Seefestspiele Mörbisch: Der König und ich

Juli 27, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Et cetera, et cetera, et cetera …

Mehr als 100 Mitwirkende: Das Ensemble mit Leah Delos Santos, Milica Jovanovic, Finn Kossdorff, Vincent Bueno und Marides Lazo. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

„In a show with everything but Yul Brynner“ landete Murray Head 1984 in seinem von Björn Ulvaeus und Benny Andersson (apropos: INFO) geschriebenen Song „One Night in Bangkok“. Nun, bei den diesjährigen Seefestspielen Mörbisch hat man mehr als würdigen Ersatz für den berühmtesten Glatzkopf der Welt gefunden: den aus Amsterdam stammenden Musicalstar Kok-Hwa Lie, der die Rolle des Mongkut bereits mehr als hundert Mal verkörperte – unter

anderem im London Palladium, wo er Generalmusikintendant Alfons Haider prophezeite, selbst einmal den König von Siam zu spielen, was tatsächlich ab 1998 der Fall war. Zusammengefasst heißt das: „Der König und ich“ 2022 bei den Seefestspielen Mörbisch, wo zusammenkommt, was zusammengehört. Die Aufführung, die geboten wird, ist wahrlich eine der Superlative: Mehr als hundert Mitwirkende aus zwanzig Nationen, der opulent glitzernde 28-Meter-Turm von Walter Vogelweider, der den königlichen Palast krönt, bis dato das höchste Bühnenbild in Mörbisch, 200 neu geschneiderte Kostüme von Charles Quiggin und Aleš Valaṧek, darunter Anna’s mehr als zwei Meter breites Ballkleid mit vergoldeten Orchideen. Ein Monumentalmusical in Cinemaskop! Eine Symphonie in Purpur, Rot und Gold.

Und immer wieder hinreißende Wasserspiele statt des obligatorischen Feuerwerks, dass die einzigartige Seewinkel-Fauna ohnedies nur verschreckt haben kann … Ja, Simon Eichenbergers Inszenierung bleibt vom ersten bis zum letzten Takt (musikalische Leitung: Michael Schnack) auf höchstem Niveau unterhaltsam. Dass man derlei auch anders interpretieren könnte, die toxische Männlichkeit Mongkuts, die kolonialistisch-überheblichen Briten, schließlich das Schicksal des Liebespaares Tuptim und Lun Tha hat man andernorts schon zeitkritischer gesehen (letzteres von Auspeitschung Tuptims bis Hinrichtung Lun Thas selbst bei weiland König Alfons) – doch passt das offenbar nicht zur lauen pannonischen Sommernacht.

Was also? Beruhend auf einer wahren Begebenheit schickt das Werk aus der goldenen Ära des Musicals von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II die Engländerin Anna Leonowens nach Siam, um den zahlreichen Kindern des Königs sowie seinen ebenso zahlreichen Frauen die westliche Lebensart beizubringen. Freundschaft, aber auch Hürden tun sich zwischen Anna und dem König auf: Von Kok-Hwa Lie keineswegs unsympathisch, sondern in seinem Eitler-Pfau-Sein durchaus satirisch dargestellt, changiert dieser König fast kindisch rechthaberisch zwischen alter Tradition und neuen Sichtweisen. Er ringt mit sich für ein modernes Siam – Hauptsache: „wissenschaftlich“.

Milica Jovanovic zeigt Anna als resolute, romantische Britin, die sich auf die schier aussichtslose Mission begibt, zumindest die Grundwerte von Demokratie und einen Hauch von Gleichberechtigung am Königshof zu etablieren. Sich vor dem König zu Boden zu werfen, danach steht ihr nicht der Sinn, sie hat keine Angst vor dem Despoten, ist ihr doch klar, dass sich hinter seiner herrischen Art auch die Hilflosigkeit angesichts eines sich verändernden Weltbilds verbirgt.

Der stolze König von Siam: Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Marides Lazo und Robin Yujoong Kim, hi.: Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Bereiten den Ball vor: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Schnell gewinnt die verwitwete Lehrerin ihre Schüler lieb, was sie in einer deutschen Version von „Getting to Know You“ mit musicalheller Stimme besingt. Ihr Repertoire sowie ihr komödiantisches Talent kann Jovanovic ebenso zeigen, wenn sie ihrer Wut über den chauvinistischen König in „Shall I Tell You What I Think of You?“ freien Lauf lässt. Ein Temperamentsausbruch der Extraklasse. Worauf eine der schönsten Melodien des Musicals ertönt, „Something Wonderful“, interpretiert von der stimmstarken Leah Delos Santos als Hauptfrau Lady Thiang, die Anna weibliche Schläue im männlichen Absolutismus lehrt, nämlich den König zu belehren, indem aus einem Rat ein „Ich rate, was Eure Majestät planen“ wird. Emanzipierter Beschützerinneninstinkt par excellence.

Das eigentliche Liebespaar, die dem König vom Nachbarn Burma geschenkte Tuptim sowie deren Überbringer Prinz Lun Tha, besticht zwischen den Massenszenen rund um die königlichen Kinder (Rosemarie Nagl, Hana Amelie Hrdlicka, Lilya Aurora Gasoy, Liam Kiano Therrien, Ciannyn Therrien, Lennyn Therrien, Tamaki Uchida, Yukio Mori, Dina Le, Nio Le, Yimo Ding, Daniel Avutov, Maximilian Chen, David Chen und Ivan Ramon Jacques) mit schmerzhaft intimen Momenten: Marides Lazo und Robin Yujoong Kim reüssieren bei „We Kiss in a Shadow“ und „I Have Dreamed“ vom Feinsten.

Vor allem Kim, dem mit seinem fülligen Tenor wie bereits 2019 am Neusiedler See als Sou Chong deutlich anzuhören ist, dass er ansonsten in Opernhäusern von Zürich, Dresden, der Dänischen Nationaloper bis zur Carnegie Hall mit Partien von Don Ottavio, Tamino, Ruggero bis Maler in „Lulu“ zu Hause ist. Der König nimmt Annas Unterstützung im Umgang mit der britischen Diplomatie (Dominic Hees als Sir Edward Ramsey) schließlich an, will er sich doch der in den Zeitungen des United Kingdom verbreiteten Behauptung widersetzen, er sei ein Barbar.

Die könglichen Frauen und Kinder mit Vincent Bueno und Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Erste Unterrichtsstunde: Milica Jovanovic und die königlichen Kinder. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Yuko Mitani, Gemma Nha, Ayane Ishakawa und die hinreißende Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Kein Kopf höher als der des Königs: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Auch an dieser Stelle bleibt der Mörbischer „Der König und ich“ weit entfernt von einer Aufarbeitung komplexer weltpolitischer Beziehungen. Ein Spiel, das mit einer auf dem Boden liegenden Anna endet, weil deren Kopf sich nicht über den des Königs erheben darf, fußt auf der Annahme einer dem Kulturen-Clash immanenten Komik. Eben alles im Geiste von original 1951. Regisseur Eichenberger setzt auf Frohsinn und leichten Humor. „Et cetera, et cetera, et cetera …“ wiederholt der König das erste neugelernte Wort bei jeder Gelegenheit. Annas europäisch „geschwollener“ Rock bringt seine Frauen zu dem Schluss, dieser entspreche ihrer Figur.

„Western People Funny“ intonieren Leah Delos Santos sowie die Nebenfrauen Hanae Mori, Aloysia Astari, Ayane Ishikawa, Jadelene Arvie Panésa, Kun Jing, Angelika Studensky, Xiting Shan, Yuko Mitani, Gemma Nha und Minori Therrien beim Anprobieren der Knopfstiefelchen – und wer die Namen der Mütter mit denen der Kindern vergleicht: Alfons Haider ist besonders stolz darauf, solche in echt gecastet zu haben. (Was einen ebenso für den Generalmusikintendanten einnimmt, wie die Tatsache, dass er statt zu Beginn lange Reden zu schwingen, in der Pause lieber alle RollstuhlfahrerInnen in der ersten Reihe nacheinander persönlich begrüßt.)

„Shall We Dance?“, die große Nummer im ausladenden Ballkleid, führt zu einem durchwachsenen Happy End, denn es wird Vincent Bueno als Kronprinz Chulalongkorn überlassen sein, das Reich an neue Herausforderungen anzupassen. Es freut einen, den so überaus begabten Songcontest-Teilnehmer 2021 nach www.mottingers-meinung.at/?p=21953 www.mottingers-meinung.at/?p=29226 www.mottingers-meinung.at/?p=22489 (und als Thuy in „Miss Saigon“ im Raimund Theater) erneut auf der Bühne zu sehen. Ein Bravo auch für Bariton Jubin Amiri, der sein Sologesangsstudium an der MUK just dieses Jahr abschloss, als Minister Kralahome und Musical-Quereinsteiger Lukas Plöchl als Priester Lun Phra Alack.

Fazit: Wie auch der Protagonist im Jahr eins mit Alfons Haider zeigen sich die Seefestspiele Mörbisch reformwillig. Die Regie hat für die erwartete beschwingte Hochstimmung gesorgt (wer sich erinnert: 1998 war man angesichts von Tod und Todschlag eher betroppezt vom Stockerauer Rathausplatz geschlichen), die Ausstattung und auch Choreograf Alonso Barras konnten sich nach Herzenslust austoben. Der Wow-Effekt war gelungen. Dass man heutzutage die Diversität von Kulturen anders, heißt: auch ohne gehobenen Zeigefinger, postulieren könnte … naja. Anno 2023 ist man diesbezüglich immerhin auf der sicheren Seite. Mekka des Musicals: Wir kommen! Und das darf man durchaus wunderbar finden …

Besucht wurde die Vorpremiere am 12. 7. 2022.

Alfons Haider als der König von Siam 1998. Bild: Screenshot ORF „Der König und ich – 2022 Mörbisch – The making of“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=qNuLZYXvp94          The Making Of: www.youtube.com/watch?v=vwKHHlvwlQc&t=4s          www.seefestspiele-moerbisch.at

INFO: Für den Sommer 2023 plant Generalmusikintendant Alfons Haider die Aufführung des ABBA-Musicals „Mamma Mia!“ – von 13.Juli bis 19. August. Kartenvorverkauf ab 1. September 2022, Vorreservierungen sind per E-Mail unter tickets@seefestspiele.at möglich.

13. 7. 2022

Neue Oper Wien: Death in Venice

Oktober 10, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Memento mori beim Strand-Dance-Battle

Alexander Kaimbacher als Gustav von Aschenbach, Ray Chenez als Apollo ad personam und Andreas Jankowitsch als mephistophelischer Dionysos. Bild: © Armin Bardel

„The Most Beautiful Boy in the World“, so der Titel des Dokumentarfilms, den Kristina Lindström und Kristian Petri just dieses Jahr beim Sundance Festival vorstellten, ein Biopic über den weiland Visconti-Auserwählten Björn Andrésen für die Rolle des Tadzio – dieser Rolle wird Rafael Lesage 50 Jahre später nicht mehr gerecht. Ein Glück. Der Sohn eines Tänzerpaars, der zunächst im Performing Center Austria HipHop-Klassen nahm, bevor er mit der Compagnie Diversity Queens und dem Studio Indeed Unique einige Preise gewann

(www.youtube.com/watch?v=KUSnQTYuIBc), ist längst kein schüchterner „Bub“ mehr. Sondern ein selbstbewusster junger Mann, der seinen Tadzio dementsprechend performt. Kraftstrotzend, arrogant, ein wenig aggressiv auch, sich seiner aufkeimenden Virilität und deren Wirkung auf dem ihm verfallenen, verfallenden Aschenbach bewusst. Mit dem er nonverbal sein homoerotisches Spielchen zu treiben scheint, sich sogar ein Buch des – heute würde man sagen – Bestsellerautors signieren lässt, ein Blick, ein lässig vom perfekten Body gestreiftes Handtuch, ein Beinah-Kuss. Als ob sich die morbide Schönheit Venedigs in ihm spiegeln würde …

Die Neue Oper Wien brachte im MuseumsQuartier Benjamin Brittens „Death in Venice“ zur dunkel-wuchtigen Premiere. Mit Intendant Walter Kobéra als Dirigent des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, in einer Inszenierung von Christoph Zauner, Bühne und Kostüme von Christof Cremer, womit das eine Dreigestirn der Aufführung genannt wäre. Eine Trinität, die Brittens Thomas-Mann-Vertonung als Aschenbachs albtraumhafte Gedankenreise, anders gesagt: mit dem vielgestaltigen Andreas Jankowitsch und dem Wiener Kammerchor als Totentanz anlegt.

Brittens letzte ist sozusagen eine „Große Kammeroper“, für die Kobéra eine charismatische Klangwelt, einen emotionalen Sturm aus 49 Musikerinnen und Musikern, davon fünf am Schlagwerk plus ein Paukist, zu entfesseln, jedoch in den intimen Momenten von Aschenbachs Innenschau zu bändigen versteht. In Brittens Kompositionsthriller mit Sog Richtung letalem Finale, dirigiert Kobéra Aschenbachs Gefangenschaft im Gefühlschaos, dessen Leidenschaft, Verwirrung und Verlust der Würde gleich einem fortwährenden Subtext.

Kaimbacher und Chenez als Lookalike-Apollo. Bild: © Armin Bardel

Rafael Lesage adoleszenter Tadio. Bild: © Armin Bardel

Countertenor Ray Chenez als Apollo. Bild: © Armin Bardel

Um diesen „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“-Zweikampf zwischen Ratio und Passio Gestalt zu verleihen, gesellt Regisseur Zauner Andreas Jankowitsch als Geck, Gondoliere, Hotelier, Coiffeur und Dionysos Countertenor Ray Chenez als Apollo bei – er optisch ein jüngeres Alter Ego des alternden Literaten, dem er in Permanenz und mit Drohgebärde die Schreibmaschine auf den Knien platziert. Zu alldem, der feinziselierten Charakterführung Kobéras wie Zauners, ihrer Achtsamkeit auf Gesten und den durchdachten Details, hat Cremer ein Setting erdacht, ein Labyrinth aus Venedigs Brücken und Badestegen, schmale Grate, auf denen es die Balance zu halten gibt, inmitten eines Meers aus Sand ist gleich Asche, umringt von den rostigen Wänden eines Schiffsbauchs, als hätte Aschenbach die „Esmeralda“ nie verlassen.

Derart als Memento mori, oder: eine Morbidezza nicht der Malerei, sondern der Morschheit der Moral, entspinnt sich ein Licht- und Schattenspiel. Fabelhaft Andreas Jankowitsch, der vom Gondoliere-Charon an Aschenbachs diabolischer Gegenspieler ist, der sich im Chor zu einem „Mein Name ist Legion!“ steigert. Diese Gesellschaft am Lido gehüllt ins Graublau der Serenissima-Tauben und umringt von grotesk-grausamen Gauklern und Schreckgespenstern wie Catalina Paz als Erdbeerverkäuferin oder Elisabeth Kirchner als Bettlerin im Namen ihrer verhungernden Kinder.

Die Cholera, Seuche das Bühnenthema 2021, sie klopft schon an die Tore der Lagunenstadt. Die Seemöwen die anfangs durchs Video segelten, sind längst deren wurmartigem Erreger gewichen, unter den Stegen wabern tödliche Dämpfe – die Cholera, sie ist gelb. Symbolik und Farbantagonismen als Metaphern für einen drangsalierten Geist, sie sind bei Zauner und Cremer großgeschrieben. Doch noch steht die Schlacht zwischen dem apollinischem und dem dionysischen Prinzip an, und an dieser Stelle gilt es endlich zu sagen:

Dies ist der Abend des Alexander Kaimbacher, der als Gustav von Aschenbach drei Stunden lang sängerisch höchstpräzise und schauspielerisch höchstpräsent mal mit metalischem, mal fragilem Timbre alles gibt. Sich in der Britten seinem Lebensgefährten Peter Pears auf den Leib geschneiderten Rolle entäußert, entleibt, sich von Zweifel über Verzweiflung zu Selbstzerfleischung aller darstellerischen Schranken entledigt, die Kalvarienberg-Stationen der Figur durchwandert, durchleidet, ein Faust auf der Suche nach und in ständiger Begegnung mit seinem Mephisto-Jankowitsch – selten ward psychische Zerrissenheit so nobel über die Rampe gebracht.

Wr. Kammerchor als Matrosen. Bild: © Armin Bardel

Lesage und Kaimbacher. Bild: © Armin Bardel

Die Straßensänger. Bild: © Armin Bardel

Und überall der schöne Jüngling. Bild © Armin Bardel

Fulminant! Kaimbacher mit Jankowitsch und Chenez das andere Dreigestirn der Aufführung, wenn die Götter um den Sterblichen ringen, dessen Bedenken ob seiner „ungesunden“ Begierde austricksen, wobei es – in dieser Interpretation wenig überraschend – der ewig strahlende Delpher sein wird, der seinem Schützling in den Schritt greift, eine orgasmische Petite-Mort-Szene, Aschenbach bald so kreidebleich wie des Dionysos‘ geisterhafte Gefolgschaft …

Viel gibt es bei dieser Arbeit der Neuen Oper Wien zu interpretieren und zu überlegen, etliche Einfälle gilt es noch zu würdigen. Etwa das Kräftemessen von „Tadzio“ Rafael Lesage und seinem besten Freund Jaschu aka der Latino-Wiener Luis Rivera Arias, das als Dance-Battle am Lido-Strand ausgetragen wird, als Trainerin und Trainer die Tänzerin Leonie Wahl (www.mottingers-meinung.at/?p=36197) und Tänzer Ardan Hussain, die Choreografie für Brittens konzertante Zwischenspiele, ein Sonnenbad, ein Wasserballmatch, ein Flanieren auf der Promenade, das Champagnisieren angesichts der Katastrophe: Saskia Hölbling.

Oder Kaimbacher-Aschenbachs Besuch bei Coiffeur-Jankowitsch, dessen schwarzer Frisiermantel sich mittels zweier Chormitglieder zur Tracht eines Pestdoktors, ja, zu einer bewegten Version von Rodins Höllentor steigert. Zum Schluss zieht der junge Apoll-Aschenbach gegen Tadzio eine Pistole, das stumme Objekt der Begierde, meint der vorherige, muss zur Beendigung der Qualen des derzeitigen Aschenbach weg … zu spät fürs Entkommen des Abyssos‘ und ergo keinesfalls mehr dazu. Außer einem: So steht’s im Libretto nicht. Und einem Bravissimo sowie der Empfehlung, sich diese bemerkenswerte Produktion anzuschauen.

neueoperwien.at          Video: www.youtube.com/watch?v=zAZIsnvhM-k

  1. 10. 2021

Hochwald: Evi Romens queerer Anti-Heimatfilm

September 15, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Parabel vom zernarbten Herzen

Thomas Prenn. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Eines Tages stellte sich ein junger Mann in die Mitte des Ortes und verkündete, er habe das schönste Herz im ganzen Tal. Da trat ein alter Mann aus der Menge und sagte: „Dein Herz ist lange nicht so schön wie meines!“ Die Menschen und der junge Mann blickten auf das Herz des Alten. Es schlug stark, doch es war voller Narben. Stücke waren herausgebrochen und andere eingesetzt, tatsächlich waren da tiefe Löcher, wo ganze Teile fehlten.

„Du machst wohl Witze“, lachte der Junge. „Vergleich dein Herz mit meinem: Meines ist vollkommen und deines ist längst kaputt!“ „Ja“, erwiderte der alte Mann, „dein Herz sieht vollkommen aus, aber ich würde doch niemals mit dir tauschen. Weißt du, jede Narbe in meinem, jede Lücke steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe.“ Diese Parabel erzählt der Imam Mario, als dieser in einer muslimischen Wohngemeinschaft in Bozen eine letzte Zufluchtsstätte findet. Da hat der gestrauchelte Traumtänzer die Talfahrt vom „Hochwald“ schon hinter sich, dies der Titel von Evi Romens wuchtigem Regiedebüt, das bei der diesjährigen Diagonale mit dem Großen Preis für den besten Spielfilm ausgezeichnet wurde und am Freitag in den heimischen Kinos anläuft.

„Hochwald“ ist ein queerer Anti-Heimatfilm über Außenseiter in ländlicher Gegend, kontrast- und mit seinen Irrungen, Wirrungen, Wendungen auch risikoreich, doch Regisseurin und Drehbuchautorin Romens Rechnung geht voll auf, ihr Kalkül Schwul-sein im südtirolerischen Katholizismus, das Gefühl des Deplatziert-Seins, islamistischen Terror und eine rettende Begegnung mit dem Islam auf einen Nenner zu bringen. Durch die Kamera von Martin Gschlacht und Jerzy Palacz präsentiert sich die Amour-Fou-Produktion stylisch, hipp, innovativ.

„Hochwald“ ist atmosphärisch dicht, mit psychologischer Präzision inszeniert und exzellent bildgewaltig fotografiert, und es ist der charismatische Hauptdarsteller Thomas Prenn als Mario, der 107 Minuten lang sein Innerstes nach außen kehrt, und diesem Film seinen schauspielerischen Stempel aufdrückt – wofür der 27-Jährige beim Österreichischen Filmpreis zum besten Hauptdarsteller gekürt wurde. Und so beginnt der Film: Selbstvergessen tanzt Mario im Mehrzwecksaal der Volksschule im fiktiven Südtiroler Dorf „Hochwald“, er trägt Latein-Tanzschuhe, also solche mit Absatz, und hat in seiner Sporttasche allerlei fancy Kostüme dabei.

Eine Karriere als Tänzer schwebt ihm vor, ein Ausbrechen aus der Enge, die ihn erdrückt wie seine Gelegenheitsjobs als Frühstückskoch im Nobelhotel oder in der Fleischhauerei des Stiefvaters Hermann, Würste abdrehen und Mutters Neuen wichsen. Da trifft er in der Dorfdisco Jugendfreund Lenz, Noah Saavedra, dieser nunmehr Schauspielschüler in Wien und auf dem Weg zu einem Casting in Rom, und wohl früher Marios Love Interest. „In Wien sind alle schwul!“ – „Aber bei uns hier nicht“, unterhalten sich Mario und Lenz kichernd und kiffend im eingeschneiten Auto vor der Kirche und unterwegs zur Christmette.

Thomas Prenn im Haufen von Marios fancy Kostümen. Bild: © Amour Fou

Thomas Prenn und Noah Saavedra. Bild: © Amour Fou

Mario fühlt sich nur in der Dorfdisco frei: Thomas Prenn. Bild: © Amour Fou

Doch gesagt, getan: der sensible, diverse Drogen drückende Mario wird den exaltierten Lenz nach Rom begleiten, der in sich gekehrte, nur im Tanz freie Schulwartssohn und der adelige, weltläufige Winzerspross, auch mit diesen Gegensätzen hantiert Evi Romen, wo sie am ersten Abend in einem Gay Club – gecastet: dessen echte Community – landen. Da passiert’s. „Allahu Akbar“ brüllende, vermummte Männer stürmen das Lokal, schießen wild um sich, Lenz ist tot … Für Marios Coming-Of-Age-Story bedeutet das ein Zurück in die gebirgige Düsternis, eine Konfrontation mit jener gnadenlosen Kleingeistigkeit, vor der seine sexuelle Orientierung nun offen ausgebreitet ist, hin zu Lenz‘ über dessen Homosexualität ahnungslose Eltern. Was Wunder, dass Mario seine Trauerarbeit im Volksschulsaal vor erschrockenen Taferlklasslern performt …

Zwischen den Anschuldigungen von dessen Mutter, Mario hätte Lenz Richtung Pfad der körperlichen Untugend verführt, und seines leiblichen Vaters: „Scheiß-Moslems, die g’hören alle darschossen“, in einer Abwärtsspirale ohne Ausweg, konfrontiert Evi Romen das Publikum nicht nur mit dessen eigenen Ressentiments, sie macht auch etwaige Erwartungshaltungen zunichte, wenn sie die Andersartigkeiten einander nicht abstoßen, sondern sich gegenseitig anziehen lässt. In Bozen nämlich, wo Mario sich in einem Nageldesignstudio unterm Ladentisch mit aufklebbaren Tips versorgt, trifft er nach einem „Schuss“ auf der Bahnhofstoilette Nadim, den er von seiner abgebrochenen Konditorenlehre kennt, und der sich dort fürs Gebet wäscht.

Josef Mohamed, in Wien bekannt als ausdrucksstarker Theaterschauspieler (Rezensionen: www.mottingers-meinung.at/?p=32241, www.mottingers-meinung.at/?p=36095), schlüpft in die Figur des Gratis-Koran verteilenden Nadim wie in eine zweite Haut. Überhaupt ist Hochwald bis in die Nebencharaktere brillant besetzt. Mit Claudia Kottal als Volksschullehrerin und Mutter von Lenz‘ Ausrutscher-Sohn, mit „Hochwürden“ Johannes Silberschneider und Marco Di Sapia als Lenz‘ Künstleragent, mit Ursula Scribano-Ofner als Marios Mutter, Helmuth Häusler als Vater und Hannes Perkmann als Stiefvater. Katja Lechthaler und Walter Sachers sind als Lenz‘ Eltern zu sehen.

Mit Ursula Scribano-Ofner. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Mit Josef Mohamed. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Mit Kida Kodhr Ramadan. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Josef Mohamed (li.). Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Sowie der libanesisch-deutsche Schauspieler und Szenestar Kida Kodhr Ramadan als Imam Mami, in dessen WG Nadim Mario mitnimmt, als der im Drogenrausch auf der Straße zusammenbricht. Es wird die dortige Friedlichkeit und Freundlichkeit sein, das Anerkennen seines Ichs, wie es ist – siehe: die Parabel vom zernarbten Herzen, in dem Mario Halt und Unterstützung findet. „Die Attentäter, des waren kane Muslime, der Islam isch a friedliche Religion“, sagt Nadim, und Marios Vater, als er auf den Armen des Sohns keine neuen Einstiche findet: „War des da Allah?“ Bis sich der nächste Dorfskandal entzündet: „Man hat dich gesehen! Mit den Muselmanen! Des isch pervers! Totalschaden, odr?“

Wie sie einen doch ins Visier nimmt, die Wegschau-, die Menschen-Wegwerf-Gesellschaft, Visier wortwörtlich, als Lenz‘ Vater vom Hochstand aus mit seinem Jagdgewehr auf Mario anlegt … Mit seinen Doppelbödigkeiten, den Doppeldeutigkeiten des Dorfdialekts, die Tabus, um die jeder weiß es, doch keiner beredet, mit seinem spröde erzählten Gefecht Einzelkämpfer gegen Kollektiv, mit dessen Zerrissenheit und dem Zwiespalt, der Gräben durchs Umfeld zieht, ist „Hochwald“ ein gelungenes Stück modernen Neorealismo.

Evi Romen kann Symbolik, die archaische Grundstruktur des Orts als Setting, ausgerechnet Religion als Befreiung von belastenden Glaubensmustern, als Talisman eine weißgelockte Perücke, die sich wie ein roter Faden durch den Film zieht, der Hochwald als Stätte der Transformation, und niemals bedient sie ein touristisches Südtirol. Dazu die stimmige Original-Musik von Florian Horwath, die’s hoffentlich bald auf CD gibt, und ein paar 1960er-Klassiker wie „Inch’Allah“ von Adamo.

„Hochwald“ lässt einen atemlos zurück, und mit viel Stoff, um darüber nachzudenken. Die Haken, die die Handlung durch die Unberechenbarkeit ihres Protagonisten Mario schlägt, lenken einen stets in eine neue Richtung, weg vom spezifischen Südtirol, hin ins Universelle. Im exzellenten Ensemble sticht einem Thomas Prenn als introvertierter Extrovertierter ins Auge, und ein solches sollte man auf den Südtiroler Schauspieler auch haben. Sein nächster Streich, „Große Freiheit“ von Sebastian Meise mit Franz Rogowski und Georg Friedrich, wurde dieses Jahr in Cannes in die Sektion Un Certain Regard eingeladen und mit dem Jurypreis ausgezeichnet.

www.facebook.com/hochwaldfilm          Trailer: www.youtube.com/watch?v=VlxjiJe-r1w&t=1s

  1. 9. 2021

Oper im Steinbruch St. Margarethen – live plus online: Turandot

Juli 16, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Pretiöse Prinzessin zwischen Elfenbeinschnitzereien

Martina Serafin als Turandot. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Ein Jahr musste das Publikum CoV19-bedingt auf diese „Turandot“ warten. Nun war man bei der Premiere am Mittwoch entsprechend erwartungsvoll – und wurde aufs Feinste überrascht. US-Regisseur Thaddeus Strassberger und sein Bühnenbildner Paul Tate dePoo, nicht zu vergessen der für die 117 teils 15 Kilo schweren Kostüme verant- wortliche italienische Designer Giuseppe Palella bieten ein Bühnenspektakel, wie man’s nicht alle Tage sieht.

In dem von kostbarerer chinesischer Elfenbeinschnitzerei inspirierten Setting tummeln sich Todesdämonen und Skelettschädel, Feuer-Ninjas und in Leder gekleidete Scharfrichterinnen, Akrobaten und Statisten im blauweiß der Ming Vasen, als in der Dynastie sehr beliebte Affenkannen gekleidete Tänzer servieren Tee und Opiumpfeifen, streng dreinblickende Laternenträger stolzieren im zweiten Akt durch die Sitzreihen.

So detailverliebt ist diese wie in den Felsen gemeißelte Fantasiewelt, das Reich von Kaiser Altoum von einer drehbaren Kugel symbolisiert, Turandot gefangen in der golden ausgekleideten Lade eines gigantischen Schmuckkästchens, dass man den Farbenrausch mit dem Auge kaum fassen kann. Die amerikanischen Lichtdesigner JAX Messenger und Driscoll Otto tauchen die Freilichtbühne und den Stein von St. Margarethen spektakulär in sich immer verwandelndes Licht.

Donata D’Annunzio Lombardi als Liù. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Turandot mit der Maske von Ahnfrau Lo-uling. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Benedikt Kobel als greiser Kaiser Altoum. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Wie praktisch also, dass die Inszenierung noch fünf Tage in der tvthek.orf.at und mindestens 30 Tage auf www.myfidelio.at zu streamen (mit deutschen Untertiteln) ist, so dass man vom burgenländischen großen Ganzen – 7.000 Quadratmeter Bühnenfläche gearbeitet, 50 Tonnen Gerüstkonstruktion, ein Gewirr aus Brücken und Treppen – nun via Bildschirm auf die Nahaufnahme zoomen kann. Das funktioniert – gestern erprobt – bei den packenden Bildern bestechend gut, die Aufzeichnung als Mehrwert zum Live-Erlebnis, etwa wenn der Mandarino per Geisterschiff, der fernöstliche Charon gewandet in einen Mantel aus Totenköpfen auf oder der Geist der tapferen Liù in ebendieser Barke von der Bühne gleitet.

Musikalisch überzeugt die Produktion, Dirigent Giuseppe Finzi, der Puccini-Fachmann erstmals in St. Margarethen am Pult, führt mit ruhiger Hand verlässlich durch die Aufführung. Das ungarische Piedra Festivalorchester ist den Solistinnen und Solisten ein aufmerksamer Partner. Ebenfalls hinter der Bühne singt – durchwegs eindrucksvoll – der Philharmonia Chor Wien unter Leitung von Walter Zeh.

Wer hier nun, inmitten der raumgreifenden Tableaus, seine emotionalen Mauern niederreißen muss, ist Martina Serafin, die Intendanten-Bruder Daniel Serafin als Turandot auserkoren hat. Die Turandot gilt als eine der Paraderollen der österreichischen Sopranistin. Sie hat sie bereits an der MET und in der Arena di Verona gesungen. Hier ist sie zunächst eine exzentrische Erscheinung, die sich die Alte-Frau-Maske ihrer Ahnfrau Lo-uling vors Gesicht hält, die grell geschminkte Greisin von vor 1000 Jahren: „Jetzt lebst du in mir noch einmal …“

Das Totenschiff des Mandarino. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Opulentes Bühnenbild. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Andrea Shin als Prinz Calaf. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Der kaiserliche Garten. Bild: © Esterhazy/Jerzy Bin

Die allmähliche Herzerweichung der Turandot vermag Serafin auch auf der riesigen Spielfläche zu vermitteln. Die stärksten Momente hat sie stimmlich in der ausdrucksstarken Mittellage, weniger in den expressiv-überspannten Spitzentönen -und für geschmeidiges Phrasieren bleibt im Wortsinn hier wenig Spielraum.

Unter den Sängern sticht Andrea Shin als Calaf hervor. Der hierzulande ausgebildete Südkoreaner meistert die Aufgabe, die wohl am häufigsten plattgewalzte Event-Arie zu beleben: „Nessun dorma“ klingt bei ihm gestalterisch durchdacht und auch in der Höhe souverän. Ein würdiger Partner für Martina Serafin, zwei stolze Protagonisten, die sich im Steinbruch begegnen.

Die am Premierenabend von Donata D’Annunzio gesungene Liù erhielt bereits beim ersten Auftritt Szenenapplaus. Die italienische Puccini-Spezialistin nützt ihre Auftritte für feine Linienführung und berührend gestaltete Zwischentöne. Alessandro Guerzoni als entthronter Timur ist ihr mit seiner mahnenden Bass-Stimme ein ebenbürtiges Gegenüber. Für die Rollen der Minister Ping, Pang und Pong konnten mit Leo An, Jonathan Winell und Enrico Casari ebenso profilierte wie spielfreudige Sänger verpflichtet werden. Mit Kammersänger Benedikt Kobel verleiht ein langjähriges/tragendes Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper dem greisen Kaiser Altoum Statur und Charakter. Ein beeindruckender Abend, der mit großem Jubel für alle Beteiligten endete.

www.operimsteinbruch.at      esterhazy.at           tvthek.orf.at/profile/Erlebnis-Buehne/13890354/Erlebnis-Buehne-Aus-der-Oper-im-Steinbruch-Turandot/14098791           www.myfidelio.at

  1. 7. 2021

Kammerspiele: Monsieur Pierre geht online

Oktober 30, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der diskrete Charme des alten Grantscherm

Kongeniales Herrendoppel: Wolfgang Hübsch und Claudius von Stolzmann. Bild: Rita Newman

Ach, man ist ja sowieso befangen, weil man erstens den Film mit Pierre Richard schon so gemocht hat, und zweitens … Wolfgang Hübsch! An den Kammerspielen der Josefstadt brilliert dieser nun als Protagonist in „Monsieur Pierre geht online“, der Theateradaption jener französischen Filmkomödie, die Stéphane Robelin vor drei Jahren dem „großen Blonden“ auf den Leib schrieb (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=25662), und

Hübsch mit seinem Grantscherm-Charme ist einfach hinreißend. Wie er als Pierre über die Bühne tänzelt, wenn’s nach seinem Willen geht, wie den sein Rückenleiden immer dann ereilt, wenn’s für ihn zum Vorteil ist, Hübsch gibt sich als kauziger, verschmitzter, schlitzohriger Komödiant, der wie jeder Meister dieser Disziplin auf die Melancholie nicht vergisst. Zwar ist er kein „Pierrot“ wie der Richard, auch wenn dies sein Nickname ist, und bei weitem kein sanftmütiger Schalk. Nein, der sitzt Hübsch vielmehr im Nacken, wenn er als manipulativ mitleidheischender Miese-Peter die Wiener Variante des Pariser Witwers gibt.

Monsieur Pierre also hat im Leben nur noch das eine Interesse, sich alte Filmaufnahmen seiner verstorbenen Frau anzuschauen. Nichts treibt ihn mehr vor die Tür, er bunkert sich ein in seiner Wohnung und seiner Trauer und verwahrlost zusehends. Weshalb Tochter Sylvie einen sinistren Plan schmiedet: Der neue Freund ihres Nachwuchs‘ Juliette, ohnedies ein nichtsnutzig-arbeitsloser Autor, soll dem Alten Unterricht in Sachen Internet geben – ohne, dass der von Alex‘ Verhältnis zu Juliette weiß.

Nach Einstiegsschwierigkeiten flutscht das Ganze, und Pierre macht in einem Datingportal die Bekanntschaft von Flora. Er verliebt sich, doch kann er sich nicht als 80-jähriger Zausel enttarnen. Also muss Alex zu seinem Fleisch und Blut werden, während er selbst aus der Deckung immer gewagtere, intimere Postings abschickt. Klar, dass das nicht gutgehen kann … Eine moderne Cyrano-Erzählung war das weiland bei Robelin, worauf Regisseur Werner Sobotka aber weitestgehend verzichtet.

Was Wunder, hat er Wolfgang Hübsch mit Claudius von Stolzmann als Alex doch einen kongenial schöngeistigen Konkurrenten im Kampf um Floras Gunst an die Seite gestellt. Die fabelhafte Textfassung von Folke Braband beschert dem Ensemble ein Powerplay an bissigem Pointen-Ping-Pong, der Dialog analog-digital macht einen Gutteil des Humors aus. Dessen missverständliche Untiefen durchwaten die Darsteller mit sichtlichem Vergnügen. Sagt Alex, Pierre müsse ein Fenster öffnen, fragt der: „Im Schlafzimmer?“ – und persönlicher Favorit ist dessen Ansage, er hätte etwas auf „Goggl Mops“ gefunden.

Susa Meyer als selbstgerechte Tochter Sylvie. Bild: Rita Newman

Monsieur Pierre fesch und auf Freiersfüßen. Bild: Rita Newman

Martina Ebm gibt sich ganz mädchenhaft. Bild: Rita Newman

Werner Sobotka hat für Wolfgang Hübsch mit Witz und Herzenswärme und viel Sinn für Details ein Virtuosen-Stück voller Zwischentöne inszeniert, hat sich behutsam dem Thema Alterseinsamkeit gewidmet, dazu Aktuelles von Homeoffice bis Zoomkonferenz eingeflochten, und es ist wunderbar, wie der Musical- und Operettenaffine diesen Abend zum Walzertanzen bringt. Das Bühnenbild von Walter Vogelweider wechselt von Pierres staubiger Bücherhöhle zum kühlen Neonchic von Sylvies Apartment und der Brüsseler Bar, in der Pierre/Alex Flora zum ersten Mal trifft. Auf kleinen Videowänden allüberall läuft der Chat, poppen Portale auf, wird geskypt.

Und noch einmal: Welch ein Paar, Hübsch und von Stolzmann, deren Beziehung sich sozusagen vom Duett zum Duell, von der Männerverschwörung zum gegenseitigen Fallensteller zum von der Damentrias in die Ecke argumentierten und alsbald aufgeflogenen Schwindler-Duo entwickelt. Pierre und Alex schenken einander mit ihren eifersüchtigen Aktionen nichts und Hübsch und von Stolzmann damit alles, wenn sie das Lügenmärchen des anderen derart aufbauschen, dass der nicht mehr weiß, wie raus aus der Sache.

Buchhändler Pierre gibt sich bei Flora als Sinologe aus, womit er Alex von dessen Computer-Fachchinesisch in die Zwickmühle eines falschen Mandarin bringt, aus Rache macht der aus dem „Großvater“ einen Vulkanologen, worauf Pierre für Flora in Windeseile ein paar Lava-Abenteuer erfinden muss. Herrliche Szenen sind das, wenn Pierre von Langzeitloser Alex mehr Selbstbewusstsein fordert, „Wie steh‘ ich denn sonst da!“ und „Hoffentlich ist sie nicht enttäuscht!“, oder wenn Sylvie für den Vater schon ein Altersheim ins Auge fasst, und ihn schließlich fesch und auf Freiersfüßen wiederfinden muss.

Verblüfft von der weiten Welt des Webs. Bild: Rita Newman

Die Chat-Kulisse. Bild: Rita Newman

In der Zwickmühle schmerzt der Rücken. Bild: Rita Newman

Familienverhör, re.: Larissa Fuchs. Bild: Rita Newman

Susa Meyer gibt diese Sylvie mit dem Beamtenpragmatismus einer, auf deren selbstgerechten Schultern die ganze Familie lastet. Großartig, wie ihre Moralvorstellungen als schlüpfrige Gedanken auf und davon galoppieren, glaubt sie doch in Physiotherapeutin Flora eindeutig eine „Masseuse“ zu erkennen. „Monsieur Pierre geht online“ ist ein Verwechslungsschwank vom Feinsten, Wortverdreherei par excellence, die Situationen durch ihre Fehldeutungen „Spiel, Satz & Sieg“ in der Schwebe gehalten, ohne jemals auf plumpen Boden zu prallen.

Martina Ebm stattet Flora mit genau der ernsthaft romantischen Mädchenhaftigkeit aus, der man zutraut, in Pierre eine neue Jugendlichkeit und in Alex den draufgängerischen Liebhaber zu entfachen. Die Juliette von der mit Lebenspartner Johannes Krisch ans Haus gewechselten BE-Schauspielerin Larissa Fuchs wird von Anfang an auf die Art Karrierebiest getrimmt, von dem Alex ein Abschiednehmen nicht schwerfallen kann.

Keine Angst, für alle gibt’s ein Happy End. Pierre, Sylvie und Juliette sind nämlich eine David-Trauergemeinde, Juliettes Ex, der nach Shanghai gegangen ist, und mit dem – Martin Niedermair – sie immer noch videotelefoniert. Weshalb Alex zum Gaudium des Publikums mit glühenden Ohren die schlimmsten Dinge über sich und sein Schmarotzertum in Sylvies „Hotel Mama“ hören muss, bis David nach Paris zurückkehrt. Für Pierre hat Alex den gleichen Schabernack parat, wie der zuvor für ihn. Und schließlich öffnet auch Sylvie das Tor zum Datingportal …

Für einen Moment zugeschaltet hat sich in seiner Aufführung auch Werner Sobotka als Fernsehmacher Frederic, der von Alex Pitches für eine Gerichtsmediziner-Serie fordert, etwas, das die alten Zuschauer nicht vergrault und die jungen dennoch unterhält. Das scheint wie ein Motto über diesem rundum geglückten, supersympathischen „Monsieur Pierre“ zu stehen, dem man auch nach dem morgigen Samstag noch viele Vorstellungen wünscht.

Video: www.youtube.com/watch?v=988WHzW-w2w           www.josefstadt.org

  1. 10. 2020