Milla meets Moses

Oktober 28, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Kurz vor dem Ende kommt die erste Liebe

Eliza Scanlen als Milla. Bild: © Lisa Tomasetti

Doch, die Bahngleise scheinen sie magisch anzuziehen, wenn man vermuten möchte, dass ihr leerer Blick auf diese gerichtet ist. Springt sie? Spricht sie gerade mit sich selbst? Keine Zeit mehr. In doppelter Hinsicht. Denn an ihr vorbei rennt ein junger Mann; der zugedröhnte Junkie rempelt sie an, sie fällt hin, er kann vor dem einfahrenden Zug grad noch stoppen, und breitet die Arme aus. Schützt er sie oder sich? Keine Frage, Moses wird zum Lebensretter – nicht nur für Milla.

Mit ihrem Spielfilmdebüt „Milla meets Moses“, englisch: „Babyteeth“, überraschte die australische Theater- und TV-Regisseurin Shannon Murphy im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Venedig Presse und Publikum. Weil ihr hier etwas schier Unmögliches gelingt – nämlich von einem 15-jährigen krebskranken Mädchen zu erzählen, dass seinen bevorstehenden Tod mit einer überbordenden Fülle an Daseinslust wegschiebt.

Der am Freitag anlaufende Film ist an keiner Stelle Betroffenheitskino. Ist keine Tränendrüsentragödie. Ist kein steril-weißes Krankenhausdrama mit Infusionsschläuchen und Chemo-Kotzen, nichts würde Milla weniger dulden als Selbst-/Mitleid, sondern eine sehr besondere Coming-of-Age-Geschichte. Über all die Emotionen, Sehnsüchte und Ängste, die eine erste Liebe so mit sich bringt. Dass das gelingt, ist selbstverständlich der australischen Autorin und Schauspielerin Rita Kalnejais geschuldet, die ihr in Sydney ausverkauftes Theaterstück in ein Drehbuch verwandelte.

Aber auch den beiden jungen Schauspielern Eliza Scanlen und Toby Wallace, sie schon in „Little Women“ an der Seite von Saoirse Ronan und Emma Watson aufgefallen, er wie jeder gute Down-Under-Durchstarter seit weiland Kylie Minogue „Neighbours“-geprüft und für seine Darstellung des Moses am Lido mit dem Marcello-Mastroianni-Preis ausgezeichnet.

Mädchen in properer Schuluniform meets gepiercten, tätowierten, obdachlosen Punk. Da müssen deren Eltern erst einmal schlucken, auch an Millas neuer Fisur, die Moses mit der Pudelschermaschine seiner Mutter zugerichtet hat – dass Eliza Scanlen für ihre Rolle die Haare bis zur Glatze lassen musste, war part of the job -, und Shannon Murphy taucht erstmals in ihre Erforschung dysfunktionaler Familien ab, als Moses‘ Mutter beim Ertappen ihres Sohnes im Eigenheim nach der Polizei ruft.

Toby Wallace als Moses. Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Auch im Hause Finlay sind die Gefühle schockgefrostet. Mit Empathie nähert sich Murphy dem Ehepaar Anna und Henry, Essie Davis und Ben Mendelsohn, denen man erstmals beim Misslingen ihres Therapiesitzungssex‘ begegnet, ist Henry doch Psychiater und die zu überdrehten Übersprungshandlungen neigende Anna von ihm mit ausreichend Psychopharmaka versorgt. Im heimeligen Vorort-Domizil in St. Ives herrscht allgemeine Überforderung in der Übung, auf „normal“ zu machen, was ebendieses nicht ist.

Anna flüchtet sich in den Psychorausch, und ist damit um nichts weniger drogensüchtig als Moses, Henry sich ins Phlegma, doch weder mit Mutters hysterischer Fürsorge noch mit Vaters brüchigem Gleichmut ist Milla, Eliza Scanlen grandios als ruppige, dem Krebs gegenüber erfurchtslose, um keinen Preis „leidend sein“, sondern ihren Krebs-Kokon sprengen wollende Jugendliche, geholfen. Dazu braucht’s den mit seinen 23 Jahren laut Elten für Milla „natürlich viel zu alten“ Moses, der ihnen vor Augen führt, dass die Tochter kein Krankheitsfall, sondern auf dem Weg zur Frau ist.

Kalnejais’ scharfkantiger Ton dringt nicht nur durch die Dialoge der Figuren, ihr skurril-subversiver Humor findet sich auch in den Kapitelüberschriften wieder, die die Szenen verbinden. „Dieser Moses hat Probleme!“, schreit die Mutter, „Ich doch auch!“, die Tochter, nachdem dieser erstere mit einer Fleischgabel bedroht hat, ertappt beim Versuch, erst ihren Eiskasten, dann ihren Medikamentenschrank leerzuräumen.

Milla macht klar: Moses bleibt! Dahin führt’s, liberale Eltern zu sein: das Establishment holt sich den Gegner in seine Mitte, fulminant spielen das die Vier, vor allem Toby Wallace. Wann immer er auf den Plan tritt, übernimmt der Film seine mitreißende, durchaus charmante Impulsivität, der Witz und der Schmerz dabei feinfühlig ausbalanciert, der Kampf wohl aller Eltern gegen Töchterchens erste Teenagerliebe in extremo, dann wieder ein „Wie verlassen und allein kann man sein?“ mal vier.

Großartig dazu das erste Familienabendessen, Anna, die depressive Ex-Konzertpianistin hat sich zu Mozarts Requiem dicht gemacht, Henry, mittlerweile zuckt er zusammen, wenn sie seinen Namen nur ruft, sich mit einer Dosis Morphium beruhigt, Milla laboriert an der Wirkung neu verschriebener Tabletten, Moses ist sowieso hinüber – und irgendwann fragt man sich, wer am Tisch von welcher Droge am meisten high ist.

„Familienidyll“: Essie Davis als Mutter Anna, Toby Wallace, Eliza Scanlen und Ben Mendelsohn als Vater Henry. Bild: © Filmladen Filmverleih

„Kein Mann hat seiner Frau zu sagen, wann sie ,durchdrehen‘ darf“, ätzt Anna Richtung Henry, „Ich kann dich nicht leiden, aber Milla hält dich für etwas Besonderes, und ihr sollte die ganze Welt zu Füßen legen“, knurrt der Richtung Moses. Großes Kino, wie Ben Mendelsohn und Essie Davis in der stummen beziehungsweise hypernervösen Verzweiflung ihrer Figuren aufgehen. Wie ein Bewegungsmelder ortet die Kamera von Andrew Commis kleinste Regungen, Blicke, Stimmungen, die hier Kettenreaktionen auslösen. „Wickedly perverse and intensely moving“, nannte die Variety seinen eindringlichen Blick.

Nach dieser heftigen Begegnung lässt sich Milla mit Moses, und plötzlich ist er der ruhende Pol des Ganzen, durch die Nacht treiben. Endlich wieder einmal Party! Und die Kamera zieht mit. Eine Begegnung mit einem Künstlerinnen-Alter-Ego und zu viel Wodka wird für sie zu einer Art Befreiungsschlag, während Moses bei den Finlays eine ungeahnte Geborgenheit, ein endlich Aufgehobensein zu erspüren beginnt.

Wie Milla und Moses lebt der Film von Tag zu Tag, von Situation zu Situation. Zur Überschrift „Romanze“ rangeln die Frischverliebten am Pool. Milla entdeckt ihre Körperlichkeit und, dass Moses‘ von der Sucht ausgemergelter Leib um nichts weniger fragil ist als ihrer. Zu „Die neue Chemo beginnt“ verliert Milla ihre Haare, und wird nun in der Schule eine brave blonde Langhaarperücke tragen, im Club aber einen wilden grünen Bob. Zu „Just Another Diamond Day“ schließlich wird Milla Moses um Sterbehilfe bitten, und, wie schön ist das, der Film lässt offen, ob.

Der Krebs ist im Film, und genau das macht ihn so verheerend berührend, und nicht umsonst nennt ihn Shannon Murphy „eine herzzerreißende Komödie“, der Krebs also ist im Film der Katalysator. Der alle in seinem Umfeld dazu bringt, die Dinge neu und von vorne anzugehen. „Milla meets Moses“, ein Carpe-Diem-Aufruf an uns alle.

Der Filmschluss zeigt folgerichtig kein wie-auch-immer Ende, sondern Millas Geburtstagsfeier. Moses‘ kleiner Bruder Isaak wurde von der Mutter dafür freigegeben, die hochschwangere, alleinstehende Nachbarin Jenny, Millas Violinlehrer Gidon und ihre Schulfreundin Scarlett sind in den unorthodoxen Familienverband aufgenommen. Und plötzlich beginnt Millas letzter, längst überfällig Milchzahn, ihr letzter Babytooth zu wackeln.

www.x-verleih.de/filme/babyteeth           www.babyteeth.movie           www.youtube.com/watch?v=M6E8gPmz7n4

28. 10. 2020

Bronski & Grünberg: Die roten Augen von London

Januar 7, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der ultimative Edgar-Wallace-Irrwitz

Die üblichen Verdächtigen: Daniela Golpashin, Elias Krischke, Dominic Oley, Gerhard Kasal. Elisa Seydel, Fritz Hammel und Kimberly Rydell. Bild: © Philine Hofmann

„Hallo, hier spricht …“ muss selbstverständlich der erste Satz sein, auch wenn vors „frei nach“ nicht weniger als sieben sehr geschrieben sind. Fürs Bronski & Grünberg hat sich Theaterdreifaltigkeit Dominic Oley diesmal einen Edgar-Wallace-Fall zur Brust genommen, hat aus den toten „Die roten Augen von London“ gemacht – und die Story um eine blinde Verbrecherbande mit dem ihm eigenen, heißt: Wahn- wie Hintersinn, bronskifiziert. A Show with everything but Ady Berber!

Die Jahresauftaktpremiere an Wiens erster Adresse für Progressiv-Boulevard ist auf Hochglanz gewixxt, Slapstick, Satire, Nebelschwaden, mit elegant-ernsthafter Einfassung an den Rändern. Es ist bemerkenswert, wie mühelos es Autor-Regisseur Oley gelingt, dem Krimi, vor allem der in punkto Skurrilität – ob Augenzwinkern, ob Unvermögen? – nicht festzumachenden Verfilmung, an Irrwitz eins draufzusetzen. Textzeilen wie, Chefinspektor Larry Holt: „Heute Morgen wurde wieder eine Leiche aus der Themse angeschwemmt.“ Sergeant Harvey: „Empörend! Wird denn in diesem Land überhaupt niemand mehr erschossen?“, muss man erst einmal toppen.

Die Aufführung fährt von Anfang bis Ende in Höchstgeschwindigkeit, der Wortwitz fliegt tief, bitte raten, was sich gunstgewerblerisch auf Roger Moore reimt, und apropos: Unvermögen, klar wird sich in diesem Spiel um Sex & Drugs & großes Geld auch ins Politische verbissen – ganz nach der Bronski-Parole, in Zeiten wie diesen, ist es Zeit für die Komödie, denn die Komödie ist immer noch der Glauben an das Gelingen in dieser Welt. Und so werden nun in der Müllnergasse so steinreiche wie steinalte wie mausetote Männer aus der Themse gefischt, offenbar ertrunkene Millionäre mit abnormal geröteten Augen.

Für Scotland Yard und seine Führungsspitze ist das eine verflixte Sache, ist die brillanteste Doppel-Null-Agentin doch auf Zwangsurlaub geschickt worden, nachdem sie die Innenministerin beim Staatsverhökern auf einer spanischen Insel beschattet hat. Meanwhile muss eine ambitionierte, kleine West-End-Bühne mangels Subventionierung beinah schließen, doch wird der selbstironische Seitenhieb von einem geheimnisvollen Spender abgefangen, der dem Theater allmonatlich einen großzügigen Betrag überbringen lässt.

Bild: © Philine Hofmann

Bild: © Philine Hofmann

Bild: © Philine Hofmann

Von einem – Achtung! – blinden Boten, womit die Spur ins nächstgelegene Blindenheim führt, das sich zufällig im selben Haus befindet, wie jene Assekuranz, bei der die ums Leben gebrachten Geldsäcke versichert waren. Während eine Todesliste in Brailleschrift auftaucht, unpassende Aphorismen gerade noch die Kurve kratzen, und die neurotisch-erotische Superermittlerin Colt, Kimberly Rydell, ihr Pantscherl mit dem Chefpathologen Stefan Lasko pflegt, muss der in erster Linie mit Ehefrau und Einkäufen bei Carrotts beschäftigte Polizeichef Fritz Hammel – „Meine Fresse, die Presse!“ – vor ebendieser seine Unfähigkeit rechtfertigen.

Vom Feinsten ist sein Zwiegespräch mit dem zum Friseur mutierten einstigen Flimmer-Fred, ein Philosophieren um bedingungsloses Grundeinkommen, Vermögensobergrenze und eine Welt, in der die Menschen ihr Zuviel teilen. Und da die Morde ja kein zack-zack Einzelfall sind, stellt sich nun schon die Frage, ob hier Umverteilung – natürlich nicht vom Staat, mehr privat – in großem Stil betrieben wird. Im durchwegs großartigen Ensemble ist Elias Krischke nicht nur als Freddy, sondern im Mehrfacheinsatz brillant, ob er als dienstbeflissen-dämlicher Sergeant Eddi Arent alle Ehre macht oder als blinder Benny was vom „bösen Ort“ stammelt, bevor er stunttechnisch einwandfrei von der Bühne fällt.

Dass dem Burgtheater-Bakchen-Chorist mit seinem „Die Sache mit den Laufbändern habe ich nicht verstanden“ ein Insidergag und darob amüsiertes Lachen geschenkt ist, ist nur eine der geglückten Petitessen dieser zwischen herzhaft groteskem Humor und geschliffener Politpointe changierenden Produktion. Gerhard Kasal verkörpert in Personalunion Reverend Dearborn und Rechtsanwalt Judd, und per Erscheinungsbild auch des Edgar-Wallace-Publikums liebsten Bösewicht. Again the Ringer! Die somit drei Sehkraftlosen lassen Elisa Seydel als religiös-sadistische Klosterschwester Agnes über, nein – nicht die Klinge, den Blindenstock springen. Virtuos im Dialog-Ping-Pong und in komödiantischer Höchstform sind auch Daniela Golpashin und Florian Carove.

Die zwei gescheiterte West-End-Existenzen, wie Wladimir und Estragon auf Oley-Art, die auf der Suche nach einem Papagei mit Opernsängerqualitäten auf den Plappervogel im Blindenheim stoßen, der immerhin die Uhrzeit sagen und ungarische Kantaten singen kann. Ob der Kriminalfall am Schluss als geklärt zu betrachten ist, bleibt dem Urteil des einzelnen überlassen, jedenfalls taucht weder der unheimliche noch der Mönch mit der Peitsche, aber Stefan Lasko wie ein Frosch ohne Maske aus dem Nass auf. An Schuldigen werden dingfest gemacht: politische Gleichgültigkeit, fehlende soziale Utopien und schlechtes Benehmen. Nach gebührendem Jubel-Trubel zog’s die Zuschauer weiter – ins Gasthaus an der Themse aka die Flamingo-Bar.

www.bronski-gruenberg.at           Little extra for nostalgics: www.youtube.com/watch?v=6l_2D6CpbCo

tv-thek.orf.at/profile/Seitenblicke/4790197/Seitenblicke/14037213/Premiere-im-Bronski-Gruenberg/14619689

  1. 1. 2020

Garage X: Unendlicher Spaß

Januar 28, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

„Bedenken Sie, Sie befinden sich in Ihrer Freizeit.“

Julia Jelinek, Karim Chérif; hinten: Bernhard Dechant, Thomas Feichtinger, Tim Breyvogel Bild: Yasmina Haddad

Julia Jelinek, Karim Chérif; hinten: Bernhard Dechant, Thomas Feichtinger, Tim Breyvogel
Bild: Yasmina Haddad

In Interviews sagte er gern, er schreibe gegen den Leser. Das mißvergnügte Verlage und Pressedamen, die die Verkaufszahlen in den Keller sinken sahen. David Foster Wallace scherte das alles nicht. Der US-Autor hinterließ als Vermächtnis 1,5 Kilo Literatur, genannt „Unendlicher Spaß“ („Infinite Jest“), bevor er aus dem Leben schied. Depressionen. Seil. Garage. In der Garage X hob nun Regisseurin Christine Eder die 1545 Seiten Buch auf die Bühne. Inhalt? Ja, etwas in der Art gibt es. In Form eines in Nordamerika angesiedelten Science-Fiction-Romans. Die USA, Kanada und Mexiko haben sich zu einem Staat zusammengeschlossen, wobei der Ostküste die undankbare Funktion einer radioaktiven Giftmülldeponie zukommt. Hier regiert ein ehemaligen Schlagersänger namens Johnny Gentle, der den Kalender an Sponsoren verkauft hat, weshalb man im „Jahr des Whoppers“ oder im „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche“ lebt. Natürlich gibt es Terroristen. Die grotesk-gefährlichsten unter ihnen ist die québécois-kanadische Separatistengruppe „Assassins des Fauteuils Rollents“, die „Rollstuhlattentäter“. Im Mittelpunkt steht aber die Enfield Tennis Academy (E.T.A.), die die Tennisstars von morgen drillt. Allen voran das Supertalent Hal Incandenza, Musterschüler und Drogenjunkie. Irgendwie muss man mit dem Leistungsdruck ja fertig werden. Deshalb haben die Nachwuchsasse auch einen Zeitvertreib erfunden, der einen Nuklearkrieg mit Tennisbällen nachstellt und mit realen Verletzten endet. Während die Terroristen die Zerschlagung dieser Spaßgesellschaft planen. Wallace beschreibt das mit der ihm eigenen blut-, schweiß- und tränentriefenden Ironie. Immer knapp am Rande des Wahnsinns. Ist der Leser. Witz und Schrecken schrauben sich gegenseitig hoch. Wallace entwirft ein Kaleidoskop von Gesundheitsfanatikern, Ruhmsüchtigen, Alkoholikern und perversen Tiertötern. Dazu gibt’s Anmerkungen, Fußnoten, die bis zu zwölf Seiten lang sind. Und kein tatsächliches, zufrieden stellendes Ende.

In der Garage X wird all das auf fünf Schauspieler und ein paar Tennisbälle, die den Schriftzug „Welcome“ bilden, eingedampft. Mehr braucht es auch nicht. Denn Tim Breyvogel, Karim Chérif, Bernhard Dechant, Thomas Feichtinger und Julia Jelinek entwickelt eine Spielfreude, dass es eine Freude ist. „Unendlicher Spaß“ ist garantiert – drei Stunden 15 Minuten lang. Da applaudiert man am Ende nicht nur den Darstellern, sondern auch irgendwie sich selbst. Auch, wer das Buch nicht kennt, kennt sich aus. Die Fassung von Anna Laner und Meike Sasse lässt nichts Wichtiges von der komplexen Wallace-Welt aus. Eder setzt auf Tempo, schmückt mit Schatten- und Puppenspielen, mit Grimassen und Travestien, mit rasantem Kostüm- und Requisitenwechsel aus. Ein Glück, dass das Ensemble dafür konditionell auf der Höhe ist. Eder gelingt es fabelhaft, Wallace ironische Schreibdistanz aufs Theater zu übertragen. Nach zweieinhalb Stunden wird der Spaß-Gesellschaft ein Schild vorgehalten: „Bedenken Sie, Sie befinden sich in Ihrer Freizeit.“ Ja, danke und danke der Nachfrage. Man amüsiert sich. Bei diesem Zugetextetwerdens auf hohem Niveau. Allen voran überzeugt Karim Chérif als Hal Incandenza und beinloser québecischer Separatist. Bernhard Dechant hat ein Kunstsprechkabinettstück als deutscher Tennistrainer. Am Ende erklingt „Eye of the Tiger“. Das ist zwar ein Boxsong, aber das muss man sportlich nehmen. Die Garage X liefert jedenfalls einmal mehr ein Statement ab – als Bühne am Puls der Zeit. Spiel, Satz & Sieg!

Tipp: Wallace-Einsteigern sei sein Debütroman „Der Besen im System“ empfohlen: Lenore Beadsman arbeitet in der Telefonzentrale eines erfolglosen Verlages in Ohio, der ihrem Freund Rick Vigorous gehört. Rick liebt sie über alles, hat aber Probleme mit dem Sex und erzählt ihr als Ersatz Geschichten, in denen Lenore nicht selten die Hauptrolle spielt. Um seine Probleme zu lösen, besucht er regelmäßig einen Psychiater, den auch Lenore konsultiert. Das Verhältnis Lenores zu ihrer Familie ist getrübt, lediglich ihrer Großmutter und Namensgeberin Lenore sen. fühlt sie sich verbunden. Lenore sen. ist jedoch aus dem Altersheim zusammen mit 25 Mitbewohnern und einem Teil der Angestellten verschwunden – und mit ihr ein wertvolles Notizbuch, das die Aufzeichnungen einer Wittgenstein-Vorlesung enthält, dessen Schülerin Lenore sen. war … Eine herrliche Dystopie, in der die Menschen im immer währenden Schatten des Hauptgebäudes des Telekommunikationsriesen leben, ihr Stadtviertel ein Schattenriss der Tochter des Medien-Moguls.

www.garage-x.at

Wien, 28. 1. 2014

David Markson: Wittgensteins Mätresse

Mai 29, 2013 in Buch

Wahn oder Realität?

9783827008176Eine Frau monologisiert: Der Bogen spannt sich von Achilles und den Kampf um Troja bis zum niederländischen Maler Willem de Kooning (gest. 1997) – über 336 Seiten. Und das großartig: „Allerdings“ oder „Nebenbei gesagt“, wie sie gerne ihre Sätze beendet.

Die Künstlerin Kate nimmt den Leser mit auf eine Reise, quer durch alle Kontinente – eine Reise hin zu den Kunstwerken, Büchern, Museen und sonstigen Denkmälern der menschlichen Kultur und erzählt Anekdoten, Historisches und Fiktives. Alles fließt ineinander, die Epochen verschmelzen.
Kate selbst war eine bedeutende Malerin und scheint die einzige Überlebende einer Katastrophe zu sein, die die Menschheit ausgelöscht hat. Auch ihr Mann und ihr Sohn sind tot, gestorben in Mexiko. Wo ist der Rest der Menschheit? Und so hält sie sich für den letzten Menschen auf Erden. Doch gab es sie wirklich — jene Apokalypse, die nur sie allein verschont hat? Oder ist Kate wahnsinnig geworden? Aus der Zeit gefallen? „Bedeutet aus der Zeit gefallen wahnsinnig, oder bedeutet aus der Zeit gefallen einfach vergessen?“, fragt sich Kate, die nicht mehr weiß, wie alt sie ist (vermutlich um die 50). Keine Lebewesen existieren mehr – aber vielleicht ist die Katze, die sie im Kolloseum gesehen hat, doch real?

Nun sitzt sie in einem Strandhaus, das erste hat sie abgefackelt, und schreibt auf einer Schreibmaschine einen irrwitzigen Monolog – durchforstet ihre Erinnerungen an Personen, Kunstwerke, Bücher und Artefakte einer untergegangenen Zivilisation. Eigentlich ist die Protagonistin des Romans im wahrsten Sinne des Wortes Museumsdirektorin der gesamten Welt, Verwalterin allen menschlichen Wissens. Denn da ist niemand, mit dem sie sprechen kann, niemand, der sie hört, niemand, der Regeln aufstellt.

Und während Kate rastlos über den Globus gereist, in den größten Museen der Welt übernachtet und an den verlassenen Monumenten unserer Kultur umhergewandert ist, entspinnt sich wie eine irrwitzige Geschichte der westlichen Welt: Von Homer, der womöglich eine Frau war, über Aristoteles’ Lispeln, Rembrandts rostbrauner Katze, von Guy de Maupassants Abneigung gegenüber dem Eiffelturm bis zu Van Gogh’s Versuch seine Farben zu essen. Auch Heidegger, Kierkegaard, Wittgenstein (von dem sie nur den Satz kennt: „Man braucht nicht viel Geld, um ein hübsches Geschenk zu kaufen, aber man braucht viel Zeit“), Samuel Butler, Bellini, Tizian und viele andere kommen zu Wort bzw. werden interpretiert – auf ihre eigenwillige Art und Weise. Doch tief verborgen zwischen den Zeilen, scheint eine Trauer auf, die vermuten lässt, dass Kates Geschichte womöglich eine ganz andere ist.  Doch was ist wahr? Was ist Einbildung?

Ein großartiger Roman, schwierig, aber auf den man sich einlassen sollte.

David Markson wurde 1927 in Albany, New York, geboren und studierte an der Columbia University Literatur. Protegiert von Malcolm Lowry („Unter dem Vulkan“) gehörte er seit den frühen 1950ern zur New Yorker Schriftstellerszene, bekannt für seinen höchst experimentellen Schreibstil. Sein 1988 erschienenes Hauptwerk Wittgensteins Mätresse „engl.: Wittgenstein’s Mistress“ gilt heute als Meilenstein der amerikanischen Postmoderne. Er starb 2010 in New York City.

Berlin Verlag, David Markson: “Wittgensteins Mätresse“, 336 Seiten, Aus dem Englischen von Sissi Tax.
Mit Texten zum Roman von Elfriede Jelinek „Eine ist keine“ und dem leider viel zu früh verstorbenen David Foster Wallace „Das leere Plenum“.

www.berlinverlag.de

Von Rudolf Mottinger

Wien, 29. 5. 2013