfotzige, das G’feanzte, das Poetisch-Subtile des unerreichten Vorbilds; plakativ, bösartig, je abstruser desto besser, ist ja ganz gut – aber Doppeldeutigkeit, bitte? Muschol ergeht sich in Pfefferkörnergleichnissen (die schwarzen lassen sich besser zermahlen, die weißen springen vollemanzipatorisch aus der Mühle), Busch-/Trommelübungen und Demütigungsspielchen, die mehr mit S/M als mit der berüchtigten Briefkastenübung zu tun haben.

Dass das Ensemble erschreckend gut gelaunt ist, nimmt dem Abend diesmal fast die Schärfe. Jens Claßen ist wie so oft der dienstbeflissene Piefke, Georg Schubert wie so oft der hemdsärmelig-herzliche Prolet, Raphael Nicholas ist als geschwätziger Schnösel natürlich ein Journalist im zweiten Verbildungsweg. Immerhin: Michaela Kaspar brilliert als beflissene Vorzugsbewerberin, und Elisabeth Veit gelingt ein Kabinettstück als in die Privatwirtschaft zurückgeschasstes, ehemals niederösterreichisches Pröll-Parteikind.

Keiner (besser: fast keiner) von ihnen ist tatsächlich Rassist (vor allem nicht Kaspar als Amelia, die Titania ihr naturgemäß viel zu helles Make-up leiht), und alle ergeben sich Nancy Mensah-Offei, wenn sie als ebendiese das Feld von hinten aufrollt und die Herrschaftsverhältnisse alsbald umkehrt. Sie ist großartig als undurchschaubare Aufsteigerin und zynische Rächerin. Nun gilt es für die „Weißen“, denn eigentlich sind wir doch rosa, ihre „Negerqualitäten“ unter Beweis zu stellen und sich als gute Sklaven (samt der sprichwörtlichen Sklavenmentalität) zu erweisen. Für die African Queen wird ein Thron errichtet, alle singen eine Chumbalaya-Weise, ein Gewehr taucht auf, und – alte Theaterregel: Wo eine Waffe ist, wird auch geschossen.

Hat dieses Make-up die falsche oder die richtige Farbe? Nancy Mensah-Offei und Michaela Kaspar. Bild: © Anna Stöcher

Mit der Enttarnung Titanias nimmt der Abend tatsächlich endlich Fahrt auf, und wo er sagt, Anbiederung ist Rassismus in grauslichster Form, ist er am stärksten. Ansonsten machen viele nette Ideen noch keine Inszenierung, die Summe der einzelnen, mit Blackouts unterbrochenen Teile hätt’s vielleicht getan. So aber wirkt das Ganze szenisch unentschlossen.

Wie die Aufführung die üblichen Verdächtigen, Karrieristen aller Länder vereinigt euch! als arme Würschtln entlarvt, das hat viel mit Wirtschaftssatire zu tun – hätte aber auch ohne Schwarzweißmalerei funktioniert. Derart bereitet sich einem in der Gumpendorferstraße diesmal nur ein ungewohnt durchschnittliches Vergnügen. Naja, nur nicht schwarz sehen, die nächste Premiere folgt bestimmt.

Trailer: vimeo.com/215383618

dastag.at

Wien, 9. 5. 2017

Volkstheater: Nathan der Weise

April 8, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Glaube ist ein Kriegsschauplatz

Charakterköpfe unter sich: Günter Franzmeier und sein von Stefan Suske gesprochenes Puppen-Alter-Ego. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Es gibt Theaterabende, an denen stimmt einfach alles, und am Freitag hatte man das Glück, bei einem solchen dabei zu sein. Nikolaus Habjan inszenierte am Volkstheater Lessings „Nathan der Weise“, und wie wunderbar, der junge Theatermacher und Puppenmagier hat es nicht Not, irgendwas irgendwo drüberzustülpen. Er erzählt eine Geschichte. Klar, im positivsten Sinne „einfach“ und konsequent durchdacht.

Er versteht sich exzellent auf Schauspielerführung, versteht es aus den Blankversfiguren Charaktere zu entwickeln, die einen heute berühren und am Heute rühren, und hat sich von Denise Heschl und David Brossmann eine Bühne bauen lassen, die gewaltige Bilder zulässt und die Situation auf einen Blick beschreibt. Die Situation ist – Dauerkrise, ein wackeliger Waffenstillstand, die tagtägliche Berichterstattung über religiösen Fanatismus und seine Folgen. Der Glaube ist ein Kriegsschauplatz, das zeigt die Brandruine, die hier mehr als nur Nathans Haus, sondern sinnbildlich für die Gesamtheit des Nahen Osten ist. An der Rampe verkohlte Menschenkörper. Auftritt Nathan mit Koffer und einem Verzweiflungsschrei. Und wie er dann Recha herzt und an seine Brust zieht und sie blutet und ihr die Haare ausfallen und sie in sich zusammenklappt, bleibt fraglich…

Ob sie überhaupt noch lebt? Oder doch Leiche ist? Ob nicht eher aus Nathans Trauma gerade ein Wunschtraum entsteht? Schließlich ist Lessings Schluss, der alle drei abrahamitischen Religionen in einer Familie versöhnt, ja ohnedies traumhaft. Nathan beginnt, die Toten mit Tüchern zuzudecken, und das wird er am Ende mit den wie in Stasis gefallenen Darstellern wieder tun.

Macht sich Nikolaus Habjan an eine Theaterproduktion, so ist die Erwartungshaltung natürlich, dass er seine Puppen mitbringt. Diesmal sind es zwei. Günter Franzmeier als Nathan hat ein Puppen-Alter-Ego, dem Stefan Suske, schwarz verhüllt wie beim Bunraku, die Stimme leiht. Franzmeier ist ein einsamer Nathan, er bleibt auf Äquidistanz zu seinen Mitmenschen, seine Haltung zum Geschehen drückt im doppelten Wortsinn Beherrschtheit aus. Er spielt den Nathan, wie Saladin einmal sagt, tatsächlich „stolz bescheiden“. Nur mit seinem eigenen Charakterkopf kann er in Diskussion treten, kann er „er selber“ sein; er führt mit ihm Zwiegespräche, und die Puppe ist ihm dabei Gewissen, Einflüsterer und nicht unbedingt immer ein guter Ratgeber. Dass Franzmeier ganz fantastisch agiert, versteht sich. Er ist wahrlich ein Weiser, ein verwaister Weiser, und wie es dieser Art Mensch auch inne ist, verloren im Versuch in Intrige, Neid und Verrat Freund und Feind auseinander zu halten.

Der junge Tempelherr beim Picknick mit Recha: Christoph Rothenbuchner und Katharina Klar mit Claudia Sabitzer als Daja. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Familienaufstellung vor verkohlten Körpern (li.): Gábor Biedermann, Steffi Krautz, Katharina Klar, Christoph Rothenbuchner und Günter Franzmeier. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

In dieser Grauzone Nathans bewegt sich Gábor Biedermann als Sultan Saladin. Biedermann gestaltet den muslimischen Herrscher weniger mit der oft üblichen melancholisch-gelassenen Gleichgültigkeit, sein Saladin ist ein Macher, der in seinem Reich gern die Fäden in der Hand hat. Dafür ist er bereit, Bündnisse über Konfessionsgrenzen hinweg einzugehen. Biedermanns Sultan gibt sich dann fast väterlich-gütig, denn er hat dabei die Tilgung seiner finanziellen Schwierigkeiten im Auge. Die Ringparabel spielt entsprechend zwischen diesem Nathan und diesem Saladin eine weniger übermächtige Rolle, als in anderen Inszenierungen.

Auch Steffi Krautz versteht es ihrer Figur neue Facetten abzugewinnen. Ihre Sultansschwester Sittah ist kein berechnendes Biest, sondern eine kluge Manipulatorin, eine moderne, emanzipierte Frau, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und zu ihrem Wort auch steht. Noch nie, so erscheint es einem, war eine Sittah so stark auf der Bühne. Claudia Sabitzer ist eine verbindliche Daja, die für alle nur das Beste will – auch für sich, mit der angedachten Ausreise nach Europa -, und von der man fast den Eindruck hat, dass sie den Nathan liebt. Sehr intensiv deutet Habjan mit seiner Arbeit darauf hin, wie die Menschen sich verstehen könnten, wenn die Systeme nicht wären.

Die Aufführung hat auch Humor. Der eine oder andere lapidar hingeworfene Satz, 1779 so wahr wie 2017, macht das Publikum lachen. Entzückend ist eine Rendezvous-Szene von Recha und dem jungen Tempelherrn, mit Kofferradio, Keksen – und der unvermeidlichen Daja als Anstandsdame. Katharina Klar spielt Recha als teenagerisches Trotzköpfchen, das sich auch zu Boden wirft, um seinen Willen durchzusetzen. Christoph Rothenbuchner stattet den liebesgierigen Ordensritter mit der Forschheit der Jugend aus, weiß aber auch pointiert Momente der Ohnmacht inmitten des Glaubenswahns anzuspielen. Stefan Suske schließlich ist der Klosterbruder, der die Verwicklungen einst ins Rollen brachte. „Was man ist und was man sein muss in der Welt, das passt ja wohl nicht immer“, sagt er an einer Stelle, an der er über den Juden Jesus philosophiert.

Der Patriarch von Jerusalem ist ein unversöhnlicher Fanatiker: die Puppenspielerinnen Steffi Krautz, Katharina Klar und Claudia Sabitzer mit Stefan Suske und Christoph Rothenbuchner. Bild: © www.lupispuma.com / Volkstheater

Die zweite Puppe, sie weiß einen Kurzauftritt effektvoll zu nutzen, ist der Patriarch von Jerusalem. An den Rollstuhl gefesselt, wird der alte, verbitterte Mann von einer Dreifaltigkeit der Frauen bewegt – Steffi Krautz ist Kopf und Stimme, Katharina Klar die linke, Claudia Sabitzer die rechte Hand.

Doch dass die drei Schauspielerinnen gleichsam die drei religiösen Varianten der einen Sache verkörpern, bringt den Fundamentalisten, der mit kühlem, pragmatischem Hass alles verfolgt, das nicht in seiner Richtung liegt, nicht von seinem rechten Weg ab. Dass die Puppenspieler und Puppenspielerinnen in schwarzer Kleidung als Individuen unkenntlich gemacht sind, erklärt Habjan im Programheft-Interview auch als Querverweis auf den Dresscode terroristischer Vereinigungen.

Lessings Ideendrama wird als das humanistische Werk gelesen, als der aufklärerische Appell für Gedankentoleranz. Und da sitzt ein Gottesmann mit böse blitzenden Augen, abstinent gegen alle Argumente, und hat für Nathan immer nur den einen Glaubenssatz: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt!“ Es gruselt einen vor der Grausamkeit der Puppe, deren Präsenz in diesen Augenblicken übermächtig, übermenschlich sowieso ist. Nikolaus Habjan holt das Publikum mit seinem düsteren „Nathan“ aus der Klassiker-Wohlfühlzone, er entzieht ihm die Möglichkeit des simplen Abnickens von Lessings froher Botschaft. Der Jude mit dem „Judenkoffer“, die Leben nur noch Schutt und Asche, das sorgt für Assoziation und Irritation. Draußen vorm Theater wurden all diese Anmerkungen Habjans laut weitergedacht, da hatten sich der Regisseur, sein Team und die fulminanten Schauspieler den tosenden Applaus aus dem Zuschauerraum aber schon abgeholt.

www.nikolaushabjan.com

www.volkstheater.at

Wien, 8. 4. 2017