Werk X-Petersplatz im Odeon: Tschernobyl

September 14, 2021 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Mit Thomas Frank und Sebastian Pass

„Tschernobyl ist ein Mysterium, das wir erst entschlüsseln müssen.“ – Swetlana Alexijewitsch. Lorenz Pell auf der Badewanne liegend. Bild: © Bettina Frenzel

Noch von heute bis Donnerstag ist im Odeon Theater „Tschernobly. Eine Chronik der Zukunft“, eine Uraufführung von Theaterkollektiv Hybrid in Kooperationmit Werk X-Petersplatz, nach dem Buch von Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu sehen. In der Inszenierung von Alireza Daryanavard, auch für die Textfassung verantwortlich, spielen Badoras Volkstheater- stars Thomas Frank und Sebastian Pass, Grace Marta Latigo, Simonida Selimović, Anne Wiederhold, Lorenz Pell und Morteza Tavakoli.

In der Sperrzone rings um den explodierten Reaktor leben wieder Menschen. Sie haben die Katastrophe miterlebt, ihr Leben wurde von ihr versehrt. Ihr Weiterleben bestreiten sie inmitten von dichten Wäldern und fruchtbaren Gärten, doch sie erzählen, wie eine unsichtbare tödliche Gefahr in alle Winkel ihrer Lebenswelt eindrang und sie für immer veränderte.Stellvertretend sprechen sie für all jene, denen friedliche Atomenergie versprochen wurde, die jedoch in den Super-GAU führte. Bis heute sind die Folgen in Europa messbar; der Sarkophag über dem zerstörten Kraftwerk eine bedrohliche Zeitbombe. Das aktive Vergessen lässt die Gefahr unterschätzen.

Thomas Frank. Bild: © Bettina Frenzel

Simonida Selimović. Bild: © B. Frenzel

Sebastian Pass. Bild: © Bettina Frenzel

Zum 35. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl setzt Regisseur Alireza Daryanavard dem kollektiven Verdrängen eine theatrale Aufarbeitung entgegen. Zu Wort kommen die Stimmen aus der Sperrzone, die das menschliche Leid jenseits der bloß faktischen Berichterstattung zu vermitteln vermögen und die ausmalen, was jederzeit wieder bevorstehen könnte. Mehr als 500 Interviews führte Swetlana Alexijewitsch in Belarus und der Ukraine und fügte sie in jahrelanger Arbeit zu ihrem Buch zusammen, ein literarisches Denkmal für die Opfer und Betroffenen. Es ist bis heute in ihrer Heimat Belarus verboten.

Lorenz Pell und Grace Marta Latigo. Bild: © Bettina Frenzel

Zur Autorin: Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen „Roman in Stimmen“. Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, sie wurde vielfach ausgezeichnet, 2015 mit dem Literaturnobelpreis. Als sie 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, ehrte sie der Stiftungsrat als „Schriftstellerin, die die Lebenswelten ihrer

Mitmenschen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine nachzeichnet und in Demut und Großzügigkeit deren Leid und deren Leidenschaften Ausdruck verleiht. In ihren Berichten über Tschernobyl, über den sowjetischen Afghanistankrieg und über die unerfüllten Hoffnungen auf ein freiheitliches Land nach dem Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums läßt sie in der tragischen Chronik dieser Menschen einen Grundstrom existentieller Enttäuschungen spürbar werden.“

Teaser: vimeo.com/591559021           Trailer: werk-x.at/premieren/tschernobyl-eine-chronik-der-zukunft           www.odeon-theater.at

BUCHTIPPS aus Swetlana Alexijewitschs Werk: www.mottingers-meinung.at/?p=15243, Rezension „Zinkjungen“, hochaktuell über das „sowjetische Vietnam“ Afghanistan: www.mottingers-meinung.at/?p=10015

14. 9. 2021

Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft

April 25, 2017 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Paradox-poetische Bilder einer harten Lebensrealität

Bild: Jerzy Palacz

Dieser Film handelt nicht von Tschernobyl, sondern von der Welt von Tschernobyl. Und über die weiß man sehr wenig; man weiß nicht, wie die Einheimischen „dort“ leben. Es gibt Dokumentationen über Wölfe, die sich in der nuklearen Wildnis wieder angesiedelt haben, über eine wuchernde Pflanzenwelt, über die Natur, die nach der Verwüstung durch den Menschen ihren Reflex zur Unterwerfung abgeworfen hat und nun ihr Recht eines Überlebenden einfordert.

Doch auch Männer, Frauen, Kinder, Wissenschaftler, Reaktormitarbeiter, Soldaten, deren Witwen vor allem haben im Ort ausgehalten. In Pol Cruchtens Dokumentation „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“, die ab 28. April in den heimischen Kinos zu sehen ist, kommen sie zu Wort. Sie erzählen von ihrem früheren Alltagsleben, dann von der Katastrophe, nun von ihrem neuen Alltagsleben. Ihre Stimmen bilden ein langes, furchtbares, aber unabdingbares Flehen nach einer Normalität, die es für sie nie mehr geben wird. Dokumentation ist als Wort sehr weit gegriffen. Die Grundlage für Cruchtens Film ist das gleichnamige Buch von Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitsch. Deren Stil, aus Interviews Romane entstehen zu lassen, kennt man. Der Film hat die Form ihrer Prosa, die Art ihrer collage-artigen Aufzeichnungen beibehalten.

Schauspieler, Dinara Droukarova, Iryna Volostyna, Vitaly Matvienko, tragen die Texte vor, teils aus dem Off, teils in Spielszenen. Einmal ist Droukarova die immer noch verliebte Frau eines verstorbenen Feuerwehrmanns. „Er veränderte sich. Ich traf jeden Tag auf einen anderen Menschen“, schildert sie seinen Spitalsaufenthalt. Und während sie erzählt, wie sich sein Körper in ein blutendes Nichts auflöste, zeigt die Kamera paradox-poetische Bilder. Paradiesisch-üppiges Grün, das sich der Häuserruinen bemächtigt, die bizarre Architektur kommunistischer Amtsstuben, der Reaktor, die harte Lebensrealität – romantisch im Sonnenuntergang. Das Schlimmste erspart einem diese ästhetische Optik, nicht aber die Frage: Ist das Hinhören allein angenehmer, ist das Wegblenden des Grauens legitim?

Vieles ist zu schrecklich, um es eigentlich auszuhalten. Babys, die mit Deformierungen und Aplasien geboren werden – und doch überleben müssen. „Komplexe Pathologie“ steht dann in den Arztberichten. Kinder, die nicht wissen, dass man „zu Hause“, nicht im Krankenhaus wohnt, und die mit ihren Puppen „Infusion“ spielen. Und überall Ehr/Furcht vor dem Gewesenen. Tschernobyl ist fantastischer als Science-Fiction. Alexijewitsch musste nicht auf-, nur mitschreiben.

Bild: Jerzy Palacz

Bild: Jerzy Palacz

Was Cruchten dazu zeigt, ist seltsam surreal. Eine Frau deckt ihre Kuh zum Schutz mit einer Plastikplane ab. Ein Mann nimmt seine Haustür als Talisman in die Evakuierung mit; sie wird zur Totenbahre für seine Enkelin werden. Das Skelett eines Rummelplatzes. Gasmasken, Spielzeug, Geschirr liegen in Haufen. Wie eine Museumsinstallation. Wie in einer Tschernobyl-Ausstellung. Eine unwirkliche Kulisse, als hätten die Russen, Erfinder des Futurismus, auch diese Kunstrichtung hervorgebracht. Und man beginnt zu begreifen, was es heißen mag, ein „Tschernobyl-Mensch“, heißt: eine Kuriosität zu sein. Immer wieder bleiben die Aufnahmen stumm, immer wieder ist Nacktheit ein Thema, der ausgelieferte Mensch, immer wieder berichten Spiegelbilder von der Vergänglichkeit.

Alexijewitsch freilich, und mit ihr Cruchten, haben auch politische Fußnoten anzubringen. Sie erzählen davon, wie Lähmung durch politischen Druck entsteht, wie Parteidisziplin plus Angst gleich Schweigen ist. Ein Protagonist versucht sich als Physiker und darin, das Zentralkomitee von den Vorfällen zu unterrichten. „Sobald ich den Unfall ansprach, wurden die Leitungen unterbrochen“, sagt er über seine Telefonate. Seine Aufzeichnungen verschwinden. „Die Zuständigen machen sich keine Sorgen um die Menschen, sondern um ihre Macht.“ Ein Soldat, der am Reaktor arbeitete, wartet immer noch auf sein Sterben. Er denkt es nicht mehr als Zufall. Das Denkmal für ihn, für die Helden von Tschernobyl, sieht aus wie ein Kriegerdenkmal. Die Kamera umkreist es. Die damalige sowjetische Nomenklatura benutzte diese Skavenmentalität, indem sie das gefügige Menschenmaterial skrupellos in den so deklarierten „Krieg aller Kriege“ warf, „dahingeschleudert wie Sand auf den Reaktor“, wie der Soldat sagt.

Dinara Droukarova als verwitwete Feuerwehrsfrau. Bild: Jerzy Palacz

Weder Buch noch Film verengen sich auf wohlfeile antisowjetische Polemik. 31 Jahre nach Tschernobyl, sechs Jahre nach Fukushima, stemmt sich „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“ gegen das Vergessen des Ausmaßes nuklearer Katastrophen generell. Die Dokumentation rückt zwar die Geisterstadt und ihre Gespenster näher, sie ist ein kunstvoller Tryptichon von Stimmen.

Doch sie ist auch die Rekonstruktion des Gefühls, Verantwortlichen und deren Informationsverweigerung ausgeliefert zu sein. In einem Weißrussland unter dem diktatorischen Regime Lukaschenkos, es ist Alexijewitschs Heimat, darf „Tschernobyl – Chronik einer Zukunft“ bislang weder als Buch erscheinen, noch als Film gezeigt werden.  Und keine 100 Kilometer vom Unglücksort entfernt, ringen heute Russen und Ukrainer um die Krim …

www.tschernobyl-der-film.at

Wien, 25. 4. 2017

Kammgarnzentrum Vöslau: Fotografien aus Tschernobyl

April 12, 2016 in Ausstellung

VON RUDOLF MOTTINGER

Roland Verant ist der Chronist der verstrahlten Stadt

Eine zurückgelassene Puppe inmitten von Kindergasmasken auf dem Fußboden der Schule Nr. 3 in Pripyat. Bild: Roland Verant

Eine zurückgelassene Puppe inmitten von Kindergasmasken auf dem Fußboden der Schule Nr. 3 in Pripyat. Bild: Roland Verant

Das Riesenrad im Vergnügungspark von Pripyat hätte am 1. Mai 1986 eröffnet werden sollen. Bild: Roland Verant

Das Riesenrad im Vergnügungspark von Pripyat hätte am 1. Mai 1986 eröffnet werden sollen. Bild: Roland Verant

Der Kontrollraum von Reaktor vier im AKW Chernobyl, an diesen Pulten nahm das Unglück seinen Lauf. Bild: Roland Verant

Der Kontrollraum von Reaktor vier im AKW Chernobyl, an diesen Pulten nahm das Unglück seinen Lauf. Bild: Roland Verant

Der in Südtirol aufgewachsene Wahlwiener Roland Verant hat auf bisher acht Reisen insgesamt 47 Tage in der Sperrzone von Tschernobyl verbracht. Verant will mit eigenen Augen sehen und dokumentieren. Entstanden sind mehr 25.000 Bilder, die auf eindrucksvolle Weise jenes vermeintliche Ödland zeigen, aus dem der Mensch sich selbst vertrieben hat.

In Zusammenarbeit mit der Bad Vöslauer Kulturplattform „Platz für Kunst“ macht Roland Verant anlässlich des 30. Jahrestages der Katastrophe erstmals Teile seines privaten Archivs der Öffentlichkeit zugänglich. Zu sehen ab 23. April im Kammgarnzentrum. „Da war mal ganz viel Leben“, nennt er seine Schau.

Verant kennt mittlerweile sogar einen Tschernoybl-Witz: „Frage an Radio Eriwan: darf man wieder Kartoffeln aus Tschernobyl essen?“ – „Im Prinzip ja, allerdings darf Ihre Toilette dann nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen sein.“

Bitterer sowjetischer Humor. Der auf unbequem prägnante Weise verdeutlicht, wie sehr die Reaktorkatastrophe von 1986 noch heute das Leben in weiten Teilen Europas beeinflusst. Ende April erreichen damals die ersten Meldungen über einen Unfall in einem sowjetischen Atomreaktor die Nachrichtensendungen der westlichen Welt.

Die Berichte sind gespickt mit Konjunktiven und Relativierungen – mangels belastbarer Information will sich niemand genau festlegen. Erst als nach und nach Konkreteres durchsickert, wird klar, dass in Tschernobyl das Undenkbare geschehen ist. Mit weitreichenden Folgen für ganz Europa. Mittlerweile ist Tschernobyl ist zum Synonym für die Gefahren der Atomenergie geworden, zu einem schrecklichen, aber unauslöschbaren Teil des menschlichen Kulturerbes.

Ideologische Statements sucht man zwischen den Bilder umsonst. Der Fotograf ist, wie er es nennt, „privat“ unterwegs, lässt sich von keiner Initiative oder Gruppierung vereinnahmen. Mit seiner Ausstellung will Verant, so sagt er, „dem Betrachter durch die Präsentation von Fakten und Bildern einen Einblick in das Thema geben, der ihn dazu bringt, sich seine eigene Meinung zu bilden“. Was angesichts der neuen Nuklearbemühungen in Fukushima hochaktuell und dringend notwendig ist.

Über den Künstler:

Roland Verant beim Fotografieren eines Lenin-Wandgemäldes in der Schule Nr. 1 in Pripyat. Bild: Roland Verant

Roland Verant beim Fotografieren eines Lenin-Wandgemäldes in der Schule Nr. 1 in Pripyat. Bild: Roland Verant

Roland Verant ist 1980 in Bozen geboren und in Südtirol aufgewachsen, er lebt und arbeitet seit 15 Jahren in Wien. Seit fünf Jahren beschäftigt sich intensiv mit der Katastrophe von Tschernobyl, die erste Reise in die Sperrzone war im April 2012, seither hat er auf acht Reisen insgesamt 47 Tage in der Sperrzone verbracht. Die Bilder dieser Aufenthalte waren unter anderem im Mirror, im Corriere della Sera, der Daily Mail und der New York Post zu sehen. Verant ist Hobbymusiker – Bassist – und betreibt auch eine Facebookseite zum Thema Tschernobyl: www.facebook.com/chernobylupcloseandpersonal

www.kammgarnzentrum.at

Wien, 12. 4. 2016