Landestheater NÖ: Mit „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ gelingt ein fulminanter Neuanfang

September 17, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Würfelspiel von den sehnsüchtigen Herzen

Maria Petrova, Klemens Lendl, Johannes Silberschneider, Helmut Wiesinger und Lukas Spisser. Bild: Alexi Pelekanos

Bai Dan zeigt, wie man seine Lebenswürfel selbst in die Hand nimmt: Johannes Silberschneider (M.) mit Maria Petrova, Klemens Lendl, Helmut Wiesinger und Lukas Spisser. Bild: Alexi Pelekanos

Mit einer solchen Arbeit beginnt man eine Intendanz. Marie Rötzer zeigt zum Amtsantritt am Landestheater Niederösterreich „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ nach dem Roman von Ilija Trojanow, und zeigt damit erstmals, was sie im Gespräch mit mottingers-meinung.at als ihre künstlerische Handschrift angekündigt hatte. Sie zeigt, dass die Teilnahme eines Theaters am politischen Diskurs dieser Tage nicht den Verzicht auf Poesie bedeuten muss. Und schon gar nicht die Weglassung von Humor.

Der diesmal ein fein melancholischer und dabei um nichts weniger ein subtil anarchischer ist. Der Regisseur, der dies alles in eine Form gegossen hat, ist Sandy Lopičić. Er macht aus Trojanows Buch ein Schelmenstück, ein Spiel von sehnsüchtigen Herzen. Seine Figuren sind Suchende, und was sie am Ende gefunden haben werden, ist die Menschlichkeit. Denn wenn Protagonist Johannes Silberschneider anfangs als Erzähler in der Proszeniumsloge sagt: „Das Herz ist manchmal ein Totem, manchmal ein Paragraf“, dann hat sich Lopičić für die Darstellung ersteres entschieden. Bei ihm sind die Menschen gut, daran will er glauben.

Trojanow hat 1996 die Geschichte seiner Familie und die Flucht seiner Eltern von Bulgarien in den gar nicht so goldenen Westen als modernes Märchen niedergeschrieben: Während Alexandar im Kommunismus des Todor Schiwkow wohlbehütet aufwächst, wächst seinem Vater das politische System der Fremdbestimmung und Überwachung zum Hals raus. Voller Hoffnung wagt er mit Frau und Kind die Flucht aus der Diktatur in ein vermeintlich besseres Leben. Doch Emigration, das bedeutet immer auch Einsamkeit, Isolation und Ausgrenzung. Und im Flüchtlingslager erneutes Fremdbestimmtsein. Alexandar fällt in Depression, Oblomowitis nennt es Trojanow. Da erscheint sein Taufpate Bai Dan, ein Magier, ein Meister im Würfelspiel und ein großer Geschichtenerzähler. Er hat gespürt, dass mit seinem Schützling etwas nicht stimmt – und nun nimmt er ihn mit auf eine Reise zu sich selbst …

Lopičić hat aus diesem überbordenden Konvolut einzelne Episoden extrahiert. Er hat als Essenz seiner Inszenierung das Thema Flucht destilliert. Folgerichtig ist ein Zwischenspiel in einer Flüchtlingsunterkunft das Herzstück seiner Aufführung. Die Flüchtlinge sind ob der schlechten Unterbringung in einen Hungerstreik getreten, dafür gibt’s Schelte von einem Striezel essenden UNHCR-Mitarbeiter. Man möge doch mit derlei Aktionen den Frieden nicht stören. Frieden? Des Bürgers Ruf nach seinem Recht auf Sicherheit und Beständigkeit im Leben ist immer durch solche bedroht, die ein Beispiel für dessen Unbeständigkeit und Unsicherheit sind. Tim Breyvogel als durchgeknallter DJ von „Radio Asyl“ und „Strotter“ Klemens Lendl gestalten diese Szene als kabarettistisches Kabinettstück. Wie sie Witz und Wirklichkeit an den Händen nehmen und kräftig Willkommen schütteln, ist sozusagen Synonym für den Abend.

Stanislaus Dick und Johannes Silberschneider. Bild: Alexi Pelekanos

Während Alexandar, Stanislaus Dick mit Silberschneider, in der Fremde nicht mehr aus dem Bett kommt … Bild: Alexi Pelekanos

Lukas Spisser, Zeyneb Bozbay, Tim Breyvogel und Klemens Lendl. Bild: Alexi Pelekanos

… beplaudert daheim der Stammtisch sein Schicksal: Lukas Spisser, Zeyneb Bozbay, Tim Breyvogel und Klemens Lendl. Bild: Alexi Pelekanos

Der, apropos: Die Stottern, insgesamt sehr musikalisch ist. Neben dem Wiener Duo begleiten auch Drehleierspieler Matthias Loibner und die bulgarische Percussionistin Maria Petrova die Schauspieler, die Musiker sind Mitakteure, so wie die Schauspieler auch Musik machen. In diesen schönsten Momenten gleitet die Aufführung in die Anarchie, die Inszenierung agiert wie ein wild gewordener Zirkus; Lopičić ist ein Mann mit bosnischen Wurzeln und weiß, wie man mit Balkan die Seele zum Tanzen bringen kann.

Er erzählt Trojanow nicht linear, er springt zwischen den Zeiten, zwischen einer Art bulgarischem Wirtshausstammtisch, den Koffer packenden Eltern Alexandars und ihm selbst, der nicht mehr die Kraft findet, sein Bett zu verlassen. Die Schauspieler fallen aus den Figuren, werden zu Chronisten ihrer Zeit, steigen wieder in die Rolle ein – und wenn sie dann mit Mimik und Gestik das eben Gesagte konterkarieren, ist das durchaus auch clownesk. Alle sind immer auf der Drehbühne, die die Welt bedeutet und die Günter Zaworka mit seinem Lichtdesign zu einem Ort immer wieder neuer Geheimnisse zaubert.

Auch unter Marie Rötzer scheint das Landestheater Niederösterreich ein starkes Ensemblehaus zu bleiben. Mit Johannes Silberschneider als Bai Dan hat man sich zwar einen hochkarätigen Gast geholt, einen Schauspieler mit unendlichem Bühnencharisma, doch freilich agiert er als Primus inter pares, wenn er aus seiner Figur einen Philosophen macht, eine Art Psychotherapeuten an Alexandars Bett, als wär sie sein Alter Ego. Sein Bai Dan weiß, dass Würfeln nichts mit Glück oder Schicksal zu tun hat, sondern nur mit Geschicklichkeit. Alles liegt in deiner Hand ist seine Botschaft an sein Patenkind – und damit ans Publikum.

Den Alexandar spielt Stanislaus Dick, und wie er ihn spielt, als einen, der sich in einer Quarantäne aus Erinnerung und sich nicht erfüllender Erwartungen eingesperrt hat, ist kaum zu glauben, dass er erst im Sommer sein Studium am Wiener Konservatorium abgeschlossen hat. Außerdem spielt er Akkordeon. Lukas Spisser und – ebenfalls neu am Haus – Zeynep Bozbay sind die Eltern Vasko und Jana. Er ein Querdenker, ein Querkopf, ein ewig Unangepasster, ein Kraftlackel, sie zart, doch ihm Paroli bietend im Versuch, seine Flucht-Höhenflüge zu erden. Auch das eine eindringliche Szene, wie die beiden schließlich doch ihr Hab und Gut für den Weg in die Freiheit sortieren. Was nimmt man mit, was lässt man los? Mutters Gobelins, ein heißgeliebtes Stofftier, Vaters Tischtennisschläger? Neben ihren Haupt- gestalten die meisten auch noch eine Anzahl skurriler Nebenrollen, Bozbay etwa eine irre Wahrsagerin, Spisser einen gefährlich komischen KDS-Agenten. Helmut Wiesinger ist unter anderem die nach Süßigkeiten süchtige Baba Slatka, die irgendwie auch der Wirt ist, je nachdem, ob Tuch auf dem Kopf oder um den Hals, der großartige Tim Breyvogel außer DJ Bogdan auch Vaters bester Freund Boro.

Sandy Lopičić hat Trojanows Buch als Gleichnis gelesen. Vieles erfährt man nur beiläufig, Diverses hat er aus-, das Tandem gleich ganz weggelassen, doch was er sagen will, ist klar. Heimat, dieser geschändete, zu Schanden definierte Begriff, heißt zuerst zu sich selbst nach Hause zu kommen. Heimat ist leicht zu verlieren, doch bekanntlich: „Rettung lauert überall“ dort, wo Menschen zu finden sind. Das Publikum in St. Pölten dankte dem neuen Team mit viel Applaus für einen hinreißend sympathischen und optimistisch klugen Abend. Man freut sich jetzt schon auf mehr …

Marie Rötzer im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=22087

Ilija Trojanow im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=14956

TIPP: Am 22. und 23. November ist die Aufführung zu Gast an der Bühne Baden.

www.landestheater.net

Wien, 17. 9. 2016

Ilija Trojanow: Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen

Mai 31, 2016 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Das passende Buch vor Rio 2016

u1_978-3-10-080007-7Ilija Trojanow, in Wien lebender Autor des „Weltensammlers“, nimmt den Leser diesmal mit in die Welten des Sports. Während der Olympischen Spiele 2012 fasst er nämlich einen ehrgeizigen Entschluss. Er will alle achtzig Olympia-Sommer-Einzeldisziplinen trainieren. Sein Ziel: halb so gut abzuschneiden wie der Goldmedaillengewinner von London. Gesagt, getan. Trojanow wirft Diskus, Speer und Hammer, spielt Badminton, misst sich im Zehnkampf, bezwingt im Kajak das Wildwasser, er lernt Ringen im Iran, boxt in einem legendären Gym in Brooklyn, absolviert das Judotraining in Japan und läuft im Hochland von Kenia. Das Ergebnis seiner Bemühungen ist nun in „Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen“ nachzulesen. Ilija Trojanows Bericht einer Selbsterfahrung gewährt einen einzigartigen, faszinierenden Einblick in die Welten und Milieus des Sports. Eine ebenso kluge wie humorvoll-selbstironische Reflexion über Grenzen, über die Beziehung von Geist und Körper und über das Älterwerden. Großartig geschrieben, mit der leichten Hand eines Fechters und dem Punch eines Boxer, ist dieses Buch genau das passende vor Rio 2016.

Über den Autor:
Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia, wo der Autor zu einem begeisterten Sportler wurde. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie an der Universität München. In München gründete er 1989 den Kyrill & Method Verlag und 1991 den Marino Verlag. Heute lebt er, wenn er nicht reist, in Wien. Seine weithin bekannten Romane wie „Der Weltensammler“ und zuletzt „Eistau“ sowie seine Reisereportagen wie „An den inneren Ufern Indiens“ sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Herbst 2015 erschien bei S. Fischer sein großer Roman „Macht und Widerstand“, Ilija Trojanow dazu im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=14956. Am 16. September hat am Landestheater Niederösterreich die Dramatisierung seiner Romans „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ Premiere (mehr dazu: www.mottingers-meinung.at/?p=20180).

S. Fischer, Ilija Trojanow: „Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen“, Sachbuch, 336 Seiten.

Buch-Premiere:

Ilija Trojanow stellt sein Buch am 5. Juni im Volkstheater Wien in der Roten Bar vor. Musikalische Begleitung: Alexander und Konstantin Wladigeroff. Der Eintritt ist frei.

www.fischerverlage.de

Wien, 31. 5. 2016

„Macht und Widerstand“: Ilija Trojanow im Gespräch

September 25, 2015 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Von Folter, Freiheit und vom Leben als Flüchtling

u1_978-3-10-002463-3 Sie sind schon als Kinder Feinde. Das wird sich nicht ändern. Konstantin Scheitanow wird Widerstandskämpfer, einer, der schon in der Schulzeit der bulgarischen Staatssicherheit auffällt und ihrem Griff nicht mehr entkommt. Metodi Popow wird Offizier, Opportunist und Karrierist, ein Repräsentant des Apparats und seiner Macht. Länger als ein halbes Jahrhundert sind sie in einem Kampf um Leben und Gedächtnis verstrickt. Der Dissident wird nach der Wende aus den Folterkellern der Stasi in den 14. Stock eines Plattenbaus abgeschoben. Und hat von dort oben den perfekten Blick auf das Anwesen seines Peinigers, der die Verwandlung vom Sicherheitschef zum Geschäftsmann mit römisch Eins absolvierte …

Ilija Trojanow legt mit „Macht und Widerstand“ einen großen Roman vor. Ohne Scheu wagt der politisch engagierte Autor den schwindelerregenden Blick in allzu menschliche Abgründe und entfaltet so ein Panorama von exemplarischer Gültigkeit. Momente aus wahren Geschichten, die Trojanow seit den Neunzigerjahren in Gesprächen mit Zeitzeugen sammelt, verdichtet er zu einer spannenden Erzählung. Ilija Trojanow im Gespräch:

MM: Sie haben 1999 mit „Hundezeiten“, 2006 überarbeitet als „Die fingierte Revolution„, ein Bulgarien-Buch geschrieben, Sie haben 2007 den Film „Vorwärts und nie vergessen – Ballade über bulgarische Helden“ gedreht, eine Dokumentation basierend auf Gesprächen mit politischen Gefangenen, die Jahre und Jahrzehnte in den Lagern des kommunistischen Bulgarien verschwunden waren. Nun also „Macht und Widerstand“. Bulgarien lässt Sie nicht los.

Ilija Trojanow: Das Thema lässt mich nicht los, Bulgarien ist nur Anschauungsmaterial. Diese Beschäftigung hat auch keinen autobiografischen Impuls, sie ist wirklich gänzlich inspiriert von anderen Menschen, von anderen Stimmen – und der Tatsache, dass diese Stimmen nicht gehört, dass sie weiterhin marginalisiert werden. Das war für mich die Verpflichtung, darüber zu schreiben. Ein Roman bietet sich geradezu an, weil die großen Problemstellungen von Erniedrigung bis Verrat übermächtig sind.

MM: Sie haben in der Recherche zu diesem Buch mit vielen Menschen gesprochen, Opfern wie Tätern. Was haben Sie für sich erfahren?

Trojanow: Ich habe viel gelernt, und glaube, dass auch die Leser viel lernen werden, weil manches nicht so ist, wie man vermutet. Man würde annehmen, dass Menschen im Gefängnis, im Lager, in Isolationshaft völlig ohnmächtig sind, dem ist aber nicht so. Die Unbeugsamkeit gibt einem in ausweglosen Situationen, in Situationen der Machtlosigkeit, die Möglichkeit Haltung zu bewahren und dadurch weiterhin Widerstand zu leisten. Was ich wirklich erstaunlich finde und was ich nie vergessen werde, ist der oft gefallene Satz „Im Gefängnis haben wir uns am freiesten gefühlt“. Man musste um nichts mehr fürchten, denn man hatte ja schon alles verloren.

MM: Das Leben hatte man noch.

Trojanow: Aber in einer Situation, in der das Leben täglich bedroht ist, in der die Unsicherheit des Lebens Alltag ist. Interessant war die Solidarität unter den Häftlingen, völlig abgehoben von politischen Überzeugungen. Das wird auch im Buch beschrieben, wie Faschisten und Anarchisten, also Gruppierungen, die sich draußen die Köpfe eingeschlagen hätten, dort unglaublich intensive kameradschaftliche Beziehungen gepflegt haben. Es gab verblüffende Einsichten in das menschliche Verhalten in Ausnahmesituationen. Ebenso bei den Tätern. Die Leute muss man natürlich aufsuchen, die klopfen nicht an. Es war ein jahrelanger Prozess, da einen Fuss in die Tür zu kriegen, das funktioniert nur, wenn man einen kennt, der einen kennt. Dann kommt es darauf an, wie man mit ihnen umgeht, wie man mit ihnen spricht, damit man ihr Vertrauen erlangt. Vertrauen und dessen Verlust ist ja eines der Themen im Buch. Ich glaube, dass eine der perfiden Folgen von Überwachung der Vertrauensverlust ist, ein Gefühl, das rasch existenziell wird.

MM: Von etlichen Rezensenten wird das Buch als Ihr großer Bulgarien-Roman bewertet, ich finde darin eine Allgemeingültigkeit über repressive Regime und das Danach. Beispiel: Ihre Figuren könnten auch aus dem Nachkriegs-Österreich sein, ein KZ-Häfling, dessen Erinnerungen die Öffentlichkeit nicht interessieren, sondern die sie ignorieren, ein Nazi, der sich schnell in der Alltäglichkeit eingerichtet hat, der in der Masse entschlüpft und entkommen ist.

Trojanow: Das glaube ich auch. Und das betrifft nicht nur Deutschland oder Österreich. Ich habe in Gesprächen in Argentinien erstaunliche Ähnlichkeiten festgestellt; in Frankfurt habe ich Leute getroffen, die in Guatemala arbeiten, die sagten, es ist verblüffend, als hätte ich ein Buch über Guatemala geschrieben. Eine andere Gültigkeit, die ich fand, war: Ich hatte den Roman fast zu Ende geschrieben, da kam der US-Kongress-Bericht über die Folterpraktiken der CIA, da stehen Rechtfertigungssätze von hochrangigen Offizieren drin, die Metodi teilweise fast wortwörtlich sagt. Es geht um eine Kontinuität der Eliten und um den Schminkkoffer der Selbstrechtfertigung, mit dem das Böse daherkommt. In der Literatur ist das Böse meiner Meinung nach oft nicht ganz realistisch dargestellt, die Bösen sind innerlich zerrissen, können nicht schlafen, sind voller selbstquälerischer Erinnerungen. Das ist nicht meine Erfahrung. Im Gegenteil, die Täter haben sich in der Selbstrechtfertigung kommod eingerichtet, die schlafen gut.

MM: Wie werden Sie in Bulgarien gelesen?

Trojanow: Das hat sich über die Jahre verbessert. Zu Beginn nur als Nestbeschmutzer, ich wurde auch jahrelang nicht übersetzt, das hat sich jetzt gewandelt. Es gibt eine merkwürdige Mischung aus Hass und Patriotismus. Wenn ich einen Preis gewinne, lassen sie es sich nicht nehmen, über „unseren“ Trojanow zu berichten, Nachsatz: „aber sonst schreibt er Blödsinn über Bulgarien“. Ich bin gespannt, wie dieser Roman ankommt, so einen hat es noch nie gegeben. Auch in anderen ehemaligen Ostblockländern nicht. Ich habe meinen ungarischen Kollegen György Dragomán vor ein paar Tagen getroffen, der meinte, solche Bücher seien auch in Ungarn und Rumänien selten. Er sagte den schönsten Satz: „Wenn meine Kinder mich fragen, wie es war, im Kommunismus zu leben, werde ich ihnen sagen, lest ,Macht und Widerstand'“.

MM: Sprechen wir über die äußere Form der Arbeit. Sie haben auf einen übergeordneten, die Geschehnisse ordnenden Erzähler verzichten und lassen zwei Ich-Stimmen im Monolog aufeinanderprallen. Es fallen Sätze wie „Angst wächst in den Archiven.“ – „Die Wahrheit wird an die Oberfläche geschwemmt werden, wie die Leiche eines Ertränkten“. Das ist klar, kitschlos, dennoch poetisch – und kalt. Warum diese Entscheidung?

Trojanow: Weil jede Erzählstimme etwas Subjektives beigefügt hätte; die absolut objektive Erzählstimme ist eine Illusion. Das wollte ich vermeiden, ich wollte aber auch vermeiden, dass ich irgendetwas erklären muss. Da wäre ich unweigerlich in die Bredouille gekommen, den Lesern, die vieles nicht kennen, Hilfestellungen zu geben und somit Stellung zu beziehen. So haben die Leser nichts anderes als diese zwei eigenwilligen Stimmen und müssen sich selber ein Bild machen.

MM: Das ist interessant, weil der Roman als solcher natürlich Stellung bezieht. Neben dem Trend der nabelschauenden Hippsterromane scheint das ein Weltanschauungsbuch zu sein.

Trojanow: Natürlich hat jeder Autor eine Weltanschauung. Es gibt von James Joyce den wunderbaren Satz „Wenn ich einen Autor lese, interessiert mich nur seine Weltanschauung“. Aber Gesinnung in dem Sinne, dass man die Leser in eine bestimmte Richtung manövriert, das wäre ein schlechter Roman, das möchte ich nicht. „Macht und Widerstand“ stellt Fragen, vielleicht andere als üblich, und dadurch wird eine Posibilität für bestimmte Zusammenhänge und damit natürlich auch eine bestimmte Haltung sichtbar. Aber das Buch beantwortet Fragen nicht mit einer ideologischen Ausschließlichkeit.

MM: Sie fügen auch in sehr lakonischer Beamtensprache verfasste Folterberichte in den Text ein. Das Ergebnis einer Reise durch Bulgariens Geheimpolizeiarchive?

Trojanow: Ich habe selber gesucht, es sind aber auch Materialien, die mir ein Gewährsmann überreicht hat. Ich will damit nicht vordergründig schockieren, diese Berichte machen literarisch Sinn und sind teilweise auch Fiktion. Die Vorstellung, dass das rein dokumentarisches Material ist, ist unsinnig. Es ist Ausdruck eines bestimmten Machtbegriffes, einer bestimmten Manipulation, einer Instrumentalisierung. Indem ich zwei verschiedene Fiktionen nebeneinander stelle, entsteht auch ein Loslösen von klaren Kategorien … (er macht eine Pause) … doch, es stimmt, es gibt einen Schockeffekt, auf den Verstörung und Desorientierung folgen. Was, glaube ich, aber notwendig ist, um zu spüren, wie das System funktioniert.

MM: Sie haben von der inneren Freiheit der Gefängnisinsassen gesprochen. Sie haben einmal gesagt, die Menschen im sogenannten Westen würden die innere und äußere Freiheit, in der sie leben dürfen, gar nicht ausreichend nützen. Wie meinen Sie das?

Trojanow: Mich schreckt der Mangel an Freiheitsdrang. Wenn man die Freiheit einmal verloren hat, ist man sensibilisierter, einfach aufgrund dessen, dass man beobachtet hat, welche traumatisierende, fatale, zerstörerische Wirkung diese Durchherrschung hat. Das habe ich in den Akten gemerkt: Die Perspektive, der Blick des Überwachenden macht einen per se verdächtig. Man kann, wenn die Kamera auf einen gerichtet wird, gar nicht unschuldig sein. Die Überwachung allein macht einen zum Schuldigen. Egal, wie unschuldig jemandes abgehörte Aussage war, durch den Generalverdacht wurde der Inhalt verdreht. Die Paranoia des Systems kriecht dann in jedes Wort und die Wahrheit „Ich weiß nicht“ wird zur Wahrheit, dass dieser Mensch sicher etwas verheimlicht.

MM: Lassen Sie uns aus gegebenem Anlass zur aktuellen Flüchtlingsproblematik kommen: Bulgarien macht Europa gerade die Mauer. Warum tun sich einige osteuropäische Länder mit der Aufnahme von Flüchtlingen so schwer? Passt deren Leid nicht in die Köpfe nach dem Motto: Von hier wollten immer nur alle weg, warum will jetzt jemand herkommen?

Trojanow: In Bulgarien hat nicht einmal die Landbevölkerung Perspektiven, insofern ist es völlig abstrus zu glauben, Flüchtlinge könnten dort in irgendeiner Weise zurechtkommen. Ich habe letztes Jahr eine Recherche in Flüchtlingslagern gemacht, und die Syrer, die erst einige Wochen da waren, haben luzide klar gesehen, wie die Situation ist. Sie sagten zu mir: Die Bulgaren kommen nicht über die Runden, wie sollen wir hier ansässig werden? Das ganze System ist von einer strukturellen Unsinnigkeit, die ganze Dublin-Vorstellung ist absurd. Wir wissen, dass die europäischen Randzonen von je her die strukturschwachen Zonen sind, und nach den verschiedenen finanzökonomischen Katastrophen umso mehr. Wie sollen diese Länder, Rumänien, Griechenland, den Flüchtlingen eine Perspektive geben? Zumal der Bürgerkrieg in Syrien auf absehbare Zeit nicht abebben wird.

MM: Aber was ist dann die Lösung? Die Osteuropäer bedienen sich aus den Geldtöpfen der EU, aber an der Lösung ihrer Probleme wollen sie nicht teilhaben? Ein Dasein als von allen Troubles ausgenommene EU-Mitglieder?

Trojanow: Es gibt unterschiedliche Lösungen. Wichtig wäre, gesamteuropäisch zu schauen, welche Kompetenzen, welche Ausbildung die Flüchtlinge haben, und sie dann dort hinzuschicken, wo ihre Fähigkeiten gebraucht werden. Gerade die Syrer sind sehr gebildet, da muss es einen europäischen Jobmarket geben, wo man doch von Wirtschaftsexperten immer wieder hört, dass es an Fachkräften fehlt.

MM: Eine Frage an das ehemalige Flüchtlingskind und den heutigen „Weltensammler“ Trojanow: Einmal Flüchtling, immer Flüchtling?

Trojanow: Ja, aber das muss nicht negativ sein. Die Entwurzelung, das Exil kann auch ein Geschenk sein und kreatives Denken freisetzen. Die Vorstellung, dass man ein Leben lang verdammt ist, ist nicht zutreffend.

Über den Autor:
Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielten. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia, wo Ilija Trojanow zu einem begeisterten Sportler wurde. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie an der Universität München. In München gründete er 1989 den Kyrill & Method Verlag und 1991 den Marino Verlag. 1998 zog Trojanow nach Bombay, 2003 nach Kapstadt. Heute lebt er, wenn er nicht reist, in Wien. 2009 veröffentlichte Trojanow zusammen mit Juli Zeh das Buch „Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“. Im Rahmen der Buchvorstellung kritisierten die beiden Autoren, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorabwehr immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe. 2013 wurde ihm in zeitlichem Zusammenhang mit Schriftsteller-Protesten gegen die Praktiken US-amerikanischer Geheimdienste eine Einreise in die USA verweigert. Seine weithin bekannten Romane wie z.B. „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“, „Der Weltensammler“ und zuletzt „Eistau“ sowie seine Reisereportagen wie „An den inneren Ufern Indiens“ sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Herbst 2015 erschien bei S. Fischer sein großer Roman „Macht und Widerstand“.

S. Fischer, Ilija Trojanow: „Macht und Widerstand“, Roman, 480 Seiten

www.fischerverlage.de

trojanow.de

Wien, 25. 9. 2015

Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf im Gespräch

September 16, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

„Ganymed Dreaming“ im Kunsthistorischen Museum

Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf Bild: wennessoweitist

Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf
Bild: wennessoweitist

Mit „Ganymed Dreaming“ startet das Theaterkollektiv wennessoweitist ab 23. September das nächste große Projekt im Kunsthistorischen Museum. Regisseurin Jacqueline Kornmüller und Lebens- wie Bühnenpartner Peter Wolf setzen diesmal den besonderen Schwerpunkt auf Musik. Sieben musikalische Kompositionen und sechs literarische Texte, inspiriert von Meisterwerken der Gemäldegalerie, werden direkt vor den Gemälden aufgeführt und eröffnen so neue Sichtweisen auf Alte Meister. Schauspieler, Musiker und Tänzer erwecken die Bilder zum Leben. Mit dabei: Star-Sopranistin Angelika Kirchschlager, Burgtheaterschauspielerin Sylvie Rohrer, Pianist Marino Formenti und Die Strottern. Ein Gespräch mit Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf über „Ganymed“, Flüchtlinge und Theater, das politischer Widerstand ist:

MM: Nach „Ganymed Boarding“ und „Ganymed goes Europe“ ist „Ganymed Dreaming“ das dritte Projekt der Reihe. Entwickelt sich „Ganymed“ zur Marke?

Peter Wolf: „Ganymed“ hat eine bestimmte Bekanntheit erreicht, ja. Aber es ist keine Marke, denn Coca Cola schmeckt seit 40 Jahren gleich. Wir versuchen immer etwas Neues zu entwickeln, es soll sich immer weiter streuen. In alle Richtungen. Entstanden ist die Idee in Hamburg. Wir haben ein Buch des Dichters Mark Strand in die Hand bekommen, der über die Gemälde von Edward Hopper geschrieben hat. Wir haben damit herumexperimentiert – und sind so auf die Idee gekommen: Wenn man über Bilder assoziiert, erschließt sich das Gemälde neu. Wir haben dann ein Museum gesucht, das mit uns arbeiten würde. Es war in Wien das Kunsthistorische Museum. Sabine Haag hat es ermöglicht – nun schon zum dritten Mal. Die Ausformulierung erfolgt diesmal mit Musik, Tanz und Schauspiel. Es gibt 13 Stationen.

MM: Diesmal geht es um die Schönheit und Gewalt der Träume. Es ist mehr Musiktheater als bisher. Inwieweit haben die Künstler Mitsprache- und Auswahlrecht?

Wolf: Das Thema Träume ist inspiriert von einem Film Akira Kurosawas, „Yume“, der die ganze Bandbreite an Träumen zeigt. Die Tänzerin Maria Teresa Tanzarella führt seit drei Monaten Traumtagebuch und wird danach ihren Beitrag gestalten, erzählen und tanzen. Der Künstler hat volle Verantwortung für seine Station. Beispielsweise Angelika Kirchschlager geht mit Jacqueline Kornmüller durch die Gemäldegalerie, schaut sich mal grundsätzlich die Bilder an, sieht ein Frauenporträt und sagt: Die sieht ja aus, wie Putin. Das nimmt Jacqueline Kornmüller auf, fragt Martin Pollak, ob er eine Art Rede für Putin schreiben könnte. Johanna Doderer vertont das Ganze. Und weil Angelika Kirchschlager einmal Schlagwerk studiert hat, hängen wir ihr einen großen chinesischen Gong dazu. Um das einmal zu beschreiben: So entwickelt sich eine Station.

MM: Sie selbst machen „Der beste Ort auf Erden“, ein Text von Viktor Martinowitsch vor „Alter Mann am Fenster“ von Hoogstraten.

Wolf: Martin Pollak hat uns bekannt gemacht. Martinowitsch ist ein außergewöhnlicher Mensch, eine große Begabung in der europäischen Literatur. Er hat eine sehr schwierige Situation ist Weißrussland, wo ihm das veröffentlichen verboten ist. Er hat das fantastische, überbordende Buch „Paranoia“ geschrieben, das ich in einem Atemzug mit Houellebecqs „Unterwerfung“ nennen möchte. Wir haben ihn gefragt, ob er für „Ganymed“ einen Text beisteuern möchte. Es ist eine wahnsinnig schöne Geschichte geworden, in der er seine Lebenssituation, seine Ängste umlegt auf ein Glücksthema. So eine schöne Arbeit habe ich seit Längerem nicht gemacht.

MM: Dann gibt es die „Lampedusa“-Station von Esther Balfe und Emmanuel Obeya zum „Traum des Hl. Josef“ von Daniele Crespi …

Wolf: Jacqueline hat sich diese Station ausgedacht. Es geht um Flucht. Das Thema verfolgt uns künstlerisch seit fünf, sechs Jahren. Aber es wird sehr anders, als man sich es vielleicht denken möchte.

Jacqueline Kornmüller: Es war mir ganz wichtig, dass das Thema Flucht hier vorkommt. Von sich aus ist keiner der Künstler auf das Thema zugegangen, so habe ich den heiligen Josef ausgesucht und Emanuel Obeya kennen gelernt. Er ist ein fantastischer Tänzer und Leadsänger der Sofa Surfers. Er hat ein Lied geschrieben über das Gefühl der Scham eines Flüchtlings, ein Gefühl, das ganz schwer abzuschütteln ist. Es geht um die Frage, wann hört ein Flüchtling auf, Flüchtling zu sein und wird Einwanderer und wird sogar Mitbürger. Wann darf er den Flüchtlingsstatus abschütteln? Seine Frau tanzt daneben in einem goldenen Kleid – sie ist der Blick des Westens auf das, was da auf uns zurollt.

MM: „Das was da auf uns zurollt“ haben Sie in anderen Projekten wie „Die Reise“ (www.mottingers-meinung.at/?p=1313) und „fly ganymed“ (www.mottingers-meinung.at/?p=860) schon vorweggenommen. Haben Sie prophetische Eingebungen?

Kornmüller: Mir erschien die Situation eben damals schon sehr brisant. Heute ist es viel schlimmer, heute würde ich ein Stück machen über die Menschen, die auf der Flucht sterben, eine verschärfte Form, die von den Toten erzählt. Denn viele lassen wir im Stich. Natürlich kommen auch viele zu uns durch – und da finde ich es fantastisch, wie ihnen geholfen wird. Es gibt das andere Europa, ganz viele Menschen, die ihre Türen öffnen, die dringend Notwendiges zum Westbahnhof tragen …

Wolf: Ich bin überzeugt davon, dass „Die Reise“ einen Teil der Stimmung in der Stadt verändert hat. Aber der künstlerische Weg läuft nicht gleich mit politischen Entwicklungen. Manchmal sieht man etwas voraus, manchmal bewegt man sich auch fernab der politischen Diskussion, weil einem das die Intuition sagt.

MM: Sind die Menschen den Politikern im Kopf voraus?

Kornmüller: Empathisch auf jeden Fall. Die Grenzen dicht machen, das sind für mich hilflose Schritte. Man muss nach vorne losgehen, man muss seine Fantasie anstrengen, überlegen, was man jetzt machen kann. Ich glaube, da gibt es ganz viele Lösungen, auf die man gemeinsam kommen kann. Das Letzte, was man machen sollte, ist sich abschotten. Das geht nach hinten los. Das wird uns auch auf Dauer nichts bringen. Nein, wir müssen uns öffnen. Juncker muss sich durchsetzen und Europa überzeugen, Flüchtlinge in viel größerem Maße aufzunehmen, als es bisher passiert. Ich glaube, er schafft das.

MM: Ihr Engagement entstand auch durch die Begegnung mit Ute Bock.

Wolf: Wir haben direkt im Haus daneben gewohnt, haben täglich die Traube von Menschen gesehen, die in ihr Büro wollten, haben uns gewundert was das ist – und sind reingegangen. Ute Bock ist ja sehr erzählfreudig und hat uns alles genau erklärt. Das hat sich uns ein Thema, das uns bis dato nicht so sehr nahe gegangen ist, erschlossen. Wir haben drei Jahre bei ihr Postdienst gemacht und erkannt, wie wichtig die Arbeit ist und wie weit sie geht. So ging das los.

MM: Sie haben so Menschen, die in Österreich Zuflucht gesucht haben, kennengelernt. Was kann unsere Gesellschaft von ihnen annehmen, was können sie uns geben?

Kornmüller: Ich habe mit Menschen aus Somalia und Syrien in drei Werkstätten gearbeitet: Fahrrad, Tischlerei, Nähen. Da kam ein unglaublicher Reichtum, Ideen, auf die wir nie gekommen wären. Die Menschen sind liebevoll, bringen neue Geschichten mit zu uns – und sie können Partys feiern. Ich bin am Ende des Tages immer glücklich nach Hause gegangen. Flüchtlinge sind nicht so „unglaublich fremd“. Sie haben die gleichen Sorgen wie wir, sie wollen ihre Familien ernähren und ein gesellschaftliches Leben führen. Sie müssen sich in Österreich immer wieder gegen eine Form von Rassismus wehren, aber momentan habe ich ein gutes Gefühl. Es ist alles auf einem guten Weg. Die Politiker, die auf diese Angstschiene setzen, deren Wahlkampf wird als Schuss nach hinten losgehen. Diese Politiker stemmen sich gegen etwas, das derzeit in der Bevölkerung passiert – Solidarität.

Wolf: Das ist ein Projekt, dass Jacqueline in der VinziRast von Cecily Corti entwickelt hat, es nennt sich VinziChance. Die Arbeit hatte Pole. Es war auch emotional sehr aufwühlend. Es wurde uns da so klar, wie das attische Ideal von Theater ist. Die Theater, die wir haben, sind, bei aller großer Qualität der Aufführungen, Amüsierbuden für Großbürgerliche. Das Theater meint aber auch etwas anderes, es ist auch eine pädagogische Lehranstalt, ein Ort, wo Gesellschaft sich bespricht. Theater ist die große Chance der Gesellschaft, sich zu bewegen. Wir haben in Lunz gearbeitet, das Projekt „Die Wahl“ gemacht. Fünf Jahre war es ein Hin- und Herziehen, die Lunzer waren sehr zögerlich, aber dann haben alle mitgemacht, sich besprochen, ob ein Asylwerber sich eine Wohnung nehmen darf oder nicht. Tatsache ist, dass nun, fünf Wochen nach dem Projekt, die erste syrische Familie eine Bleibe gefunden hat. Das ist das Wesentliche: Theater ist der Besprechungsort des Volkes.

MM: Theater als Ort der gesellschaftspolitischen Veränderung?

Kornmüller: Das ist ganz wichtig und es wird mir immer wichtiger. Meine Inszenierungen waren nie unpolitisch, aber je älter ich werde, desto wichtiger wird mir Theater als Ort, an dem es um politische Statements geht. Ich finde, es ist wichtig, dass Künstler politisch Stellung beziehen. Es gibt so viele Angsthasen unter den Künstlern und das nervt mich eigentlich. Da verschanzt man sich hinter einem Stück und hinter einem Text und sagt, die Interpretation allein muss uns schon genügen, und im Publikum weiß keiner, was gemeint ist. Das ist mir nicht deutlich genug. Kultur muss konkret werden, unsere Welt braucht konkrete Lösungsansätze. Beim Film schafft man das schon lange, beim Theater ist es höchste Eisenbahn. Beim „Weltdorf“ beim Forum Alpbach hatte ich wieder einmal das Gefühl, wir sind am Kern. Wir haben die Teilnehmer körperlich, als prozentuale Masse, erfahren zu lassen, wie ungleich Geld auf dieser Welt verteilt ist, was es heißt, Analphabet zu sein. Das haben wir mit ihnen gespielt.

Wolf: Das war eine schöne Anregung, man könnte auch sagen: Provokation. Wir wollen Leute anpieksen. Immer mehr. Das Spielen ist schön, ich habe in Deutschland viele große Rollen gespielt, aber Leben bedeutet, dass man Einfluss nimmt. Ob ich jetzt Schauspieler, Musiker oder Gärtner bin, man muss es versuchen. Das ist auf jeden Fall wichtiger, als den 500. Hamlet zu spielen.

MM: Hauptberuflich Denkanstoßgeber?

Kornmüller: Naja, das machen viele. Wir versuchen es halt auch.

MM: Wie weit ist „Ganymed Dreaming“ die Möglichkeit, in hochkulturellem Rahmen mit den hochkulturellen Mitteln klassischer Musik und Tanz die Themen zu transportieren, die Ihnen wichtig sind?

Kornmüller: Die sind in den Bildern eingeschrieben: Lynchjustiz, Mord, Totschlag. Das ist in fast jedem Bild drin. Und die familiären Themen, die Liebe. Die Künstler nähern sich den Bildern schon auf radikale Weise. Nicht jedem ist das Recht. Manche sagen, das Kunsthistorische Museum ist eine Kirche, hier sollte so etwas nicht passieren. Unser Ansatz ist, dass durch das Projekt eine Lebendigkeit, eine Forschheit, eine Inhaltstiefe reinkommt, die dem Raum eigentlich gut tut. Wir haben gemerkt, dass das Projekt sich sehr verändern kann. Das ist toll. Wir bauen mit den Strottern eine Szene, die mit Musik beginnt und fast clownesk endet. Mit einem Sprung ins Nichts. Klemens Lendl und David Müller machen das eins zu eins auf sich bezogen und sind doch ganz beim Bild „Opfertod des Marcus Curtius“ von Veronese. Da ergeben sich sehr schöne Konstellationen. Das Bläserensemble Federspiel hat sich die „Hirschjagd“ von Lucas Cranach vorgenommen, die treiben die Zuschauer durch den Saal und schlachten musikalisch einen Hirsch. Was wir diesmal präsentieren können, eröffnet dem Publikum ganz neue Sichtweisen auf die Bilder.

MM: Haben Sie Berührungsängste?

Wolf: Nein, das gesellschaftliche Leben, das wir haben, ist auch das, das wir verdienen. Wie Cecily Corti sagt, ich kann sehr wohl als einzelner einwirken, dann wird sich auch was ändern. Bis dahin ist das, was an Gesellschaft vorhanden ist auch das, womit ich leben muss.

Kornmüller: Ich habe keine Berührungsängste. Ein Mensch ist ein Mensch. Wir haben ein sehr unterschiedliches Publikum. Zu uns kommen Leute aus den unterschiedlichsten Ecken, Studenten, Kinder, viele, die einen Pass von „Hunger auf Kunst und Kultur“ haben, viele, die Stammbesucher des Kunsthistorischen Museums sind. Das ist eine gute Mischung. Die Leute haben viel Freude miteinander und aneinander. Die Leute kommen gerne in unsere Projekte, weil sie da auf andere treffen, mit denen sie sonst keinen Abend teilen. Es sind die kleinen Schritte, die kleinen Gesten, die uns zusammenführen. Ich finde es gut, wenn Bundespräsident Heinz Fischer nach Traiskirchen fährt, traurig nur, dass es dazu eines Amnesty-International-Berichts bedurft hat. Da wundert man sich schon, warum von sich aus keiner nachschauen geht. In Traiskirchen ist eine private Sicherheitsfirma schwer überfordert. Die scheinen’s nicht zu packen. Man müsste sie von ihrer Verantwortung entbinden. Wäre das bei Siemens oder am Burgtheater, dass jemand einen schlechten Job macht, dann wird er rausgeschmissen. In Traiskirchen müssen neue Lösungsansätze her, so wie es ist, kann’s nicht bleiben.

MM: Ist die Würde des Menschen antastbar?

Wolf: Das ist eine der Fragen, über die jeder einmal nachdenken sollte. Grundsätzlich, ja. Aber ich bin immer für das positive Bild. Und daher sehr dankbar für die derzeit so positive Stimmung der Menschen. Ich wusste gar nicht, dass es so viele vernünftige Menschen in Österreich gibt. Da hört man plötzlich im Fernsehen einen Polizeihauptmann, der „normale“ Sätze sagt! Ich finde, das straft alle anderen Lügen. Das wird sich auch schnell wieder ändern, fürchte ich. Wenn es so bliebe, könnten wir vielleicht aufhören, Theater zu machen.

MM: Bis es soweit ist 😉 : Wo wollen Sie sich als nächstes einmischen?

Kornmüller: Da geht uns einiges im Kopf um. Auch darüber, wie wir uns als Kollektiv verändern müssen. Für mich ist wichtig, dass wir nicht festfahren, dass wir nicht wieder in die konventionelle Schiene reinkommen. So gerne ich manchmal an einem festen Theater arbeiten würde, so sehr muss ich mir dann immer wieder sagen, lass’ es bleiben, bleib’ auf diesem freien Feld, auch wenn es schwer ist, dafür Finanzierungen aufzustellen. Was Themen betrifft, gehen sie uns nicht aus. Ganz vorne natürlich, dass Europa Einwanderungsland wird. Die Begegnung mit der Angst wäre für mich auch ein großes Thema.

Wolf: Wenn wir theatrale Kunst machen, dann soll es immer mehr Richtung politischer Widerstand gehen. Es ist nicht in Ordnung, wie wir uns in Europa verhalten. Wir haben Möglichkeiten und man muss daran arbeiten, dass diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Das ist der Motor aus dem heraus wir Theater machen. Wir versuchen immer wieder Formen zu finden – und „Ganymed“ ist dafür eben ein wunderbar bewegliches Tool.

MM: Wie würden Sie dem Publikum empfehlen, „Ganymed Dreaming“ anzugehen?

Wolf: Wir haben diesmal sehr darauf geachtet, dass man alle 13 Stationen an einem Abend sehen kann. Meine Empfehlung ist, sich für den Eindruck Zeit zu nehmen.

MM: Sie waren mit „Ganymed“ auch in Ungarn, haben sogar einen Kritikerpreis bekommen.

Wolf: Ich bin sehr froh, dass wir dort waren, weil ich nun weiß, dass es auch das andere Ungarn gibt. Nicht nur das des Herrn Orbán. Es gibt ein wundervolles, reiches Ungarn, das voll innerer Schönheit ist. Jetzt hätte es keinen Sinn, ein Projekt wie unseres zu machen. Die Sache hat sich zu verroht. Wir haben viele Freunde in Ungarn, die darüber sehr unglücklich sind.

www.khm.at/ganymed-dreaming/

www.wennessoweitist.com/

Wien, 16. 9. 2015

Literaturwochenende auf der Schallaburg

Oktober 15, 2013 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Mit Josef Winkler, Ilija Trojanow, Susanne Scholl und Edith Kneifl

Ilija Trojanow Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Ilija Trojanow
Bild: Peter-Andreas Hassiepen

Am 19. und 20. Oktober lädt die Schallaburg zu einem besonderen Literaturwochenende. Passend zur aktuellen Ausstellung „Das Indien der Maharadschas“ werden der Büchner-Preisträger Josef Winkler und Bestseller-Autor Ilija Trojanow den Samstagabend eine Lesung mit anschließendem Gespräch mit  Literaturwissenschafter Klaus Zeyringer gestalten. Mit ihren Werken „Mutter und der Bleistift“ (Josef Winkler, Suhrkamp 2013) und „Gebrauchsanweisung für Indien“ (Ilija Trojanow, Piper 2006) beleuchten sie das Phänomen „Indien“ aus literarischer Perspektive. Der Ausklang mit Wachauer Wein  leitet thematisch  zum Sonntag über. Da lädt nämlich Kurt Farasin um 11 Uhr zum (Lust)wandern und (Lust)wandeln in den historischen Garten der Schallaburg ein. Dabei ist zum Beispiel zu erfahren, dass die Gärten der indischen Großmoguln Vorbilder für die Renaissance-Gärten in Europa waren oder dass sich später so mancher indischer Maharadscha beim Bau seines Palastes an Renaissanceschlössern inspirierte.  Zwei weitere Weltbürgerinnen übernehmen im Anschluss mit Lesungen aus ihrem Werk „Donauweiber“ (Edition Aramo 2012) das Ruder. Susanne Scholl, Ikone der Osteuropa-Berichterstattung, portraitiert mit ihren Texten die Starköchin Lisl Wagner-Bacher. Die heimische Krimi-Größe Edith Kneifl begibt sich mit Texten über die Kapitänin Birgit Brandner auf stürmische Fahrt (Moderation: Sylvia Treudl, Unabhängiges Literaturhaus NÖ).

Zeit: Samstag, 19. Oktober 2013, 19:00 Uhr: Lesung und Diskussion zum Thema „Indien“

Josef Winkler und Ilija Trojanow, Moderation: Klaus Zeyringer

Sonntag, 20. Oktober 2013, 11:00 Uhr: Schlossgartenwanderung und Lesung

Gartenführung: Kurt Farasin

Lesung: Susanne Scholl und Edith Kneifl, Moderation: Sylvia Treudl

www.schallaburg.at

Wien, 15. 10. 2013