Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein: Regisseur Rupert Henning über seine André-Heller-Verfilmung

Februar 18, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

„Werde nicht wie alle, die du nicht sein willst!“

Paul Silberstein, abenteuerhungriger Spross einer Wiener Zuckerbäckerdynastie, gestaltet sich eigene Wirklichkeiten: Valentin Hagg. Bild: © Dor Film

„Du bist ein seltsames Kind“, ist der Satz, den Paul Silberstein von den zu seiner Erziehung Berechtigten regelmäßig zu hören bekommt. Doch er, der sich selber den „funkelnden Hundling“ nennt, hat längst beschlossen, weder Familie noch den Internatspriestern zu folgen – im Sinne auch von: zu gehorchen. Eingesperrt ins strenge System einer Wiener Zuckerbäckerdynastie, macht sich deren abenteuerhungriger Spross auf, seine eigenen Wirklichkeiten zu entdecken.

Wozu ihm die Kraft der Fantasie und die Macht des Humors – und das von ihm festgeschriebene elfte Gebot „Du sollst dich selbst ehren“ verhelfen werden. Im Jahr 2008 erschien André Hellers entlang der persönlichen Biografie erdachte Erzählung „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“, die nun von Rupert Henning, der gemeinsam mit Uli Brée auch das Drehbuch verfasste, verfilmt wurde. Neben dem fabelhaften Filmdebütanten Valentin Hagg als Paul Silberstein spielen Karl Markovics, Sabine Timoteo, Udo Samel, Marianne Nentwich, Gerti Drassl, Marie-Christine Friedrich, Christoph F. Krutzler, Petra Morzé und Sigrid Hauser. Kinostart ist am 1. März. Rupert Henning im Gespräch:

MM: Sie haben sich sehr lange mit diesem Projekt befasst, beinahe zehn Jahre. Worin lag die nicht enden wollende Faszination in André Hellers Erzählung „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“?

Rupert Henning: Das Buch kam 2008 heraus und ich habe es bald danach gelesen. Aber für ein Filmprojekt braucht man immer einen langen Atem; so ein Film ist sozusagen ein nur langsam zu manövrierender Hochseetanker – noch dazu, wenn das Projekt für österreichische Verhältnisse ein so großes ist. Was heißt: Wir haben es majoritär österreichisch finanziert. Der Text von André Heller hat zwar einen klaren regionalen Bezug, ist aber gleichzeitig universell verständlich – und extrem ungewöhnlich. Ein Stoff, wie ich finde, der von der Machart her nicht alltäglich ist. Man findet im Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre österreichischer Literaturgeschichte nicht viele Bücher wie dieses. Daher hoffe und glaube ich auch, dass es nicht viele Filme wie den unseren gibt.

 MM: Machart bedeutet, dass das Buch gut zu verfilmen ist?

Henning: Ja, den Eindruck hatte ich sofort. Es hat einen klaren erzählerischen Kern – und mit dem Protagonisten Paul Silberstein eine Hauptfigur, die man sich merkt. Eine Figur, die auch unabhängig von André Heller funktioniert. Wenn man dessen Lebensgeschichte kennt, findet man natürlich Parallelen. Er selber schreibt ja in der Präambel, manche der geschilderten Begebenheiten hielt seine Kindheit für ihn bereit, aber die Oberhand beim Schreiben hatte die Fantasie. Darüber hinaus ist das Ganze überaus unterhaltsam, es ist wie etwa Torbergs „Tante Jolesch“ sehr kulinarisch. Aber wie Torberg schrieb, es ist ein Buch der Wehmut – und Wehmut kann lächeln, Trauer kann das nicht. Ebenso sehe ich das Heller-Buch.

 MM: Sie haben mit André Heller schon zwei Projekte gemacht. Wie hat er auf das Filmprojekt reagiert?

Henning: Positiv. Er hat gesagt: „Macht‘s!“ Außerdem hat er Uli Brée und mir beim Schreiben des Drehbuchs völlig freie Hand gelassen. Es gab von ihm zuvor auch schon ein Naheverhältnis zu den Produzenten Danny Krausz und Kurt Stocker, mit denen er selber Filme realisiert hat.

MM: Ihr Film hat etwas Kammerspielartiges. Würden Sie mir in dieser Beurteilung folgen?

Henning: Ja. Jedenfalls in gewisser Hinsicht. Der Film erzählt unter anderem von Enge – und Kammern sind nun einmal eng. Die Geschichte von Paul ist zunächst eine Geschichte der Einengung. Ein Bub, der witzig und fantasiebegabt und weltoffen ist, lebt in einer Familie, die das absolut nicht teilt, sondern ihm ständig sagt, was er nicht tun soll. Das klingt nach schwerem Drama, nach „Zögling Törleß“; meinem Co-Drehbuchautor Uli Brée und mir ging es aber vorrangig nicht darum, die Studie eines Knaben zu zeigen, der sich mit den Dämonen der eigenen Familie herumschlagen muss, sondern darum, eine Geschichte zu erzählen, die einen fesselt und packt und unterhält. Die hochemotionale und humorvolle Geschichte einer Befreiung.

MM: Der Film hat auch optisch eine ganz klare Dramaturgie …

Henning: … und zwar in der Art, wie die Farben erzählt werden. Bis zum Tod des Vaters ist alles ein wenig grau und duster – und dann geht halt die Sonne auf, wenn der Vater stirbt. Das klingt absurd, wenn man es so sagt, aber erst, als der dominante, sich selbst und die ganze Welt verachtende Patriarch nicht mehr ist, gehen plötzlich die Fenster auf und das Licht kann herein. „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ ist ein Ermutigungsfilm, ein Befreiungsfilm.

Der tyrannische Vater Roman Silberstein leidet an seinem Zweiter-Weltkriegs-Trauma: Karl Markovics. Bild: © Dor Film

Skurrile Szene: „Nonne“ Gerti Drassl glaubt, der Papierflieger-Liebesbrief sei an sie abgeschickt worden. Bild: © Dor Film

MM: Wofür Sie den perfekten Hauptdarsteller gefunden haben. Welch ein Glück, Valentin Hagg gehabt zu haben!

Henning: Absolut. Wir haben uns hunderte Buben angeschaut, und Valentin stand am Ende als Wunschbesetzung fest, weil er so speziell ist, an dieser Schwelle vom Kind zum Jugendlichen. Er hat nie zuvor in einem Film mitgespielt, und er ist dennoch einer der besten Schauspieler, mit denen ich je zu tun hatte.

MM: Er spielt entfesselt. An die Sprache, daran, dass ein Kind sich so elaboriert ausdrückt, muss man sich allerdings gewöhnen.

Henning: Klar, alles an dieser Familie ist zunächst einmal eher ungewöhnlich, ist eine Maske – oder vielmehr eine Rüstung, eine Festung. Die Mutter stets perfekt, wie aus einem edlen Modekatalog, Bruder und Vater immer in maßgeschneiderten Anzügen, die Familienvilla wie ein Museum. Deshalb haben wir in der Hermesvilla gedreht, damit alles wie eine Inszenierung und unwirklich wirkt, solange Paul sich nicht befreien kann. Und so ist zunächst auch die Sprache – künstlich und unecht. Aber Paul findet am Ende seinen eigenen Ton, seine eigene Ausdrucksweise.

MM: Diese Festung schießen Uli Brée und Sie mit Szenen skurrilen Humors ein. Etwa, wenn Gerti Drassl als Nonne einen Papierflieger fängt, der ein Liebesbrief ist, den sie auf sich bezieht. Oder wenn Dominik Warta als Polizist seine Furcht erst verliert, als er erfährt, dass es den dämonischen alten Patriarchen nicht mehr gibt.

Henning: Solche Auflockerungen sind von André Heller schon so angelegt. Manche Szenen sind wie ein Mini-Horváth. Ödön von Horváth, Joseph Roth oder Helmut Qualtinger, mit dem er ja auch gearbeitet hat, sind, wie ich glaube, Leuchttürme, an denen Heller sich unter anderem orientiert. Er sagt über sich selbst, er ist in Wahrheit kein Mensch, sondern ein Wesen, das menschliche Erfahrungen macht und auf dem Planeten Erde ein Gastspiel in der Rolle André Heller gibt. Ich finde, er ist gewissermaßen eine multiple Persönlichkeit. Er spaltet sich in verschiedene Stellvertreter auf, die allesamt André Heller heißen und die er losschickt, damit sie für ihn in der Welt Eindrücke sammeln. In „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ gibt er einen sehr tiefen Einblick in die Seele eines Kindes, das wie ein Schwamm Erlebnisse aufsaugt. Und zwar nicht nur das reine Quellwasser, sondern halt auch das Drecksgschloder, das aus der eigenen Familiengeschichte rinnt. Heller entwirft das elfte Gebot, das da lautet: „Du sollst dich selbst ehren.“ Und das Motto seines Helden heißt: „Werde nicht wie alle, die du nicht sein willst!“

MM: Eine starke Figur ist nicht nur Paul, sondern auch sein Vater Roman Silberstein, der sich mit einer unglaublichen Szene einführt. Karl Markovics spielt ihn zwischen tragischem Helden und Psychopathen.

Henning: Ich wollte schon sehr lange mit Karl Markovics arbeiten – und bei diesem Projekt war mir sofort klar, er gehört dazu. Karl hat zunächst gezögert – nicht, weil ihm die Rolle nicht interessant schien, sondern weil er erst einmal nicht auf den Gedanken gekommen ist, sie zu verkörpern. Es ist nun eine sehr eigenwillige Interpretation der Figur geworden; eine böse Figur, aber eben auch eine tragikomische – insofern, als dass Karl immer erspüren lässt, wie das Leben dieses Menschen auch hätte sein können. Roman Silberstein ist durch ihn nicht nur ein pathologischer Irrer, sondern er hat auch immer wieder Momente des Innehaltens. In der ersten Szene gleich, wenn er als Erklärung für die eigene Grausamkeit sagt: „Die Kriege machen das. Wenn du in ihnen bist, sind sie bald auch in dir. Und wenn sie außen endlich erlöschen, brennen’s in dir weiter.“ Karl zeigt, wie geistreich, wie schillernd diese Person hätte sein können, hätte ihr nicht der Zweite Weltkrieg und sein Schicksal als Flüchtling allen Glanz geraubt.

MM: Prägnant drückt das seine Verwandte Silbersteins aus, wenn sie sagt, er hätte es nicht geschafft, mit sich befreundet zu sein.

Henning: Das fällt ja auch vielen schwer – vor allem, wenn sie Traumatisches erlebt haben. Dazu eine Geschichte, an die ich oft denken muss: Ich habe einmal zwei Brüder kennengelernt, die beide in Auschwitz gewesen waren. Aus dem Älteren wurde nach der Befreiung 1945 ein lebensfroher, humorvoller, wenn auch nichts verdrängender Mensch. Der Jüngere blieb für den Rest seines Lebens ein schwarzes Loch der Traurigkeit. Ihre Erfahrungen waren nahezu identisch, aber als Menschen waren sie grundverschieden. Der ältere Bruder sagte mir irgendwann: „Ich kann es nicht erklären. Wir waren beide in Auschwitz. Aber in Wahrheit habe ich Auschwitz nie betreten. Und mein Bruder hat es nie verlassen.“ Menschen gehen unterschiedlich mit dem um, was man gemeinhin „Schicksal“ nennt. Umso wichtiger – und das erzählt der Film auch – ist es, dass jeder versucht, rauszufinden, was seine Wünsche sind, seine Bedürfnisse, seine Freiheiten. Der Film regt hoffentlich zu einem Selbstbewusstsein an, das kein polternder Ego-Trip ist, sondern eine Bewusstmachung der Dinge, die einen ausmachen.

MM: Heißt also, nicht wie Mutter Silberstein zu sein, die sagt, sie hätte alle Möglichkeiten, aber keinen einzigen Wunsch.

Henning: Genau. Für mich war es sehr beglückend, Elisabeth Heller persönlich kennenzulernen. Ich hatte eine wunderbare Begegnung mit ihr in Hellers Garten in Gardone. Im Vergleich zur Figur im Film war sie viele Schritte im Leben weitergekommen; sie war wirklich, wie André Heller sagt, ein Jahrhundertmensch. Was hat dieses Leben nicht alles umspannt! Elisabeth Heller hat alles erlebt – vom goldenen Käfig, über den Bankrott und die darauffolgende Selbstrettung bis hin zu einer vielleicht daraus resultierenden gewissen Milde und Abgeklärtheit im Alter.

MM: Was haben Sie durch solche Begegnungen gelernt?

Henning: Es geht uns so gut wie nie zuvor. Das ist der Grund, warum Entwicklungen durch Menschen wie Trump und Orbán so erschreckend sind. Demokratie ist nichts Selbstverständliches, man muss täglich darum ringen. Ich glaube nicht, dass morgen wieder braune Horden durch die Straßen ziehen, aber dass Freiheiten eingeschränkt werden, dass eine neue Angst die Leute leitet, das ist sehr wohl eine Tatsache. Und auch das behandelt dieser Film, weil er eigentlich sagt: „Lass dich nicht von falschen Sicherheiten kaufen!“ Das Denken, demzufolge man, solange man nichts macht, auch nichts falsch machen kann, ist verheerend. Der Paul Silberstein in uns sagt: „Sei nicht untätig! Überprüfe deine Träume!“ Der Heller würde das jetzt vermutlich so formulieren: „Überprüfe deine Träume in der Wirklichkeit auf ihre Statik – auch auf die Gefahr hin, dass ein paar von deinen Traumkartenhäusern in sich zusammenbrechen und du scheiterst. Aber wir lernen aus unserem Scheitern!

Als wär‘ es schon Flic Flac: Valentin Hagg veranstaltet als Paul Silberstein für sein geliebtes Mädchen ein Kopf-Varieté. Bild: © Dor Film

MM: Apropos, Traum: Die Schlusssequenz des Films ist einer, eine Flic-Flac-artige Szene, ein Zirkus. Warum?

Henning: Ganz einfach: Paul Silberstein verehrt ein Mädchen, das schwer krank ist. Er fragt sich: „Was ist zu tun?“ Und dann entscheidet er sich, dass er ihr Anwesenheit und Zeit schenken kann. Und seine Fantasie. Und so brennt er ein Feuerwerk aus fellini-esken Attraktionen ab. Ob sie’s gesehen hat oder nicht – man weiß es nicht.

Es ist ein Don-Quijote-Moment, dessen Entschlüsselung beim Publikum liegt. Noch eine Geschichte: Als mein Bruder klein war – er vielleicht vier, ich vierzehn Jahre alt – saßen wir oft zusammen in meinem Zimmer. Es war Herbst, tagelang herrschte dieser typische Klagenfurter Nebel, der einem bis in die Seele suppt. Es war ein trüber Tag und mein kleiner Bruder merkte wohl, dass ich nicht gut drauf bin. Da hat er mit einer Schere aus einem gelben Blatt Buntpapier eine kleine runde Scheibe ausgeschnitten. Eine Sonne. Die hat er dann an mein Fenster geklebt. Für mich ist das genau das, was Menschen mitunter können: Eine Buntpapiersonne aufkleben, wenn der Nebel ins Gehirn suppt. Man kann das eskapistisch nennen. Was André Heller schon sein Leben lang macht, ist vielen möglicherweise zu schwül, zu eklektizistisch, zu … was auch immer. Ich glaube an die Wirkung solcher Buntpapiersonnen. Manchmal helfen sie, manchmal nicht. Heller ist neben einer polarisierenden, vielschichtigen Figur auch ein fortwährendes öffentliches Scheitern, aber oft auch ein Gelingen – und von solchen Figuren gibt’s nicht viele. Schon allein deshalb finde ich ihn toll.

 MM: Man darf die Realität nicht ausblenden, man muss aber auch die Fantasie leben?

Henning: Das ist das, was dieser Film unter anderem erzählen soll. Aber nicht als verzopfter Fantasie-Poesie-Quatsch, sondern in einer klaren, identifizierbaren Form.

 MM: Sie haben im Sommer mit der Produzentin Isabelle Welter die WHee-Film gegründet. Was erwartet uns da? Werden Sie dort Ihr nächstes Projekt realisieren?

Henning: Nächste Projekte, wie ich hoffe. Ich finde den Plural in dem Zusammenhang schöner. Die WHee-Film ist entstanden, weil Isabelle und ich befunden haben, dass wir allmählich erwachsen genug sind, um selbst Verantwortung zu übernehmen – auch in produzentischer Hinsicht. Und weil wir sehr viele Projekte im Kopf haben, die wir gerne entwickeln würden. Zusammen mit verschiedenen Partnerinnen und Partnern – Hand in Hand sozusagen. Es gibt mehrere Ideen, Stoffe, die noch in der Entwicklung beziehungsweise in der Finanzierungsphase sind. Ein ganz konkretes Projekt, das wir gemeinsam mit der „Metafilm“ und mit „Gebhardt Productions“ machen wollen, ist „Mein Ungeheuer“ von Felix Mitterer. Das begleitet mich schon sehr lange. 2005 habe ich Felix in Irland besucht und er hat uns die Rechte gegeben. Es ist ein famoser, sehr packender, fast schon archaischer Stoff über die Ungeheuer in uns selbst, über Gut und Böse und über die Kraft der Liebe, die vielleicht die einzige Brücke über die Abgründe ist, die sich manchmal zwischen uns Menschen auftun.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=D5BU4pqjf-E          wieichlernte.at          www.wheefilm.com

18. 2. 2019

Theater in der Josefstadt: Auslöschung

Februar 26, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Fulminantes Solo für vier Schauspieler

Wolfgang Michael und Udo Samel Bild: Sepp Gallauer

Wolfgang Michael und Udo Samel
Bild: Sepp Gallauer

Der Vorhang geht erst gar nicht auf. Rot und schwer lastet er auf der Bühne und bewegt sich später nur, um den Blick auf eine Holzhölle freizugeben: Baumstämme eines Stammbaumschattenreiches mit Fluchtlinie im Nirgendwo. Man kann seinem Erbe nicht entkommen, sagt Thomas Bernhard, sagt das hierfür von Hansjörg Hartung erfundene Bild. Franz-Josef Murau, der dem Publikum seine Geschichte erzählt, ist zu diesem Zeitpunkt längst tot, aber das erklärt sich nicht, das ist überflüssig. Weil sich ohnedies erschließt, dass die vier Männer, die er sind, ein Geist, besser: eines Widerspruchsgeistes sind, und das Gespenst ihrer Vergangenheit jagen. Oliver Reese, Chef des Schauspiel Frankfurt und designierter Leiter des Berliner Ensemble, hat am Theater in der Josefstadt Thomas Berhards „Auslöschung“ inszeniert.

„Auslöschung“ ist das letzte befindlichkeitsverliebte Bernhard-Bulletin, die Zerfallsschrift eines monomanischen Monologprotagonisten, eben jener Murau, nunmehr Professor in Rom, früher Familiengefangener im verhassten oberösterreichischen Wolfsegg, wo ihn das Nationalsozialistischkatholische und die dumpfe Dummheit seiner Umgebung fast zu Grunde gehen ließen. Ein Umstand, ein Zustand, den er mit einem ins Uferlose mäandernden Erzählfluss einzudämmen sucht. Ein sich selbst bemitleidendes Leiden, lebenslänglich, dem erst intellektuelles Ersatzdenken eine lindernde Existenz verschaffte. Nun aber Autounfall, Telegramm, Begräbnis, Testament und deshalb Heimkehr. Reese hat den Bernhard’schen Tonfall gut getroffen. Besser als andere, die sich an anderer Stelle um die dramaturgische Destillation dessen bemühten, das sich nach Leibeskräften dem Theatralen zu entziehen sucht. Es scheint, denkt man, seit Längerem eine Art Romanuraufführungserkrankung unter Regisseuren zu geben, doch Reese hat Erfahrung. In Frankfurt hat er alle fünf autobiografischen Bernhard-Bücher in einen Theaterabend gepackt. Was von den dortigen Zuschauern heftig akklamiert wurde. Nun ist ihm mit seiner szenischen Einrichtung von „Auslöschung“ in Wien naturgemäß selbiges gelungen.

Reese wendet einen Theatertrick an. Er teilt den Murau auf vier Spieler, heißt: auf vier Stimmen in einem Kopf: ich denke – wie ich denke – was ich denke – während ich es denke. Wolfgang Michael, Christian Nickel, Udo Samel und Martin Zauner üben sich als Pars pro toto im Parallelselbstgespräch; der Mensch wird während dieses Solos für vier Schauspieler ein Abbild seiner Imagination. Reese hat seinen superlativischen Suderanten sehr schön den Bernhard’schen Schalk in den Nacken gesetzt, mit ihnen der Erregung am Zerfall, der Lust an dieser Erregung und der Auflehnung im Aufschreiben nachgefühlt. Die familiär zugefügten Deformationen sind ja immer die schlimmsten, und so ist dieser Murau ein weiterer hassverschwenderischer Herrenhausvertriebener des literarischen Wiederholungstäters, den die Darsteller je nach körpereigener Betriebstemperatur zwischen Verzweiflungsvirtuosen, Mißmutsmanieristen und Verdrossenheitskomiker anlegen. Wie es hier steht, ist es schon falsch, weil zu einschränkend, zu beschreiben, Nickel verkörpere das lebenslang Liebe suchende, verletzte Kind, Samel den im Genussverbotscharakter versteckten Epikueer und Zauner die Art Zyniker, die Thomas Bernhard als vorletzten österreichischen Volksdichter ausweist. Mit Wolfgang Michael jedenfalls zieht der Wahnsinn in die Figur ein.

Das Quartett erweist sich als hochgradig geeignet für Bernhards hochmusikalische Übertreibungskunst. Seiner fulminanten Bühnenpräsenz ist es zu danken, dass der Abend Schauspiel statt Vortragsstück geworden ist. Aus Muraus Kopf evozieren sie weitere Dustergestalten, Samel und Nickel verzücken als tödlich schwesterliches Dirndl-Duett Caecilia und Amalia, Samel zeigt sich auch noch als Nestbeschmutzer-Onkel Georg, Nickel als Mutters erzbischöflicher Ex-Liebhaber und Muraus Möglichkeitsvater SpadoloniZauner schlurft als einer von Muraus „feinnervigen“ Gärtnern über die Bühne. Sie alle sind von Reese wie aus den Schilderungen Muraus herausgeschält. Reese erweist sich als sehr exakter Regisseur, der seine Schauspieler präzise zu führen weiß, seine detailverliebten Einfälle statten deren Kanon aus.

Reese interessiert sich mehr für die Wolfsegger Familienaufstellung denn für die Bernhard’sche Perpetuum-mobile-Staatsschelte, als deren Opus summum „Auslöschung“ gelten darf. Er lässt die Zustandsbeschreibung eines immer noch an der offenen Gruft seiner Vergangenheit und dabei schon am Grenzzaun seiner Zukunft stehenden Landes fast zur Gänze aus. Dieser das Österreichertum als die Todesstrafe unter den Nationalitäten auslassende Blick, dieser des politischen Querulantentums entkleidete Zugang, ist ein hierzulande ungewohnter zum Werk des heuer 85 Jahre alt geworden wärenen Autors. Wo doch seine skandalumwehten Pauschalurteile naturgemäß als ewig gültige gelten müssen! Sozialdemokratische Parteiführer und katholische Kirchenfürsten im Schweigen übers Menschenunrecht vereint. An jedem Morgen, in den hinein wir aufwachen, müssten wir uns ja für dieses heutige Österreich zutode schämen. Vielleicht hat Oliver Reese ja erkannt, dass das ohne Martin Humer ohnedies nur noch der halbe Spaß gewesen wäre …

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Wien, 26. 2. 2016

Theater in der Josefstadt: Wolfgang Michael im Gespräch

Altes Geld

November 3, 2015 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Frei von der Leber weg? Es war fad.

Manuel Rubey als Jakob Rauchensteiner Bild: ORF/Superfilm

Ein finsterer Geselle als Lichtblick: Manuel Rubey als Jakob Rauchensteiner
Bild: ORF/Superfilm

Im anschließenden Kulturmontag kam ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner das Wort Überhöhung über die zugespitzten Lippen. Ja, wenn’s denn so … Wochenbeginn war’s und „Altes Geld“ war und bin ich böse, weil mir das Herzerl nicht übergegangen ist? Frei von der Leber weg: Es war fad.

Nun ist es natürlich ein guter Schmäh, vor der Fernsehausstrahlung die DVDs rauszubringen, die freilich Platin holen, weil die Leute schneller sein wollen als der Küniglberg sein kann, und David Schalko kaufen, wenn David Schalko draufsteht. Nun ist es der noch viel bessere Schmäh, auf stattgefundenen Flimmit-VoD-Erfolgen rumzureiten, also quasi im Öffentlich-Rechtlichen einen aufgewärmten Schas zu trommeln, den sich die letzten, also ich, die’s noch nicht gesehen haben, anschauen, weil die Zuschauer ob des bisherigen Hypes David Schalko sehen wollen, wo David Schalko drin ist. Die Leber galt, nur so nebenbei, den alten Griechen als Sitz des Lebens; heute gilt als verstorben, wer hirntot ist. Man spricht dann auch von „coma dépassé“, einem irreversiblen Koma.

Apropos, „Altes Geld“. Das ist sehr langsam und ziemlich leise. Vermutlich, weil der Zynismus selten schnell und nie laut ist. Bis sich was entwickelt, und es entwickelt sich kaum was, und das in Nichtlustig, weil bei keinem Tempo auch keine, so sie vorhanden gewesen wären, Pointen zünden können, kann man getrost drei Mal Limonade holen und vier Mal Lulu gehen. Oder je nach Blase umgekehrt. Die Lücke der dafür privat zuständigen, beim ORF fehlenden Werbepausen ist somit praktisch gefüllt. Es gibt viele Stehsätze. „Es gibt keine Pazifisten, nur Menschen ohne Waffen“. „Ich will nicht deinen Tod, ich wünschte es hätte dich nie gegeben“. „Humanismus ist, was übrigbleibt, wenn Effizienz weg fällt“. Vastehst, Oida? Pampf! Irgendwo kränzelte einer den Lorbeer „Altes Geld“ sei der heimische Denver-Clan, und wiewohl der schon eine Fernsehflatulenz, ich komm‘ einfach nicht von heißer Luft und Wind machen los – bitte um Verzeihung, war, ist „Altes Geld“ doch eher Rosamunde-Pilcher-Dynasty. Fallon und Jeff verlassen die Party und gehen mit der Kippe in den Garten an der Klippe. Fallon beginnt den Joint zu rauchen.  Jeff: „Das ist ja Stoff, Fallon.“ Fallon:“Da hast du recht.“ Jeff: „Was ist, wenn uns jemand sieht?“ Fallon:“Keine Sorge, ich habe genug, das reicht für alle.“ So viel zu Serien – high – light.

Zurück zu „Geld. Macht. Liebe.“ Das topbesetzte Schauspielerensemble agiert als die typischen Stereo-Typen. Udo Kier, sprachlos hinter Sonnenbrillen, teilt sich den einen irren Blick brüderlich mit Robert Palfrader, der als Psychopath auftritt. Ebenso überraschend der Einsatz von Nicholas Ofczarek als Arsch vom Dienst und von Thomas Stipsits als Hoperdatsch. Herbert Föttinger ist ein versoffener, süffisanter Bürgermeister, Simon Schwarz ein geschmeidiger Grüner. Immerhin zukunftsvisionärrisch sah Schalko das Gesundheitsressort schon wie Nieren wandern. Es kann aber statt Verkehr auch Bildung werden. Johannes Krisch, Florian Teichtmeister, Cornelius Obonya und Ursula Strauss spielen außerdem mit. Michael Maertens gibt einen Dr. Seltsam. „Hier bringt sich erstaunlicherweise niemand um“ ist ein Serienzitat. Sunnyi Melles spielt die upperclassig Unterkühlte und Nora von Waldstätten kann punkto Gesichtsfarbe sogar noch blasser sein als sie.

Nur Manuel Rubey erfindet sich mit blonder Perücke beißend neu, als Apfel, der dann doch nicht so weit vom Stamm gefallen ist, ein raubtiergefährlich Schimmernder unter aalglatter Oberfläche; er ist auf den ersten Licht-Blick nur an der Stimme identifizierbar. Ah ja, Dr. Seltsam: Worum geht’s? Der Kier hat Geld und braucht eine neue Leber und wird sein Vermögen dem vererben, der ihm eine bringt. Der Kier ist Nazi-Bub mit Führerfahrzeug im Fuhrpark und jüdischer Schwester am Telefon, sein Vater passender Weise mit Gas, für den Entweichler kann ich aber nix, reich geworden. Außerdem gibt’s Ost-Ganoven, Afrika und Analverkehr und eine Kampfszene in Peckinpah-Zeitlupe. Untertourig fast voll aufs Pedal steigen soll angeblich Sprit sparen.

Was gefällt, außer dem Dark-Duck-Club und seinem Codesatz „Hedy Lamarr ist eine geile Sau“, ist dieses Wien und Umgebung ohne Wiedererkennungswert, dieses nirgendwo überall in seinen kalten Farben, das seine Schattenspiele auf den Gesichtern aufführt, die unkonventionellen Kameraperspektiven, die schiefen Winkel und die schrägen Einstellungen. Es kann nur besser werden. Wöchentliche Ausstrahlung heißt ja, dass man sich an alles gewöhnt. Nach den ersten beiden Folgen gilt für das als „auf eine krude Art lustvoll“ angepriesene, aber noch: Eh, für die Masochisten unter den Serientätern.

Zum Nachjammern: tvthek.orf.at/program/Altes-Geld/10856047/Altes-Geld-1-Folge-Buschtrommeln/10892981

tvthek.orf.at/program/Altes-Geld/10856047/Altes-Geld-2-Folge-Alpha/10893003

Wien, 3. 11. 2015

Theater in der Josefstadt: Die Kameliendame

Dezember 19, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sandra Cervik stirbt im Schnee

Katja Bellinghausen, Josef Ellers, Alexander Absenger, André Pohl, Susanne Wiegand, Sandra Cervik Bild: Moritz Schell

Katja Bellinghausen, Josef Ellers, Alexander Absenger, André Pohl, Susanne Wiegand, Sandra Cervik
Bild: Moritz Schell

Es ist der Stoff aus dem die tränentriefenden Schmonzetten sind. Ein Groschenroman getarnt als Weltliteratur. Überlebensgroß gemacht durch Verdis „La Traviata“. Paris‘ größte Kurtisane wird zur Mätresse, zur aufrichtig Liebenden eines jungen Mannes, der glaubt, zum Leben genüge Luft und Leidenschaft. Leider nein. Vom Lobgesang auf den Genuss bis zum Totenbett einer an Tuberkulose Sterbenden geht’s durch drei Akte. Generationen von Regisseuren haben sich an der „vom Weg Abgekommenen“ schon fix und fertig gekitscht.

Das Theater in der Josefstadt spielt nun „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas dem Jüngeren. Er selbst funktionierte sein Buch schon 1852 zum Stück um; hier ist allerdings eine grandios entstaubte Fassung von Herbert Schäfer – der gemeinsam mit Vasilis Triantafillopoulos auch für Bühnenbild und Kostüme zuständig war – zu hören. Torsten Fischer inszenierte. So haben also Fischer und Schäfer der Kunst-Gewerblichen allen Flitter und Firlefanz runtergeräumt. Eiseskalt ist diese Welt, Schnee fliegt und bleibt liegen. Die Gesellschaft vergibt nicht, was man war und nicht mehr sein will. „Hure“ ist das Wort, das Kokottische entrümpelt. Ein riesiger „Spiegel der Gesellschaft“, einmal so gedreht, dass sich das Publikum bis in den obersten Rang darin sehen kann, ist das zentrale optische Instrument. Das war mal was, hat aber mittlerweile einen Bart, länger als der vom Weihnachtsmann. Sei’s drum. Schäfer schafft dadurch auch Bildkompositionen von fantastischer Schönheit.

Die Geschichte ist wahr. Alexandre Dumas verehrte eine Käufliche namens Marie Duplessis. Sie liebte Kamelien, Luxus, war schwindsüchtig, verstarb mit 23 Jahren. Und damit beginnt auch Fischers Arbeit: Das Ende als Anfang. Zu Willy DeVilles „Heaven Stood Still“ mischen sich Fakt und Fiktion. Die erdachte Figur Marguerite Gautier (Sandra Cervik) stirbt in den Armen von Alexandre Dumas (Tonio Arango in einer seiner Funktionen). Der Totentanz kann beginnen, denn kurz darauf erscheint Figur Armand Duval (Alexander Absenger) – und A. D. sagt zu A. D.: „Das bin ja ich.“ Beginn eines Zwiegesprächs. Die beiden werden nicht mehr zu trennen sein. Etwa, wenn Marguerite mit Dumas tanzt, während sie Duval ihre Lebenssituation zu erklären sucht. Beim Beischlaf mit Zweiterem, den Ersterer bei einer Flasche Rotwein und einer Zigarette beobachtet. Viel nackte Haut und monströse Krinolinen machen die Damengarderobe aus. Die Herren sind entweder in Frack und Zylinder oder teilweise bis ganz unbekleidet.

Arango ist der Motor des Abends, über dem die Schwermut als Gedanke liegt. Viel mehr als ein „Erzähler“ ist er Teilnehmer am Geschehen, ständiger Gast im Salon der Lustpaarkeiten, übernimmt kleine Rollen vom Croupier bis zum Totengräber, ist der älter gewordene Armand Duval, der als Last die Schuld trägt, nun den Grund für das Verschwinden Marguerites zu kennen (Stichwort: Georges Duval), will seinem jüngeren Ich helfen, kann aber nicht – und ist zum Glück Humorverweser im Sinne eines Reichsverwesers. Es ist erstaunlich, aber bei Arango eigentlich logisch, dass ausgerechnet er, der keine „Rolle“ hat, am besten spielt. Ein Darsteller, wie sich wenige finden!

Sandra Cervik legt die Kameliendame als vom Leben hart gewordene Frau an, die ihre Dämonen sehr gut kennt und sich selbst von allen vielleicht am meisten verachtet. Was sie mit Champagner kompensiert. „Ich bin ein blutspuckender Geldraffautomat“, sagt sie einmal. Cervik changiert zwischen nobel und nuttig. In ihrer famos gespielten Sterbeszene, „Armand“ (hier Arango) rufend, den verzweifelten Eifersüchtling, der ihr gerade 500 Franc für ihre Dienste hingeworfen hat, ist sie bei sich. Im Sterben im Schnee so allein wie im Leben. Davor gibt es einen Dialog zwischen A. und M., in dem Hochmut auf Demut trifft. Und die Konflikte dieser Amour fou, in der man sich selbst hasst, weil man den anderen liebt, entblößt werden. Diese Szene ist wohl der Höhepunkt der Inszenierung.

Alexander Absenger gibt mit Bravour den unbedarften, netten Bursch‘, dessen Wechselspiel mit Arango Fischer auf den Punkt inszeniert hat. Ein Auf-Augenhöhe-Spiel. André Pohl – und viele im Publikum waren gespannt, wie ihr liebenswerter Theaterwegbegleiter da sein wird – verkörpert mit Arthur de Varville den brutalen Unsympath, den „Vergewaltiger“, aber auch Finanzier nachdem Marguerite Duval verlassen musste. Er ist Täter und Opfer zugleich, lässt sie ihn doch nicht nur ihre Geringschätzung spüren, sondern ihn trotz Schuldentilgung auch nicht „ran“. Ein sehr gelungener, anderer, neuer Einsatz Pohls! Ein paar witzige Metaphern wurden gefunden, um über „es“ zu kommunizieren. Die Schönste: Wenn sich die Damen des Salons gegenseitig das Gesicht ab-budern. Da ist Marguerite bereits ein Gespenst an Varvilles Arm. Bei einem Fest kommt es zum Eklat mit Duval. Der Herr über den Körper gegen den Seelenfolterer, die Frau –  ein schon aus dem Leben schwindender Geist.

Den Schlamassel hat Armands Vater, Georges Duval, angerichtet. Als die Liebenden Zuflucht in einem Landhaus nehmen, wo sich Marguerite erholen soll, taucht er auf: Udo Samel bei seinem Debüt an der Josefstadt. Er verlangt die sofortige Trennung des Paares, hätte er doch eine Tochter zu verheiraten, deren Eltern niemals dulden würden … Es ist kein Platz im Schoß einer Familie für Marguerite, wo doch ihren schon so viele kannten. Samel, ganz strenger Vater, deklamiert emotionslos seine „Rechte“, während er mit der linken – Keuschheit und Religion im Mund – sanft über die Hurenbrust streicht. Nun ist der Georges Duval prinzipiell eine Wurzn. Ein Zehn-Minuten-Auftritt. Für den es Samel nicht gelingt, in seiner Rolle eine Figur zu finden. Auch das Match Burgtheaterdeutsch vs Josefstädterisch geht 0:1 aus. Der Ausnahmeschauspieler Udo Samel als Außenseiter, als Fremdkörper, das war hoffentlich eine Regieidee und kein Passiertsein.

www.josefstadt.org

Trailer: http://youtu.be/JCZLIfIyTTs

www.mottingers-meinung.at/tonio-arango-im-gespraech/

Wien, 19. 12. 2014

Tonio Arango im Gespräch

Dezember 17, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Theater in der Josefstadt: Die Kameliendame

Tonio Arango, Sandra Cervik Bild: Moritz Schell

Tonio Arango, Sandra Cervik
Bild: Moritz Schell

„Die Kameliendame“, Alexandre Dumas’ (der Jüngere) Geschichte, die auf seinem realen Liebesverhältnis zu der Edelhure Marie Duplessis basiert, wurde vom Autor selbst für die Bühne bearbeitet; den endgültigen Siegeszug trat der Stoff wohl mit Verdis Oper „La Traviata“ an. Nun kommt die mitreißende Geschichte über die alles für ihren jungen Geliebten opfernde Mätresse in einer adaptierten Fassung von Herbert Schäfer auf die Bühne der Josefstadt. Premiere ist am 18. Dezember. Ausnahmeschauspieler Udo Samel gibt als Georges Duval sein Josefstadt-Debüt, Torsten Fischer inszeniert; die tragische Hauptrolle verkörpert Sandra Cervik. Mit diesem Roman setzte Dumas dem Typus der sündigen, aber edelmütigen Dame des Gewerbes ein literarisches Denkmal: Marguerite hat ihren festen Platz im Kanon der großen „Käuflichen“ der Weltliteratur, Verdis Oper und zahlreiche Verfilmungen verhalfen der Kameliendame zu ihrer außerordentlichen Popularität und machten sie zur Ikone tragischer Weiblichkeit.  Fischers Arbeit rückt zeitlos das Individuum, das an starren gesellschaftlichen Konventionen zerbricht, in den Mittelpunkt: eine Liebesbeziehung zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau gilt heute immer noch als skandalös.

Es spielen unter anderem Sandra Cervik (Marguerite Gautier), Tonio Arango (Alexandre Dumas, Erzähler), Alexander Absenger (Armand Duval), Udo Samel (Georges Duval, Armands Vater) und André Pohl (Arthur de Varville). Tonio Arango im Gespräch:

MM: Das Publikum kennt den Stoff meist als Verdis „La Traviata“. Nun hat Regisseur Torsten Fischer den Roman von Alexandre Dumas dem Jüngeren als Vorlage für das Bühnenstück genommen. Da gibt es einige gravierende Unterschiede. Können Sie den Lesern/Zuschauern erklären, was an der Bühnenfassung von Herbert Schäfer anders ist, als am bekannten Dell’invito trascorsa è già l’ora… – abgesehen davon, dass Alfredo in der Josefstadt Armand heißt …?

Tonio Arango: Wir versuchen „Die Kameliendame“ aus ihrer Zeit zu befreien, aus dieser doch schon etwas angestaubten eine zeitlose Liebesgeschichte zu machen. Alles, nur keine Rokoko-Schmonzette. Im Roman und in der Oper scheitert die Liebe an der Eifersucht und natürlich an der Krankheit von Marguerite. Bei uns scheitert das Ganze an der Gesellschaft. Das ist dramaturgisch ein Rieseneingriff. Mit den herkömmlichen „Traviata“-Inszenierungen hat das wenig zu tun, wir versuchen es gnadenlos auf die menschliche Kälte zu fokussieren – und uns nicht auf Tuberkulose zu beschränken.

MM: Sie sind der Erzähler. Die Initialen A. D. stehen sowohl für Alexandre Dumas, der eine reale Mätresse namens Marie Duplessis verehrte, deren Gesellschaft er öfter suchte, und der er mit der Kameliendame ein Denkmal schuf, als auch für Armand Duval und seine Marguerite Gautier. Sie stehen in einer Art Wechselspiel mit „Armand“ Alexander Absenger, gleich die erste Szene ist ein „Zwiegespräch“, Sie sind – etwa am Roulettetisch – in die Handlung eingebunden, kommentieren, Sie haben den Schlussmonolog. Wie würden Sie Ihre Aufgabe beschreiben? Wie geht es Ihnen mit diesen vielen Aufgaben?

Arango: Furchtbar. Ich bin am Ende. Ich kann dem nichts hinzufügen, Nächste Frage. (Er lacht.) Und das ist noch nicht alles, ich spiele den Friedhofswärter, der die Leiche exhumiert und noch ein paar Figuren, etwa den Croupier. Ich glaube meine Rolle ist der Motor, der „Zirkusdirektor“. Ich bin dabei, immer mitten drin, ich bin Beobachter der Szenerie. Dumas ist der Erzähler, es ist sein Stoff. Er hatte ja was mit ihr, er weiß wovon er redet – und es ist seine Geschichte, die er endlich loswerden will. Das ist interessant. Dass er es aufschreiben MUSS, es gibt am Anfang diesen Moment wo ich auf Alexander Absenger zeige und sage: Das bin ja ich. So zieht sich das durch den Abend. Am Ende tauschen wir die Rollen. Das große Finale mit Marguerite spiele ich, als eifersüchtiger, von dieser Amour fou zerfressene Mann, der nicht mehr in der Lage ist, die Liebe zu sehen. Der ihr noch einmal Geld hinwirft und geht. Das ist ganz tragisch. Ich bin froh, dass ich das spielen darf, denn es ist meine einzige echte Dialog-Szene. Die Tragödie meiner Figur Dumas ist, dass er um Jahrzehnte älter geworden, die Wahrheit kennt: Dass sein Vater sie gezwungen hat Liebe wegen seiner Schwester zu entsagen … Mit diesem Blick auf die Vergangenheit zu spielen, ist oft schwierig. Dumas trägt eine schwere Schuld mit sich. Und er muss leben mit dieser Last, dass er zu blöde und zu jung war, um das falsche Familienspiel zu durchschauen.

MM: Woher, denken Sie, kommt dieses romantische Bild der Halbwelt (das Schäfer und wie ich annehme Fischer dem Ganzen ziemlich runtergeräumt haben)? Marguerite ist ja durch ihren Verzicht Heilige und Hure zugleich. Zeichnet diese Inszenierung ein kälteres Bild der Käuflichen und ihrer Käufer?

 Arango: Ja, aber nicht zugunsten von Lederklamotten und Swingerclub. Die Damen tragen unglaubliche Reifröcke. Überdimensional. Ich wollte auch mal einen tragen, ich versuche seit drei Produktionen an diesem Haus eine Frau zu spielen, aber ich sah aus wie Conchita Wurst, also haben wir’s gelassen. Wir versuchen den Stoff aus dieser Epoche rauszuholen. Kurtisane, Kokotte, das hört sich doch heute alles an, wie eine Mehlspeise. Da haben wir sehr gekämpft. Ich habe bei meinem Monolog erst heute beschlossen „Hure“ zu sagen. Was passiert, wenn eine Hure einen wirklich liebt, dass ist der tollste Text meiner Rolle. Was passiert dann tatsächlich? Die Gesellschaft sagt: Wir machen euch fertig. Hure bleibt Hure. Ihr könnt hier nicht auf Liebe machen. Das rauszukitzeln ist spannend und schwierig, damit es nicht platt wird. Wir versuchen ein kaltes Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Es geht nicht um Huren und Freier. Wir sind alle wie schockgefroren und rechnen miteinander ab. Das ist etwas Wunderbares, das Fischer da gelungen ist. Ich hoffe, die Zuschauer begleiten uns auf diesem Weg, denn Sie haben recht: Die romantische Verklärung des Stoffs – nicht zuletzt durch die Oper – ist gewaltig. Es war der erfolgreichste Roman des 19. Jahrhunderts. Dumas der Ältere, der „Die drei Musketiere“ oder „Der Graf von Monte Christo“ schrieb, sagte einmal über seinen Sohn: „Ich nehme meine Stoffe aus Träumen, er aus dem Leben. Er beobachtet, ich erfinde.“ „Die Kameliendame“ ist ein Groschenroman voll Tränenseligkeit, dahinter steckt aber diese Liebe, nach der wir alle ringen und die die wenigsten von uns erreichen. Das berührt einen

 MM: Sie arbeiten nun zum dritten Mal mit Sandra Cervik zusammen. Darf man da sagen: Die Chemie stimmt?

 Arango: Hundertprozentig. Sie ist eine wunderbare Kollegin. Sie spielt mit mir und sie hat keine Angst. So findet Schauspielerei statt. Die meisten spielen mit sich selbst, dabei ist Zuhören und Antworten das ganze Geheimnis der Schauspielerei. Und nicht gegen die Möbel stoßen. Es gibt nicht viele, mit denen man so arbeiten kann, wie mit Sandra Cervik.

 MM: Weil grad auch ein Stück über Freud und Jung auf dem Programm der Josefstadt steht: Freie Assoziation: Ich sage Liebe. Sie antworten … ?

 Arango: Hoffnung. Scheitern, noch besser. Wir haben viel gesprochen über die Liebe. Ich habe mit Sandra wunderbar vier Wochen lang darüber „gestritten“, wo in diesem Stück die Liebe ist. Ich bin immer noch auf der Suche: Ist Liebe Verzicht, Aufgabe von Erwartungen, hat Liebe nur noch mit dem anderen zu tun und nicht mehr mit sich selbst. Hochspannend. Oder sagen wir so: Wenn Sie Liebe sagen, sage ich: unmöglich.

 MM: Marie Duplessis sagt: „Warum ich mich verkauft habe? Weil ehrliche Arbeit mir niemals den Luxus erlaubt hätte, nach dem ich mich so sehnte.“ Für welchen Luxus würden Sie sich „verkaufen“ – wobei mit Luxus nicht nur Warenwerte, sondern auch wahre Werte gemeint sind?

Arango: Sehr gut. Ich verkaufe mich ja. Ich sehe meinen Beruf in einer ehrenhaften, konstanten Linie mit Madame Duplessis, eine Form der Prostitution. Daran ist überhaupt nichts Ehrenrühriges. Und ich mache es für den Preis der Freiheit. Die Freiheit, mich einmal ein paar Wochen zurückzuziehen. Mein Luxus ist Rückzug. Sonst würde ich wahnsinnig.

 MM: Sie haben mit einigen meiner Lieblings-Filmregisseure zusammengearbeitet: Oskar Roehler, Urs Egger, Heinrich Breloer … Muss man, um Theater spielen zu können, dem Film aus Zeitgründen ganz entsagen? Oder haben Sie was in der Hinterhand, worüber Sie schon plaudern dürfen?

 Arango: Erste Frage: Ja, leider. Wenn Filmproduktionen hören, dass man gleichzeitig Theater spielt, werden sie nervös. Und umgekehrt. Ich finde das völlig unnötig. Aber für mich ist es in Ordnung, weil ich sowieso nicht zwei Dinge gleichzeitig mache. Ich habe einen großen Film in Berlin pfeifen gehen lassen, weil ich nicht ständig hin und her fliegen kann. Das tu ich mir nicht mehr an. Ich mache etwas ganz, dann das nächste. Für kommendes Jahr habe ich einige Filme in petto, aber, da bin ich abergläubisch, ich mag noch nichts darüber sagen. Ich mag beide Medien: Film ist komplette Reduktion auf das Denken, abzulesen an den Augen. Das heißt, das was man am Theater groß macht mit Gesicht und Körper, damit es auch noch der dritte Rang sieht, ist beim Film ein absolutes No-Go. Die Kamera holt dich ran, du bist mit ihr ganz allein. Wie ein Mikrophon, wenn man ein Hörbuch aufnimmt. Das sind Sachen, die ich extrem schätze.

 MM: Ich habe gehört, dass Sie in Pausen in den Probenraum entwischen, um dort Klavier zu spielen. Sie sind Bariton. Warum nicht einmal was Musikalisches auf der Bühne?

 Arango: Ich spiele leidenschaftlich Klavier, habe ab elf Jahren Unterricht bekommen, wollte auch Pianist werden, bin dann zum Jazz gewechselt. Jazz ist für mich komplette Meditation. Ich hätte auch beinah Klavier gespielt in der Produktion, aber das wäre zu viel gewesen. Man muss nicht auch noch jonglieren und Einrad fahren. Was Musikalisches auf der Bühne würde ich sehr gerne einmal machen. Torsten Fischer und ich sollten das Musical „Next to Normal“ machen – da geht’s um eine Mutter, die ihren toten Sohn sieht und natürlich einen Arzt konsultiert; der Arzt wäre meine Rolle gewesen. Das war ein Riesen-Broadwayerfolg, hat einen Pulitzerpreis gekriegt. Aber auch das wäre mir jetzt zuviel. Es wird was kommen, da bin ich sicher. Denn Singen ist überhaupt Wow! Ich trainiere auch meinen Körper, kann tanzen. Ich finde, als Schauspieler muss man ein Rundumtalent sein. Singen, tanzen, gut spielen – das macht den Beruf aus, da bin ich dabei. Es sind andere Dinge, die mich mitunter mürbe machen …

 MM: Außerdem sind Sie bei 1.90 Metern Basketballer. Noch „aktiv“? Oder mit Herz und Seele Zuschauer?

 Arango: Ich habe lange gespielt, seit der Schulzeit. Das hat mich gerettet, denn ich war ein grottiger Schüler. Ich war bis zur Berlinauswahl durchgesichtet für den Kader. Jetzt kaufe ich mir für 180 Dollar jedes Jahr einen NBA-Internetzugang, damit ich alle Spiele sehen kann: Nowitzki Dallas Mavericks … Selber spielen ist mir heute zu riskant.

 MM: Dann bleibt mir nur zu wünschen, dass Sie diesmal auch in den Korb treffen.

 Arango: Ich gehe davon aus. Wir sind auf einem guten Weg.

www.josefstadt.org

Trailer: http://youtu.be/JCZLIfIyTTs

http://arango.de/

Wien, 17. 12. 2o14