VON MICHAELA MOTTINGER
Die „Armenleute-Krott“ als Chronistin des Arbeiterelends
Als 1984, elf Jahre nach Christine Lavants Tod, ein erster literaturwissenschaftlicher Sammelband ihres Werks erschien, enthielt dieser keinen Beitrag zu ihren Erzählungen. Wohl aber eine Wortspende des deutschen Linguisten Harald Weinrich, die der Autorin jede Legitimation zur Prosa aberkannte. Von einem „dumpf-demütigen Geisteszustand“ ist da die Rede, von der Rückgängigmachung der europäischen Aufklärung, vom Hinnehmen und Dulden aller Mächte und Herrschaften. „Selten hat jemand, das Ziel vor Augen, ärger danebengetroffen“, schreibt Klaus Amann dazu. Weinrich verwechselte die Befangenheit von Lavants Figuren mit den Anschauungen der Autorin.
Ein Fehler, dem auch das Werk von Lavant-Verehrer Thomas Bernhard immer wieder unterworfen wird. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Die Kärntner „Armenleute-Krott“ ist eine streitbare Anwältin eben dieser. Mit ungeschöntem Realismus schreibt sie über Arbeiterelend und das schwere Leben des Kleinstbauernstandes. Sie steht auf gegen die Ungerechtigkeit dessen, was sich Schicksal nennt, tatsächlich aber von Obrigkeiten verschuldet ist. In ihrer Auflehnung gegen die höchsten, bis hin zu Gott, stehen die Erzählungen ihrer Lyrik in nichts nach. Lavants markante und widerspenstige, gleichsam aber poetische Prosa schnürt einem beim Lesen den Hals zu. Dass man diese Mark-und-Bein-Erfahrung nun wieder machen kann, ist dem Wallstein Verlag zu danken, der sich der gefeierten Lyrikerin in einer vierbändigen Werkausgabe nähert.
Nach den „Zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichten“, erschienen 2014, liegen nun die „Zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen“ vor. Neben Lavants ersten Büchern „Das Kind“ (1948) und „Das Krüglein“ (1949) enthält der Band „Thora und die Rosenkugel“ (1956), die beiden Sammlungen „Baruscha“ (1952) – der titelgebende ist Lavants Lieblingstext – und „Nell“ (1969) sowie die verstreut publizierten Erzählungen. Das Nachwort des oben zitierten Herausgebers Amann gibt Einblicke nicht nur in die Arbeits-, sondern auch die Lebensweise der Autorin. Der Wiedererkennungswert in den Erzählungen ist hoch, denn Lavant, was sie an sich selbst immer wieder kritisierte, schrieb Gedichte und Geschichten nur über Zustände, die sie auch kannte. „Das Kind“, in der sie ihre eigene Skrofulose-Erkrankung verarbeitet, und „Das Krüglein“, in der sie als Personal ihre ganze Familie nebst Verwandtschaft auffährt, sind im besten Sinne autobiografisch zu nennen. Weshalb sich die Thonhauserin ursprünglich auch den „Decknamen“ Lavant gab.
Doch die aus der Wirklichkeit geschöpften klaren Worte sorgten auf dem Dorfe für mehr Unmut als Lavants enigmatische, ergo schwerer zugängliche Verse. „Ich wagte mich nahezu nicht aufs Postamt weil ich fürchtete die Kirchleute zu treffen. Bekannte Bauersleute, die alle – seit hier das ‚Krüglein‘ bekannt geworden ist – eine Riesenwut auf mich haben“, steht in einem Brief an eine Freundin. Und weiter: „Das ist das Schwere wenn man als Dichterin nur aus der Wahrhaftigkeit etwas holen kann, dass man dann Vorgänge blosslegt und in die Öffentlichkeit bringt, die besser verborgen bleiben.“ Lavants Thema sind großenteils Kindernöte in einer Welt der Erwachsenen. Sie hat ein Herz für die hässlichen, hasenschartigen, die die Schikanen über sich ergehen lassen müssen, die sich die Jungen von den Alten abgeschaut haben. „Der Knabe“ flüchtet sich deshalb mit „Indianertschako“ in eine „Old Schatterhand“-Fantasie, „Thora“ spielt die vornehme Dame. Was beides in der Umgebung noch mehr Unverständnis erzeugt.
Kaum auszuhalten ist das, wie bei Lavant die Leut‘ brutal oder bigott werden, so hart wie ihre nackte Existenz. Die Menschen sind ihrer Sprache beraubt, in wunderbaren Kunstgriffen ändert die Autorin oft mitten im Satz die Erzählperspektive, um das Stumme, Versteinerte, das „Naive“ im Ausdruck ihrer Wortwucht gegenüber zu stellen. Die Gesellschaft ist beherrscht von Aberglaube und der Ausgrenzung alles „anderen“, so hat man’s vom Herrn Pfarrer und vom Herrn Bürgermeister gelernt. „Denn ’nur die Gerechten werden in das Himmelreich eingehen‘, hat der Herr Pfarrer gepredigt. Aber, dann wird ja der Oberlehrer auch zu uns kommen? Der ist ja ungerecht! Der gibt bloß den Bauernkindern, die was bringen können, alles Einser“, philosophiert „Das Kind“. Eine Frau, die das x-te gebiert, überlegt, wie sie ihre älteren Töchter und Söhne aus der Stube bringt, um bei diesem Akt möglichst unauffällig allein zu sein. Ein Bub, an die reiche Tante „verkauft“ und von dieser gequält, lässt dafür Tiere leiden. „Und die Mutter weiß immer nicht, wie die Stube bezahlen und die Milch. Und das Fleisch und das Brot wird auch immer teurer … beim Stricken in der Nacht verdient man ja nicht einmal so viel wie’s Schwarze unterm Fingernagel. Sagt die Mutter.“
In einem Anhang werden Lavants Dialektausdrücke erklärt. Viel Vergessenes findet sich wieder. „Behüt‘ euch Gott mit Rosenwasser“, tatsächlich eine harsche Aufforderung nun bitte endlich das Feld zu räumen, hat man zuletzt in den 1980ern die oberösterreichische Urgroßmutter sagen hören. „Dreckleiten“, von einem deutschen Verleger einst zu „Dreckleiter“ verschlimmbessert, meint einen schwer zu erklimmenden, weil steilen Berghang. Die Herausgeber haben sich durch Typoskripte und handschriftliche Ergänzungen, die Lavant hatte nicht immer eine Schreibmaschine zur Verfügung, sie musste sich eine borgen, geackert, um ein möglichst authentisches Bild der Texte zu erstellen. Wie mündlich erzählt soll es sich lesen, denn Lavant wies immer wieder darauf hin, dass für sie die Prosa die Fortsetzung des mündlichen Erzählens ist. Und wie wichtig ein derartiges Weitergeben von Geschichten in ihrer Familie war.
In der „Landes-Irrenanstalt“ in Klagenfurt – 1935 hatte sie versucht sich mit dem Schlafpulver ihrer Mutter zu töten – begann Christine Lavant mit dem Aufschreiben der Geschichten. Im Dorf hieß es, „die spinnt“, erzählte sie später in einem Interview. Man fürchtete die kettenrauchende, dichtende „Verrückte“. Und als ihre älteste Schwester sie im Anschluss-Österreich wieder in die Nervenklinik einweisen wollte, verstummte die Autorin. Im „Mustergau Kärnten“ wurde die Euthanasie, die massenhafte Ermordung körperlich und geistig Kranker besonders eifrig betrieben. Lavants panische Angst davor ist mehrfach bezeugt. Erst 1945 begann sie wieder zu schreiben, „wie rasend“, „wie eine Besessene“. Dass die Prosa dabei zeitlebens nie gegen die Lyrik reüssieren konnte, von „Baruscha“ wurden 790 der 3000 gedruckten Exemplare verkauft, von „Nell“ 770, ist ein Versäumnis, das nun auf höchstem Niveau nachgeholt werden kann. Lavants Geliebter, der Maler Werner Berg, schrieb ihr einmal über die „Merkwürdigkeit Deiner Modernität“. Nun ist es hoch an der Zeit, diesem Mix aus Kitsch und Kolportage, aus Hochmut und Demut, aus krudem Naturalismus und fantastischer Imagination, den Lavant aufbietet, um die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer „Mühseligen und Beladenen“ zu illustrieren, ihrem Sprach-Sarkasmus und ihrer feinen Ironie in der Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse, die ihnen zustehende Reverenz zu erweisen.
Über die Autorin:
Christine Lavant (machte den Namen ihres Heimatflusses zum Pseudonym), eigentlich Thonhauser, verheiratete Habernig, geboren 1915 in St. Stefan im Lavanttal, Kärnten, als neuntes Kind eines Bergmanns und einer Flickschneiderin, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt unter anderem den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Zeit ihres Lebens von körperlichen und seelischen Leiden gepeinigt, starb sie 1973 in Wolfsberg. Ein Gutteil ihres literarischen Nachlasses ist noch nicht veröffentlicht.
Wallstein Verlag, Christine Lavant: „Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen“, 800 Seiten. Herausgegeben von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. Reihe: Christine Lavant: Werke in vier Bänden (Hg. von Klaus Amann und Doris Moser. Im Auftrag des Robert-Musil-Instituts der Universität Klagenfurt und der Hans Schmid Privatstiftung); Bd. 2
www.wallstein-verlag.de
Mehr zu Lavants Lyrik, Rezension Bd. 1: www.mottingers-meinung.at/?p=14452
Derzeit am Volkstheater: Lavants „Das Wechselbälgchen“, Rezension www.mottingers-meinung.at/?p=16498
Wien, 19. 1. 2016