Theater in der Josefstadt: Die Strudlhofstiege

September 6, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Totentanz des letzten Überlebenden

Silvia Meisterle als Editha/Mimi Pastré, Martin Vischer als René von Stangeler, Igor Kabus als Fraunholzer, Marlene Hauser als Thea, Alma Hasun als Paula Pichler, Alexander Absenger als Honnegger, Dominic Oley als Eulenfeld, Pauline Knof als Etelka von Stangeler und Matthias Franz Stein als Konsul Grauermann. Bild: Sepp Gallauer

Mit einer Hommage an Heimito von Doderer starten die Wiener Theater in die neue Saison. Bevor kommende Woche Anna Badora am Volkstheater eine Franzobel-Bearbeitung von dessen „Merowingern“ auf die Bühne heben wird, hatte gestern am Theater in der Josefstadt ein weiteres von Doderers „berühmten ungelesenen Büchern der Weltliteratur“ Premiere. So zumindest nennt Nicolaus Hagg „Die Strudlhofstiege“, er, der als Autor für jene Dramatisierung des 900-Seiten-Romans verantwortlich zeichnet, die nun an der Josefstadt uraufgeführt wurde.

Hagg ist ausgewiesener Doderer-Experte. Für die Festspiele Reichenau war er 2009 schon einmal mit dem Monumentalwerk befasst, später auch mit Doderers „Die Dämonen“. Was ihm nun bei der neuerlichen Beschäftigung mit der „Strudlhofstiege“ gelungen ist, ist die Verdichtung der Verdichtung. Hagg macht aus der Vielzahl der raffiniert ineinander verflochtenen, von Zeitsprüngen durchbrochenen, oftmals schwer zu überblickenden Erzählstränge ein konzentriertes Kammerspiel mit etwa einem Dutzend Charakteren, Miniaturen, die er bis ins Detail ausgearbeitet hat. Heißt: Hagg folgt der Vorlage zwar in der Skizzenhaftigkeit ihrer Szenen, versteht es aber gleichzeitig, die eigentliche Handlungsarmut des Buchs bei gleichzeitiger permanenter Innenschau der Figuren stilistisch nachzuformen.

Zusätzlich bedient er sich eines Kniffs, einer Vorblende, mit der er gleichsam genialisch auf das Erscheinungsjahr des Textes, 1951, verweist, und ergo auf Doderers zwischen den Zeilen verborgenes Wissen, auf welch Grauen nach den Romanjahren 1910/11 und 1923/1925 seine Protagonisten zusteuern. Hagg schlägt die Brücke von der Hurra-schreienden Gewaltmentalität anno k.u.k. zum Nationalsozialismus und Doderers eigener NSDAP-Verstrickung. Und so begegnet man Major Melzer, Amtsrat in der Tabakregie, im Jahr 1945. Die Offiziersuniform ist Wehrmacht, Melzer nunmehr Überlebender zweier Weltkriege, ein schwerst Traumatisierter, der die Vergangenheit zum Totentanz bittet. Grete Siebenschein im Konzentrationslager ermordet, Mary K. ebenfalls abgeholt, René von Stangeler Selbstmord aus Überdruss, erfährt man, die ganze Geschichte wie ein Wettlauf zum Tode, bei dem Etelka von Stangeler bekanntlich als erste ankam.

Ein (lebens)müder Melzer und sein guter Geist: Ulrich Reinthaller und Roman Schmelzer als gewesener Major Laska. Bild: Sepp Gallauer

Eine überdrehte Etelka von Stangeler tanzt in ihren Untergang: Pauline Knof und Alexander Absenger als Teddy von Honnegger. Bild: Sepp Gallauer

In der wie stets sensiblen, zartfingrigen, atmosphärisch starken Regie von Janusz Kica gestaltet Ulrich Reinthaller einen Melzer in Stasis. Alles an diesem Mann ist erstarrt, versteinert, reglos geworden. Reinthaller spielt das wie in Trance, der ohnedies entscheidungsunfähige, durchs Dasein mäandernde Melzer wird bei ihm endgültig zur Blassheit in Person, einer, der zum Schluss nicht einmal plausibel machen kann, ob er tatsächlich die Waffe gegen sich richtet oder nicht. Zum Zwiegespräch, zum laut gesprochenen Gedankenaustausch, stellt ihm Hagg den gewesenen Major Laska zur Seite, Roman Schmelzer als im Ersten Weltkrieg gefallener Freund, der Figuren wie Publikum als (guter) Geist durch die Geschehnisse begleitet und Erinnerungen auffrischt.

Dies eine durchaus nützliche Funktion, fühlt man sich zwischen den aneinandergereihten Momenten mitunter doch ein wenig alleine gelassen, mit einem „Wie war?“ und „Wer war?“ im Kopf, Fragen, auf die Schmelzers Laska Antwort weiß. Ist der von Editha Pastré eingefädelte Tabakregie-Betrug die Rückblende, an der Hagg am stärksten interessiert scheint, so führt er neben Melzer René von Stangeler als zweiten Hauptcharakter ein, Doderers Alter Ego, den Hausneuzugang Martin Vischer mit einer Fahrigkeit, fast Verwirrtheit ausstattet, die sein Ende schon vorwegnimmt. Seinen ihn beständig demütigenden Vater, Oberbaurat von Stangeler, gibt Michael König mit der ganzen Dominanz eines Patriarchen.

Als Etelka von Stangeler lechzt Pauline Knof gekonnt nach Freiheit und Freizügigkeit, belässt ihre Figur dabei aber so weit im Gutbürgerlichen, dass man ihr die Schwesternschaft zu Swintha Gersthofers Asta deutlich ansieht. Igor Kabus versucht als Etelkas Geliebter Robby Fraunholzer mit deren Eskapaden mitzuhalten. Matthias Franz Stein trägt als Etelkas Ehemann, Konsul Grauermann, sein Schicksal mit Würde und ab und an mit trockenem Humor. Alma Hasun ist eine sympathisch zupackende Paula Pichler, Marlene Hauser eine zu Herzen gehende Thea.

Zwei der besten darstellerischen Leistungen: Silvia Meisterle als Editha/Mimi Pastré und Dominic Oley als Rittmeister von Eulenfeld. Bild: Sepp Gallauer

Überzeugend in ihrem Spiel: Matthias Franz Stein als Konsul Grauermann, Alexander Absenger als Honnegger und Martin Vischer als René von Stangeler. Bild: Sepp Gallauer

Bleibt das Dreigestirn der Leicht- und Schnelllebigkeit, und damit die drei herausragenden Leistungen dieser Aufführung: Silvia Meisterle, die es meisterhaft versteht, den „Duplizitätsgören“, der „bösen“ Editha und der „braven“ Mimi Pastré, Kontur zu verleihen, und Dominic Oley und Alexander Absenger, die als schlitzohrig-spitzbübische Salonlöwen Rittmeister von Eulenfeld und Teddy von Honnegger immer wieder dafür sorgen, dass der Abend nicht an Fahrt verliert.

Die sinistren sind eben die dankbarsten Rollen und ihnen hat Hagg die besten von Doderers distanziert-ironischen Sätzen mundgerecht aufbereitet, vieles klingt da wie für diese Tage geschrieben, Seitenhiebe auf Politik und Wirtschaftsinteressen, in geschliffener Sprache und voll Wortwitz.

Nach zweieinhalb Stunden ist Ulrich Reinthallers Melzer wieder in seiner 1945er-Gegenwart angelangt und erhebt Klage gegen jene, die zu Hakenkreuze krochen, die den Heiland gegen’s Heil! eintauschten, der Tod von Millionen, und der tote Laska verzeiht ihm nicht, dass er, der schon „ein Mensch“ war, sich wieder zum Soldaten machen hat lassen. Aber ach, Melzer und der ewige Umstand, dass er „eine selbständige Art zu existieren überhaupt noch nicht besessen hat …“

Derart wird „Die Strudlhofstiege“ in der belesenen Bearbeitung von Nicolaus Hagg und der behutsamen Inszenierung von Janusz Kica zur Österreich-Elegie, zur Antenne für eine Tanz-auf-dem-Vulkan-Stimmung, die schon wieder um sich greift. „Wohin geht eine Welt, wenn sie untergeht? Wohin weicht ihr Urgrund? Oder härtet er vielleicht aus in den Menschen, die den Untergang durchleben?“, fragt Nicolaus Hagg. Mit ihrer Saisonauftakt-Premiere beweist die Josefstadt jedenfalls, dass sie gewillt ist, ihr striktes Eintreten für Humanismus und Empathie mit dem Programm 2019/20 fortzusetzen.

Nicolaus Hagg im Gespräch über Doderers Dämonen: www.mottingers-meinung.at/?p=20209

Video: www.youtube.com/watch?time_continue=4&v=EKGIY-0nfxM

www.josefstadt.org

  1. 9. 2019

Akademietheater: Woyzeck

April 11, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Manege frei für die Maniacs

Woyzeck kauft sich ein Messer, jedoch eines mit versenkbarer Klinge: Steven Scharf und Falk Rockstroh. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Auf die rotweißgestreifte Zeltplane sind alte Filmaufnahmen projiziert. Raubtier- und Elefantennummern, die Tiere mühsam und nur mit Gewalt unter Kontrolle gehalten, kleine Hunde, die sich zum Affen machen müssen, Trapezkünstler in schwindelnden Höhen, menschliche Pyramiden und Kaskadeure. Gleich darauf, wenn Steven Scharf das Plastik heruntergerissen und die halbe Manege, vom Gittergang für die Großkatzen

bis zur Zuschauertribüne zerlegt haben, wenn nur noch eine armselige Handvoll Akrobaten übrig sein wird, enträtselt sich, worauf Regisseur Johan Simons abzielt. Das heißt, nicht zur Gänze. Denn ob Albtraum, Erbsenirrsinn oder einfach Ausflug in den Surrealismus, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Simons, seit dieser Spielzeit Intendant des Schauspielhauses Bochum und die Aufführung ergo eine Koproduktion mit diesem, zeigt am Akademietheater seine Interpretation des „Woyzeck“. Es ist seine dritte Inszenierung des Dramenfragments, sein Zugriff auf Büchner diesmal als wäre dieser Beckett, der Verfechter eines Bühnenrealismus dargeboten, als wär’s ein Stück absurdes Theater.

Das Setting von Stéphane Laimé und die Kostüme von Greta Goiris verströmen Zirkusluft, wenn auch die eines ziemlich abgetakelten Etablissements, darin die sinnfreie Welt und der orientierungslose Mensch: Steven Scharf als Woyzeck, dressiert, gedemütigt, beglotzt, bestaunt und ob seiner Stärke gefürchtet – so wie’s Dompteure mit den von ihnen geknechteten Kreaturen tun. Und während er Wortfetzen vor sich hin murmelt, wimmert, brabbelt, Koen Tachelet geht in seiner Fassung mit dem Büchner-Text sehr sparsam um, sind die anderen prahlerische Ausrufer der eigenen Person. „Hepp!“ rufen sie, als wäre ihnen gerade ein besonderes Kunststück gelungen, mit großen Gesten wenden sie sich ans Publikum, wenn sie zu ihrer Vorführung wie wild geworden im Kreis herumtoben oder über diverse Gerüste turnen. Marie im zu großen Herrenanzug und überdimensionalen Clownsschuhen, der Tambourmajor als starker August im knappen Trikothöschen, der Hauptmann im grünen Trainingsanzug, der Doctor in Klinisch-weiß mit Gummistiefeln – es wird noch etliches an Regen fallen, darum.

Mit Marie und dem Drahtgestellsöhnchen: Anna Drexler und Steven Scharf. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Tanz um den Tambourmajor: Anna Drexler und Guy Clemens. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Simons also hat Büchners dritte Szene, „Buden, Lichter, Volk“, zum Programm erklärt, lässt überhaupt die Szenen wie Nummern ablaufen. Und in der nächsten Abteilung sehen Sie …! Im Mittelpunkt ein Steven Scharf auf dem Höhepunkt seiner Schauspielkunst, das geschundene Individuum, das seine einstudierten Tricks vorführen muss. Verstörend ist das, wie Scharfs zunehmend besessener Woyzeck in Momenten größter Beleidigung und tiefster Gebrochenheit seinen Stolz zu wahren oder in zahlreichen und langen Sekunden des Schweigens sich als Subjekt zu behaupten sucht, nur um sich dann wieder selbst aufs Korn zu nehmen. Etwa, wenn er sich mit Marie als „das astronomische Pferd“ und dessen Conférencier abwechselt. Das rote Granulat auf dem Boden, auf dem er sich wälzt, wird später auf nackter Haut wie Blutstropfen wirken.

Im expressiven Spiel steht ihm Anna Drexler als Marie in nichts nach. Sie jauchzt und quiekst und überbetont die Worte, als ihr der Tambourmajor ins Auge sticht. Sie produziert sich vor ihm und buhlt ums Publikum, will mit beiden Blickkontakt herstellen, wohingegen sie in der Zwiesprache mit Woyzeck klar und wahrhaftig ist, je mehr Wahnsinn, umso wahrhaftiger. Dass ihr Söhnchen ein fragiles Drahtgestell mit Kinderfüßchen ist, passt ins Bild dieser lieblosen Mutter, die den Kleinen mit allerhand Gruselgeschichten zum Einschlafen nötigt. Drexlers wie Scharfs Performance ist irritierend, irisierend und so, dass an ihren Figuren immer etwas bleibt, ein Dunkel, ein Geheimnis, das man nicht zu fassen bekommt.

Den Einsatz des weiteren Personals hat Simons wie die Handlung auf die Essenz konzentriert. Extrem körperlich legt Daniel Jesch den Hauptmann an, ein Kraft- und Machtmensch, der Woyzecks philosophische Versponnenheiten gar nicht mag. Im Gegensatz zu ihm ist Guy Clemens‘ Tambourmajor ein Möchtegern, der die Gewichte kaum stemmt, die Woyzeck mit einer Hand hebt, und sich lächerlich macht, als er hinter Marie her in Rösselsprüngen die Manege durchmisst. Falk Rockstroh ist als Doctor ein pragmatischer Wissenschaftler, der für sein Versuchsobjekt keine Empathie aufbringt. Und obwohl all diese nicht viel zu agieren haben, bleiben sie die ganze Zeit so bühnenpräsent, dass sei einem nie aus dem Fokus geraten. Bestes Beispiel dafür ist Martin Vischer, der als Großmutter der einzige Zirkusbesucher ist, und der über beinah zwei Stunden nur sitzt, schaut, tonlos gestikuliert, den Mund offen, wie’s bei sehr alten Menschen manchmal so ist, bevor er endlich das Märchen vom armen Waisenkind erzählen darf.

Der Wahnsinn der Erbsendiät: Steven Scharf und Falk Rockstroh. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Im Regen stehen lassen: Falk Rockstroh, Steven Scharf und Daniel Jesch. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Schließlich tritt Steven Scharf mit Zirkusdirektorenzylinder und Regenschirmchen in die Arena, allein im Scheinwerferkegel sprechen Stimmen zu ihm, verlangen Maries Ermordung. Gespenstisch ist, was Scharf da mit minimalster Mimik und Gestik ausdrückt, an Psychose, an Schizophrenie, an Leid und Elend. Er wird ein Messer kaufen, und es wird ein Theatermesser mit versenkbarer Klinge sein. Denn in Woyzecks Wahn ist Marie nicht zu töten, sondern wird ihm übers Sterben hinaus noch Anweisungen geben. Damit ist der Realitätsverlust besiegelt, die Reise in Woyzecks Kopf am Ende. John Simons‘ Büchner-Umschreibung ist mit all den Fragen, die sie offen lässt, ein Abend, der nachwirkt. Wobei es gerade seine Auslassungen sind, die dies am gewaltigsten tun.

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  1. 4. 2019

Vestibül des Burgtheaters: Beben

Januar 26, 2019 in Bühne

MICHAELA MOTTINGER

Die virtuelle Wahrnehmung von Wirklichkeit

Die Spieler und der Mann von Ulro: Marta Kizyma, Martin Vischer, Daniel Jesch und Valentin Postlmayr. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Die beiden gläsernen, in kaltem Licht leuchtenden Vitrinen erinnern an Museumsschaukästen. Eine Bühnenlösung von Thurid Peine, die fürs Vestibül des Burgtheaters in ihrer Schlichtheit nicht nur eine praktikable ist, sondern auch präzise veranschaulicht, was Regisseurin Anna Stiepani mit ihrer Inszenierung von Maria Milisavljevics Stimm- gewitterstück „Beben“ zeigen will: Ein Rühr‘-mich-nicht-an von Menschen, die sich selber hinter Scheiben weg- geschlossen haben.

Die Realität gegen reality tauschten – deutlich gemacht durch eine der Figuren, die kaum am Handeln der anderen teilnehmen kann, weil beim Gamen der nächste Level noch nicht erreicht wurde. Doch ganz so erklärlich macht es einem Milisavljevic, die mit ihrem dystopischen Text 2016 den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts und den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis gewann, denn auch wieder nicht. Nie nämlich ist völlig klar, ob die von ihr beschriebene Wahrnehmung von Wirklichkeit eine virtuelle oder eine physische betrifft. Ihre Geschöpfe, sie gibt sie an als „Wir. Wer immer und wie viele wir auch sind“, Stiepani hat sich für vier entschieden, stolpern durch einen medialen wie Social-Media-Overkill aus Katastrophenmeldungen und Kriegsberichten. Doch wie fern oder nah ist dieser Displaykosmos tatsächlich? Geschieht Gewalt vielleicht gleich draußen vor der Tür?

Gekleidet in Schwarz lassen die Schauspieler Daniel Jesch, Marta Kizyma, Valentin Postlmayr und Martin Vischer die von der Dramatikerin heraufbeschworene Apokalypse dröhnen, und die lässt wortwörtlich „Trompeten der Endzeit“ ertönen. Ihre von Stiepani auf die Darsteller aufgeteilte Sprechblasensprache, die Halbsätze sind eine assoziative Aneinanderreihung zum Thema Reizüberflutung durch allgegenwärtige Informationssintflut, kontrastiert Poesie und Banalität und Pathos, ist witzig und kitschig und zum Schluss sehr berührend. Und als sei’s damit nicht genug, zieht Milisavljevic eine Metaebene ein, einen aus William Blakes „The Book of Los“ entliehenen an der Kante von Ulro sitzenden Mann.

Eine sinistre Erscheinung in Gestalt von Daniel Jesch, der übers Gesagte schadenfroh spottet, kommentiert und manipuliert, da er mutmaßlich versucht, die Geschehnisse mittels deren Eskalation unter seine Kontrolle zu bringen. In Blakes mystisch-prophetischem Buch, in dem sein Protagonist Los im biblischen Sinn gefallene Wesen betrachtet, steht Ulro für eine Art Geisteswüste, für jene Dunkelheit, die sich Bahn bricht, wenn die (göttliche) Vision erloschen ist. Dies wissend öffnet sich ein neuer Blick auf Milisavljevics enigmatische, oft hermetisch anmutende Zeilen, wird die von ihr heraufbeschworene Gefährdung ihrer Smartphone-Daddler greifbar.

Valentin Postlmayr. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Marta Kizyma und Martin Vischer. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Deren Fluchtmanöver Richtung Onlineebene, es fällt der Satz „Er dachte, sein Sofa sei nicht Teil dieser Welt“, gelingen immer weniger, je mehr der Ulro-Mann seine Armeen in Stellung bringt. Da kann man noch so viele Lebenspunkte und Diamantschwerter gesammelt oder Selfies mit einer toten und darob von ihrem Kater angefressenen Nachbarin geschossen haben. Denn allmählich zeichnet sich im ständigen Wechsel der Perspektiven so etwas wie ein Erzählstrang ab, über einen Bewaffneten, der einen Buben erschießt, weil der ihm zu nahe kommt, ein Kind, das ein Buch für die Mutter so unter dem Shirt versteckte, dass es auf den Soldaten bedrohlich wirkte, eine Bombe hätte sein können.

Wie nun Stiepani Milisavljevics stimmiges Bild einer grundlos amüsierten bis sinnlos alarmierten, in beidem aber stets passiven Beobachtungsgesellschaft, in das die Regisseurin auch Zitate einer Kurz gedachten Tagespolitik verwoben hat, zu einer Geschichte über Schuld und Sühne und den Versuch eines Verzeihens dreht, das ist die Stelle, an der „Beben“ erschüttert. Vor allem Marta Kizymas Monolog der Mutter darüber, wie sie die erkaltete Stirn ihres Sohnes küsst und in seine toten Augen „all ihr Sein“ fließen lässt. Ob der Ego-Shooter am Ende zu Fleisch und Blut geworden ist, darf das Publikum unter sich ausmachen. Milisavljevic lässt mit ihrer wuchtigen Arbeit wie Stiepani mit ihrer nicht minder massiven Aufführung dem Spiel Raum für Interpretationen. Der Mann an der Kante von Ulro jedenfalls wird durch einen Bruderkuss besänftigt. Seltsam auf dem Nachhauseweg auf dem eigenen Handy nachzulesen, wie einander Erdoğan und Putin treffen.

www.burgtheater.at

  1. 1. 2019

Burgtheater: Mephisto

September 17, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Immer bergauf auf dem Beförderband

Nicholas Ofczarek als Hendrik Höfgen, Sylvie Rohrer als Dora Martin und Ensemble. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Lady Gaga gibt den Ton an. Im Wortsinn. Ihr Song „Applause“, von Sylvie Rohrer als Dora Martin auf vier Mal unterschiedlichste Weise interpretiert, ist der musikalische Leitfaden durch Bastian Krafts Bühnenfassung von Klaus Manns Roman „Mephisto“. Eine fulminante Aufführung ist das geworden, mit einem überragenden Ensemble, allen voran Nicholas Ofczarek in der Rolle des Hendrik Höfgen. Alias Gustaf Gründgens. Einer, der der Macht verfällt, und dabei so brutal wie buckelnd agiert.

In einen Rahmen hat Kraft sein durchchoreografiertes Spiel vom Glanz und Elend des eitlen Mimen gespannt. Ein schlanker Mann im weißen Anzug tritt aus dem Dunkel und an die Schreibmaschine, er, der Schriftsteller, als Gegenpart zum bulligen Schauspieler, den er erdacht und doch nicht erdacht hat, Sebastian Bruckner, Klaus Manns Alter Ego. Fabian Krüger gestaltet die Figur feinnervig und nobel, er ist Erzähler, Kommentator, aber auch Souffleur und sogar Requisiteur. Bruckner/Mann ist da schon im Exil, in Paris, später Südfrankreich, drischt er auf die Tasten und damit auf das NS-Regime ein.

Sabine Haupt als Nicoletta von Niebuhr, Fabian Krüger als Sebastian Bruckner, Nicholas Ofczarek und Dörte Lyssewski als Barbara Bruckner. Bild. Reinhard Werner/Burgtheater

Simon Jensen als Julien. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Martin Vischer, Simon Jensen, Sabine Haupt, Sylvie Rohrer und Petra Morzé. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Bruckners Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Schwager Höfgen, Krüger vs Ofczarek, wird zum gewitzten Disput darüber, wie Mensch sich angesichts von Totalitarismus und Staatsterror positionieren soll. Ofczarek gibt den Höfgen mit gewaltiger Intensität, gibt mal den teuflischen Verführer, mal den in tiefste Abgründe Gelockten, gibt sich im Zweikampf mit dem gewesenen Freund mal sanft säuselnd, mal metallisch donnernd. „Seine Falschheit ist seine Echtheit“, charakterisiert Bruckner den faustischen Höfgen.

Und der Karrierist und Opportunist sucht gutes Gewissen darin, dass er einen Juden, Hans Dieter Knebel als Garderober Böck, und seinen schwulen Liebhaber, Simon Jensen als Julien – die originale Homoerotik von Kraft anstelle der erfundenen Juliette Martens eingesetzt, vor der Gestapo gerettet hat. Beim kommunistischen Kollegen Otto Ulrichs/Hans Otto, ihn stellt Peter Knaack dar, hat er es immerhin versucht, den Parade-Nazi Miklas, Martin Vischer, hat er ohne viel Federlesen aus dem Ensemble entfernen lassen.

Ge- und befördert vom „Ministerpräsidenten“ und seiner Ehefrau, Martin Reinke und Petra Morzé liefern als Göring und dessen überspannte Gattin eine gekonnte Farce auf Hinterlist und Heimtücke, arrangiert sich Höfgen mit den neuen Herrschenden. Peter Baurs phänomenales Bühnenbild stellt den steilen Aufstieg mittels stetig emporgeschraubtem Laufband dar, darauf Ofczarek mit ausholendem Schritt, die Arme zackig mitgeschwungen, eine Hanswurstiade mit schwarzweiß-gestreifter Hofnarrenkappe, wiewohl’s immer schwerer wird, die nächste Klippe zu erklimmen.

Den fabelhaften Cast runden ab: Dörte Lyssewski und Sabine Haupt als Frau Höfgen eins und zwei, Barbara Bruckner und Nicoletta von Niebuhr, sarkastisch-scharf die eine, klug-berechnend die andere, und Bernd Birkhahn, der unter anderem als „der Professor“/Max Reinhardt wesentlich zu Höfgens Aufstieg beiträgt.

Auf vier Videotürme lassen Kraft und Baur Ofczareks Gesicht mit einer Live-Kamera projizieren. Da ist dessen Hendrik Höfgen längst zum Gruselclown mutiert. Die charakteristisch steilen schwarzen Augenbrauen, der blutrote Mund verschmiert. Wen immer er damit küsst, der ist besudelt. Eines von vielen starken Bildern. Am Ende eine Spiegelung des Publikums, vom Burgtheater 2018 ins Preußische Staatstheater 1936. Etliche der gefallenen Sätze sind so, wie man sie gerade wieder hört.

www.burgtheater.at

  1. 9. 2018

Akademietheater: Die Glasmenagerie

Februar 17, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Großes Schauspielertheater ohne allen Schnickschnacks

Statt possierliche Glastierchen bizarre Flaschenwesen: Sarah Viktoria Frick als Laura. Bild: Reinhard Werner, Patrick Bannwart

Tennessee Williams, das ist immer ein wenig Mondlicht und Magnolien. Die verblühten Südstaatenbelles in ihren duftigen Kleidern, umweht von einem Hauch Limonenlimonade, die sie herbeisinniert zuvorkommenden Verehrern kredenzen. Ein Schicksal, so unwillkommen wie unumgänglich – und kein Ausgang nirgendwo …

Nicht so spielt die aktuelle Inszenierung der „Glasmenagerie“ von David Bösch am Akademietheater. Wenn hier etwas weht, dann der Atem des Neorealismo. Bösch zeichnet ein „Tatsachenbild“ im besten Sinne André Bazins; er holt Tennessee Williams in die Gegenwart ohne ihm irgend Gewalt anzutun, diese Wirkung auch ein großes Verdienst der Stückfassung von Jörn van Dyck, doch er lässt ihm seinen Nostalgiezauber dort, wo es in seiner Arbeit auch noch Sinn macht.

Austragungsort der Familienkonflikte ist eine heruntergekommene Mansarde, ein schäbiger, grauer Dachboden, kaum möbliert (Bühne: Patrick Bannwart). Man hat hier nicht schon „bessere Zeiten“ erlebt, man befindet sich tatsächlich in ärmlichsten Verhältnissen, die Mutter, die ihren Vergangenheitstraum träumt, die verkrüppelte, arbeitslose Tochter und der Lagerarbeiter-Sohn, den es zwecks Weltflucht ins Kino zieht. Die Glasmenagerie besteht nicht aus possierlich-filigranen Tierchen, sondern ist aus Flaschen und Flügeln derb-hässlich zusammengeschraubt. Und damit fast so bizarr wie ihre Besitzerin.

Bösch zeigt großes Schauspielertheater ohne allen Schnickschnacks. Er gibt seinem vierköpfigen Ensemble Platz, sich zu entfalten, und das nutzt ihn reichlich. Regina Fritsch gibt die Amanda Wingfield weniger gluckenhaft-versponnen als eine, die die Fäden beisammen halten möchte. Wie sie ihre erwachsenen Kinder bis hin zum Essen maßregelt, macht deutlich, wer in dieser Runde die Beherrschende ist. Und geht’s einmal nicht nach ihrem Willen, schnappen Stimme wie deren Besitzerin am Abschlag über. Ihre absichtsvolle Theatralik ist Mittel zu Tyrannei und Terror.

Ein Kartenspiel sagt mehr als tausend Worte: Sarah Viktoria Frick als Laura, Regina Fritsch als Amanda Wingfield und Merlin Sandmeyer als Tom. Bild: Reinhard Werner, Patrick Bannwart

Dem entziehen können sich weder Sarah Viktoria Frick als Tochter Laura, noch Merlin Sandmeyer als Sohn Tom. Immerhin Erzähler Tom ist ein Aufbegehren möglich, bevor er in die Fremde ziehen wird. Sandmeyer versteht in diesen Momenten sehr schön, das Schicksal seiner Figur präsent zu halten, wiewohl es doch deren vorgesehene Aufgabe ist, hinter dem der Frauen zurückzutreten. Frick ist als Laura eine Bösch’sche Idealbesetzung, und so ganz anders als erwartet.

Gar nicht zart und schüchtern und hilfsbedürftig, steht sie bockig in ihren Klumpfußschuhen für ihre Art zu leben ein. Als die Mutter fragt, wie sie sich dieses denn vorstelle, nickt sie mit dem Kopf zu ihrem Glaskarussell. Will da etwa eine ein Glasmenageriegeschäft eröffnen? Es sind derlei kleine Gesten, ein leiser, hintersinniger Humor, mit denen Bösch dem Tennessee-Williams-Text seinen Stempel aufdrückt. Ein pantomimisches Kartenspiel sagt alles über die Konstellationen im Hause Wingfield, eine angedeutete Geschwister-Allianz, ein Einhorn-Schatten wird zum Pegasus und hebt ab, wie auf den Sterntaler regnet’s in einem Glücksmoment durch die offene Dachluke Goldschnipsel auf Laura herab …

Dann Auftritt Jim O’Connor, der Katalysator. Martin Vischer spielt den „netten, jungen Mann“ als solchen, seine Höflichkeit dadurch motiviert, dass Laura ihn noch als Highschoolhelden und dortigen Musicalstar kannte. An der Realität ist dieser Jim nicht weniger gescheitert als alle anderen, doch versteht er es, nach einer poetischen Tanzeinlage à la Astaire, die Reißleine zu ziehen, bevor die Sache mit Laura zu heiß wird. Man ist nicht einmal sicher, ob er die Verlobte Betty dazu nicht auch erfunden hat.

Mit dem Highschool-Jahrbuch: Martin Vischer als Jim O’Connor und Sarah Viktoria Frick als Laura. Bild: Reinhard Werner, Patrick Bannwart

Doch Böschs Laura hat sich selbstermächtigt, sie wird sich nicht mehr in ihre Fantasiewelt zurückziehen. Im Regen, der nun durch die Luke strömt, wird sie sich ihr altes Leben abwaschen, und auch wenn sie danach wieder mit Mutter am Kartenspieltisch sitzt, macht ihr Zittern deutlich, dass sich etwas in ihr bewegt. Laura, nicht zerstört, sondern neu, weder der Vergangenheit noch der Gunst von Männern ausgeliefert, sondern im Aufbruch gegriffen. So macht man Tennessee Williams heute.

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  1. 2. 2018