Kosmos Theater: Frau verschwindet (Versionen)

Oktober 21, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Vier Frauen und ?!? – ein Todesfall

In der Gerüchteküche brodeln die Geschlechterklischees: Eva Lucia Grieser, Anne Kulbatzki, Therese Affolter und Birgit Stöger. Bild: Bettina Frenzel

Weg, aus, raus. Finally! Was tut Frau, um sich von all den an sie gerichteten Erwartungen, Zuschreibungen, diesem Gewühl klebriger Geschichtsfäden zu befreien? Sie heftet sich ihre Ohren als Flügel an und entschwebt auf Nimmerwiedersehen … Dies der surreale Schluss, den die Schweizer Autorin Julia Haenni für ihren Text „Frau verschwindet (Versionen)“ erdacht hat und auf das Wort „Versionen“ ist zu achten, der nun im Wiener Kosmos Theater zur österreichischen Erstaufführung gebracht wurde.

Davor sieht man 70 Minuten intensives, expressives Theater, inszeniert von Kathrin Herm, eine Groteske, die vier Schauspielerinnen mit Körperarbeit und Komödiantik zum Glänzen bringen – und bei der Besetzung muss man wie die aus „Schwieriges Thema“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39165) bekannte Berliner Performerin Anne Kulbatzki sagen „FrWOW“: Freie-Szene-Entdeckung Eva Lucia Grieser, Volkstheater-Verlust Birgit Stöger und die sagenhafte Peymann-, Burgtheater- und Berliner-Ensemble-Protagonistin Therese Affolter.

Mirjam Stängl hat den Damen eine Kukulcán-Pyramide hingestellt, sie Showtreppe und Stolperstein in einem, und auf der wird in Theresa Gregors skurrilen Nylonstrumpfkostümen temperamentvoll herumgeturnt. So beginnt das Ganze zur Fliegengeschwirr-Musik von Imre Lichtenberger Bozoki, er der Produktion Hahn im Korb möchte‘ man sagen, wenn der Stereo-Typ nicht ein Öl-ins-Feuer-Gießen in Haennis dramatischen Brandherd wäre. Und von der obersten Plattform schlängeln sich Kulbatzki, Stöger und Grieser in eine „leere Wohnung“.

Therese Affolter. Bild: Bettina Frenzel

Eva Lucia Grieser. Bild: Bettina Frenzel

Therese Affolter. Bild: Bettina Frenzel

Die Tür stand offen, die Bewohnerin ist verschwunden, die drei treten ein, ein leerer Joghurtbecher, Staubfäden von einer Lampe, sie schnüffeln im Wortsinn herum, sie sehen sich um und sich im zerbrochenen Spiegel wider. Und los gehen die Spekulationen, die tollkühne Detektivinnensuche. War’s eine Sexualstraftat, ein Suizid?, Stöger spielt die gestresst-frustrierte Dreifachbelastung Kinder – ja/nein?. Sie agiert wie für’s Kosmos Theater erfunden. Beides wird abgelehnt, da Mord wie Selbstmord zu männlich konnotiert.

War’s eine gescheiterte Liebe, auch nicht, nur keine Opferrolle, sagt Stöger. Nicht schon wieder verlassen, betrogen, im weißen Nachthemd und mit irren Augen über die Bühne wackeln, sagt Kulbatzki. Nur nicht im Mediationskurs am Single-Sein leiden, was ist eine Frau ohne Mann schon wert?, „sonst heisst es wieder die hysterischen Frauen zack Kleber drauf Gefahr gebannt weil pathologisiert“. Und klar wird, der Yves-Klein-blaue Bassena-Tratsch, die Gerüchte-Küche, in der die Geschlechterklischees brodeln, ui!, beides antifeministische Gemeinplätze, ist ein raffiniertes Komplott aus Raum und Zeit.

Die vier Spielerinnen samt ihrer Herbeischreiberin wollen ein Schicksal entwerfen, das dem Publikum vorzuführen sich lohnt, doch daran kann man nur – in diesem Fall und am Lachen der Zuschauerinnen und Zuschauer gemessen genussvoll – scheitern. „Frau verschwindet“ wird sozusagen entwickelt, während gespielt, im Stakkato werden Rollenbilder durchgehechelt, Rabenmutter/Karrierefrau, naives Herd-Heimchen, #MeToo, Mann*Frau. In absurd-komischen Dialogen voller Sprachwitz entstehen gesellschaftliche Vorstellungen von Frauen, die einem gleichen, die einem widersprechen, denen man entkommen will, die man immer schon sein wollte und auch irgendwie ist. Versionen, wie gesagt.

Therese Affolters AC/DC-Auftritt. Bild: Bettina Frenzel

Birgit Stöger und Anne Kulbatzki. Bild: Bettina Frenzel

Birgit Stöger, Kulbatzki und Grieser. Bild: Bettina Frenzel

Eva Lucia Grieser und Anne Kulbatzki. Bild: Bettina Frenzel

Regisseurin Herm bricht Haennis Meta-Thema mit allerlei Slapstick-Aktion. Therese Affolter erscheint als Dea ex machina und hämmert bei einem fulminanten Rockstar-Auftritt AC/DCs „Highway to Hell“ auf die Bühne. Und apropos, nageln: Zu Cardi Bs kinky „WAP“ machen die female role models die Spielfläche zum Catwalk. Die klettergesicherte Eva Lucia Grieser martialisch-artistisch in den Gangstarella-Posen mit Klebepistole und Bohr- maschine – keine bracht die Flex vom Django, wenn sie eine Hilti hat. Nach diesem Empowerment eine von der Affolter angeleitete hochemotionale Fürbitten-Szene, ein starkes weibliches Ich möge bitte die Bühne betreten.

Welch ein Wechselbad scheint’s unüberwindbarer Vorurteile. Affolter, Stöger, Grieser und Kulbatzki verschenken sich mit sichtbarer Freude an Haennis vor Esprit sprühende Prosa. Lieblingssatz Affolter zur Frage der Frau als toller Fang: „Wenn schon bin ich die Fischerin.“ Lieblingsdiskussion Affolter/Stöger zum (Schauspielerinnen-) Alter: Stögers „Mittelalter“ ist schlecht zu besetzen, so alt müsse man sein, dass alle sagen, Wahnsinn, die steht immer noch auf der Bühne! Lieblingsfigur Anne Kulbatzki in den Zwiegesprächen mit ihrem Strump-Stola-Hüftschmuck, einem „Muppet“, das sie zwischen all den Geschlechterfragen noch zusätzlich verwirrt.

So changiert der Abend zwischen dem ironischen Abfeiern simpel gedachter Mann-Frau-Banalitäten und der Skepsis über dieselben, zwischen Stögers verschrobenem Verzweiflungsblick und Kulbatzkis drolligem Augenrollen, zwischen Griesers schalkhafter Spiellust und der Großbühnentragödin Therese Affolter. Vier fabelhafte FrWOWen und ?!? – ein Todesfall, und wie sie in luftige Höhen abheben. Bemerkenswert. Sehenswert.

kosmostheater.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=Vi2ZWuqMEZc

  1. 10. 2020

Benjamin Black = John Banville: Eine Frau verschwindet

März 25, 2016 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Bis zum Ende ist der Ausgang unklar

9783462044676_10Das ist schon große Kunst. Fünfzig Seiten vor Schluss hat man zwar eine Ahnung, was passiert ist, aber längst noch keine Gewissheit. Man weiß, warum, aber nicht wie. Und mit dem wer, na, das ist so eine Sache … Der große irische Autor John Banville hat unter seinem Krimi-Pseudonym Benjamin Black einen weiteren Quirke-Roman vorgelegt. Es ist das dritte Buch, in dem der Dubliner Pathologe ermittelt, und auch, wenn nie wieder die Genialität der Handlung des ersten Falls „Nicht frei von Sünde“ erreicht werden kann, erzählt es eine fesselnde Geschichte.

Diesmal verschwindet eine junge Ärztin spurlos. Und Phoebe, Quirkes Tochter, ist überzeugt davon, dass diese, ihre Freundin, zu Tode gekommen ist. Quirke, der sich gerade erst aus einem Sanatorium für Suchtkranke eigenhändig entlassen hat, aber noch vor der Hälfte des Buches seinen ersten Whiskey, eine Flasche, kein Glas, geleert haben wird, „nur mit einem ausgewachsenen Kater fühlte er sich ganz er selbst“, macht sich auf die Suche. Diese April Latimer ist nämlich nicht nur das, was man in den 1950er-Jahren ein liederliches Mädchen nannte, sondern auch die Nichte des Gesundheitsministers, also Quirkes Vorgesetztem – und tatsächlich findet sich in ihrer Wohnung ihr Blut.

Hier hat zweifellos eine Abtreibung stattgefunden …

In verweht nostalgischem Tonfall lässt einen Banville-Black in eine aus österreichischer Sicht versunkene Welt eintauchen. Der Schriftsteller, der selbst unter der Zucht und Ordnung katholisch-irischer Erziehungsanstalten zu leiden hatte, arbeitet sich einmal mehr an seinen Lebensthemen ab: der Verlogenheit einer bigotten, grausamen Upper Class, die über ein Land herrscht, als wäre die Leibeigenschaft dort nie abgeschafft worden. Die Kirche, die Politik, die Wirtschaftsmächtigen, sie alle arbeiten daran, eine repressive – und frauenfeindliche – Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Banville-Black ist auch leidenschaftlicher Feminist. Er gibt seinen Protagonistinnen stets eine bedeutende Stimme. In einem Genre, in dem Weiblichkeit oft als Sekretärinnen- oder suspektes Beiwerk abgehandelt wird, sind seine Hauptdarstellerinnen gleichsam unterwegs in die Emanzipation.

Und, auch dies ein ständig wiederkehrendes Motiv in seinen Büchern, er ist ein wortgewaltiger Mitstreiter im Kampf gegen Kindesmissbrauch. Als 2009 in Irland ein riesiger Skandal aufgedeckt wurde, in katholischen Heimen und Schulen wurden jahrzehntelang tausende Minderjährige gequält, geschlagen, gedemütigt, vergewaltigt; schweigender Komplize war der Staat, der das System finanzierte, denn die Einrichtungen erhielten eine Kopfprämie für jedes Kind, schrieb John Banville wütende Essays in allen wichtigen Zeitungen.

Banville-Black ist Experte im Umreißen des Dubliner Lokalkolorits, ein Meister der Milieuschilderung, und wie er die Erotik eines auf das Bett geworfenen Damenmantels entwirft, weist ihn das als literarischen Chronisten einer Zeit aus, in der sich nicht jeder jederzeit die Kleider vom Leib riss, sondern Sex subtiler beschrieben wurde. Seine Beschreibung des Personals ist prägnant, er genießt es offensichtlich, seine Figuren vorzustellen, erst langsam, fast schon enervierend langsam baut sich die Spannung auf. Da ist also einerseits die mächtige Familie Latimer, mit dem Minister-Onkel, der Vater ein verstorbener Held des irischen Freiheitskampfes, die Mutter eine Spinne im Netz aller ortsansässigen Wohltätigkeitsorganisationen, der Bruder ein bedeutender Gynäkologe.

Doch April bevorzugte einen anderen illustren Kreis. Einen aus Schauspielern, Journalisten – und einem Medizinstudenten aus Nigeria. Ein schöner Kerl, „sie genossen es, ihn dabeizuhaben, denn er verlieh ihnen etwas Kultiviertes, Kosmopolitisches“, außerdem wird ihm eine Affäre mit April nachgesagt, doch halb Dublin fürchtet oder verachtet den „schwarzen Mann“ – was Banville-Black diesbezüglich über Rassismus und Xenophobie zu sagen hat, liegt nicht Jahrzehnte zurück. In beiden Runden gibt man Quirke und seinem bärbeißigen Partner Inspektor Hackett deutlich zu verstehen, sie mögen gefälligst die Finger von der Angelegenheit lassen. Und dann fällt das Wort „besessen“. Im Sinne von krankhafter, fehlgeleiteter Liebe, nicht von Hokuspokus …

Der Schatten der Vergangenheit schwebt über den Figuren. Quirkes Schicksal verquickt sich mit dem des mutmaßlichen Opfers. Entlang der Geschichte der fremden Familie wird die seiner eigenen erzählt, der einen Kalamitäten, der anderen Verhängnis. Denn Quirke, man weiß es seither, ist natürlich „Nicht frei von Sünde“. Er hat seine Tochter Phoebe nach ihrer Geburt, bei der seine Frau verstarb, seinem Halbbruder Malachy Griffin überlassen. Zwanzig Jahre hielt Phoebe den für ihren leiblichen Vater, seit sie die Wahrheit erfahren hat, ist ihre ohnedies unglückliche Welt ein Stück eingebrochener. Nun übersiedelt auch noch die gemeinsame Stiefschwiegermutter Rose von Boston nach Dublin, eine steinreiche Grande Dame mit der festen Absicht einen der beiden Männer zu heiraten, doch Quirke liegt derweil in den Armen der Schauspielerin Isabel. Man kann Freundinnen der Tochter ja zu eigenen machen. Dass dies alles das schwierige Verhältnis zweier schwieriger Charaktere nicht erwärmt, ist klar.

Demnächst schon erscheint Band vier der Quirke-Krimis, „Tod im Sommer“, bei Kiepenheuer & Witsch, da begeht ein Zeitungsverleger Selbstmord, was der Totengott in Weiß freilich bezweifelt, und Banville-Black schließt diesen hier mit ein paar gemeinen Cliffhangern rund um Rose und Isabell. Erstere lässt außerdem die wieder einmal hoffnungslos liebende Phoebe von einem Bostoner Verehrer grüßen, dessen Verlobte?, „ach, die ist schon lange von der Bildfläche verschwunden. Mr Spalding ist frei und ungebunden“. Und auch Jimmy Minor wird weiter herumschnüffelt. Der kleine Schmierfink eines Dubliner Käseblatts, der in der April-Story eine Sensation wittert, ist als Figur einfach zu gut, um ihn fallen zu lassen.

Banville-Black hat seinen Zyniker Quirke mit einem beißenden Humor ausgestattet, den der Autor durchaus zu teilen scheint. In diesem Fall dadurch, dass er ihn einen sündteuren Luxuswagen kaufen lässt. Den meist angetrunkenen, dafür führerscheinlosen Quirke. Was der arme Malachy in diesem Auto mitmacht, ist vom Feinsten. „Um Himmels willen!“, rief Malachy, als Quirke das Steuer unsanft umriss. Quirke sah in den Rückspiegel. Der Junge stand immer noch mitten auf der Straße und brüllte ihnen etwas hinterher. „Ja“, sagte er nachdenklich, „wäre wohl nicht so gut, wenn man einen von ihnen umfährt. Die sind wahrscheinlich alle abgezählt, hier in dieser Stadt.“ Dieser Alvis TC108 wird übrigens am Ende eine tragende Rolle spielen. Eine in den Abgrund tragende. Obwohl gar nicht so klar ist, ob tatsächlich im eigentlichen Sinn ein Mord passiert ist, wird der Täter überführt. Wer das ist, steht ziemlich ausführlich in diesen Zeilen.

Über den Autor:

Benjamin Black ist das Pseudonym des irischen Schriftstellers John Banville, das er ausschließlich für die Publikation seiner Kriminalromane verwendet. Banville wurde 1945 in Wexford, Irland, geboren, wo er erst die Christian Brothers Schule und später das St. Peters´s College besuchte. Nach dem College ging er für ein Jahr nach Amerika und arbeitete nach seiner Rückkehr als Angestellter für die Fluggesellschaft Aer Lingus, was es ihm erlaubte ausgiebig zu reisen, bis er 1969 eine Stelle bei der Irish Press antrat. Er war mehr als 30 Jahre lang als Journalist tätig, von 1988 bis 1999 arbeitete er als Literaturkritiker für die Irish Times und leitete das Literaturressort der Zeitung. Neben seiner Arbeit als Journalist verfasste er zahlreiche Drehbücher und Theaterstücke. John Banville lebt und arbeitet heute als freier Autor und Literaturkritiker in Dublin, er schreibt unter anderem Kritiken für die New York Review of Books.

Banville erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2005 den Man Booker Prize für seinen Roman „Die See“. In der Begründung der Jury hieß es, das Werk sei eine „meisterhafte Studie von Leid, Erinnerung und wieder bewusst gewordener Liebe“. 2011 bekam Banville den Franz-Kafka-Literaturpreis, 2013 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet und erhielt den Irish Book Lifetime Achievement Award. Für 2014 wurde ihm der Prinz-von-Asturien-Preis zugesprochen. John Banvilles Kriminalgeschichten spielen in der Regel im Irland der 1950er-Jahre, um den Pathologen und Alkoholiker Quirke. Laut Banville stellt das Dublin jener Zeit das perfekte Setting für Kriminalgeschichten: schäbig, neblig – und über allem der dunkle Kohlestaub. Banvilles letzter Krimi-Noir „Die Blonde mit den schwarzen Augen“ weicht allerdings von dieser Regel ab: Die Handlung ereignet sich in Kalifornien und der ermittelnde Privatdetektiv ist die berühmte Figur des Schriftstellers Raymond Chandler – Philip Marlowe.

Kiepenheuer & Witsch, Benjamin Black alias John Banville: „Eine Frau verschwindet“, Kriminalroman, 352 Seiten. Aus dem Englischen von Andrea O’Brien.

www.kiwi-verlag.de

www.benjaminblackbooks.com/quirke.htm

Wien, 25. 3. 2016