Aufzeichnungen aus der Unterwelt

August 31, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Strizzis, Stoßspieler und Geschichten aus Stein

Freiheit heißt, zum Heurigen zu gehen und zu singen: Kurt Girk. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Das muss schon was gewesen sein, als der von ihr zum solchen gekrönte „Unterweltkönig von Wien“ mit einem „ned kassier’n und die Leit‘ schlechtmochn“ bei der Kronen Zeitung erschien, um für die Verwendung seines guten Namens seinen Anteil an den Einnahmen zu fordern. Fünf Prozent, jedes Mal, wenn das Blatt mit reißerischen Schlagzeilen über ihn Umsatz macht, eh klar, dass da die Kiberei aufparadierte.

Alois Schmutzer muss schmunzeln, während er sich erinnert – bevor er auf Nachfrage von Filmemacher Rainer Frimmel lapidar antwortet: „Eine Wiener Unterwelt hat’s ja nie gegeben.“ „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“, die mit dem Großen Diagonale-Preis für den Besten Dokumentarfilm 2021 ausgezeichnete Milieustudie von Tizza Covi und Rainer Frimmel, startet am 10. September österreichweit in den Kinos. Eine Hommage ist der Film geworden, ans Nachkriegswien der Strizzis und Stoßspieler, vor allem aber auch Covis und Frimmels persönliche Liebesgeschichte mit ihren charismatischen Protagonisten. Das darf man den Filmemachern unterstellen: allen voran Alois Schmutzer und Kurt Girk, der Harte und der Zarte, deren von Nostalgie umwehte Erzählungen in eine fremde, ferne Welt entführen.

Schmutzer, zuschlagkräftiger Sohn eines wegen Wilderei und Schmuggels erschossenen Fleischers, war weiland einer der wichtigsten Aufmischer beim illegalen Stoßspiel, und Wienerliedsänger Girk – Heurigenspitzname: „da Sinatra aus Ottakring“ – nicht nur beim Kartengeben mit von der Partie. In langen, ruhigen, grobkörnig anmutenden Schwarzweißeinstellungen, auf Super-16mm-Film gedreht, schildern die beiden eines Romans würdig, spielfilmreif, was besser nicht erfunden hätte werden können. Schicksale, selbstverständlich, aber mit jener Art Die-Zeit-heilt-alle-Wunden-Gestus, die verdeutlicht, dass der eine seine Freiheit neben seinem Akkordeonspieler (Girk verstarb 2019), der andere bei seinen Bienenstöcken im Waldviertel gefunden hat.

Vergeben, nicht vergessen, dies eine nicht, wovon später die Rede sein soll, und Frimmel lässt die beiden sich entsinnen, ohne groß zu unterbrechen. Die Atmosphäre mit dem Loisl und dem Kurti ist familiär. Bemühte man den Begriff „Original-Ton“, so wär‘ er hier wortwörtlich zu nehmen. So geht’s von Andenken an die Jugendjahre im Dritten Reich, an den „leiwanden Kerl“ Hausherr Dr. Blum, der der Mutter den Zins stundete und schließlich der Gestapo durch Selbstmord entkam, an die Nachbars-Nazis, die beim Einmarschieren der Russen schnell das Hakenkreuz aus der „roten“ Fahne schnitten, zu klein-/kriminellen Gepflogenheiten der 1960er-Jahre samt den Schlachten mit der Polizei, die die Härte des Gesetzes per Gummiknüppel auf die Köpfe niederprasseln ließ. Öffentliche, legitimierte Gewalt auf der Straße, Polizeigewalt, nur ein Thema dieses Films, das bis heute nichts an Aktualität verloren hat …

Kurt Girk. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Alois Schmutzer. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Helene Martinez. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Peter Leitheim. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Allmählich werden die Anekdoten zu Biografien, lernt man Freund und Feind und Perspektivelosigkeit kennen, mit jedem neu aufgeschlagenen Lebenskapitel gewinnen die „Aufzeichnungen“ an Tiefe. Je weiter der Film voranschreitet, desto stärker wird seine politische Dimension. Als Talon im Ärmel der Filmemacher entpuppt sich Alois Schwester, die Helli, Helene Martinez, die zumindest dieser Zuschauerin vergeblich versucht, die geheimnis- vollen Regeln einer Stoß-Partie beizubringen. Mit der Helli, ihrem Fotoalbum und ergänzendem Fernseharchiv- material ist die Zäsur gesetzt. Wieder die Kronen Zeitung, Schlagzeile: „Norbert Schmutzer von zehn Kugeln getroffen“, Alois‘ Bruder, dazu Aufnahmen von Schaulustigen und der Spurensicherung vorm „Stüberl-Café“.

Helene Martinez zeigt ein Porträt vom feschen Norbert, ein Foto seiner Freundin Susi mit Einschussloch, trug er’s doch in der Mordnacht in seiner Brieftasche, eins vom Alois in Stein. „A Brieftaubn“ sollen der Loisl und der Kurti g’macht haben, ein Postraub mit Todesfolge, für den Schmutzer zehn Jahre Haft ausfasst, Girk acht, obwohl sie nachweislich nicht die Täter sein konnten. Die Entrüstung über die ungerechte Verurteilung, die in Kurt und Alois schlummert, tragen Covi und Frimmel weiter. Nun treten Justiz- und Polizeiwillkür zutage, werden grausame Methoden des Strafvollzugs deutlich, und damit auch ein Echo des Naziterrors und die Rolle von Macht und Staat in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.

Die Polizei, die einen prominenten Unterweltler eliminieren nicht möchte, sondern fürs eigene Image muss, einen „Medienstar“, und apropos, Aktualität: die Medienhetze, die Meinungsmacher. Schmutzer nennt Inspektor Hammer – nomen est omen – vom Sicherheitsbüro „an Scheißhund“, der Girk acht Zähne ausschlug, die Zustände in den Gefängnissen, die schlimmen Verhältnisse im Strafvollzug, die wären ein eigener Film. Davon zu berichten haben Covi und Frimmel Peter Leitheim vor die Kamera gebeten, und pardon, er ist der einzige, dem man den Alkoholismus deutlich ansieht.

Hellis Fotoalbum: ein Bild von Norbert Schmutzers Freundin Susi mit Einschussloch, Norbert, unten: Alois in Stein. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Für Frimmel ist er ein weiteres Opfer, der junge Bursche ohne Berufsausbildung, der zum Gefängniswärter wurde, der Misshandlungen von Häftlingen mit dem Schutz seiner eigenen Unversehrtheit rechtfertigt. Und auch er hat seinen Zorn, auf den Vorgesetzten, der wegen eines Tränengaseinsatzes gegen Schmutzer in dessen Zelle 400 Schilling mehr Pension bekommen, während er, direkt am Einsatzort, bis heute Probleme mit den Augen hat. Ein Vorfall übrigens, den Girk mit dem ihm

eigenen trockenen Galgenhumor kommentiert, sollte der Freund den Tobsüchtigen damals doch kalmieren: „Drauf hob I sagt, I hob eam jo ned eing’sperrt, es Trottln.“ „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ zeigt in voller Unverblümtheit eine des männlichen Faustrechts. Die Wahrheit? Ist irgendwo da draußen. Jedes Relativieren, jedes Offenbaren von neuen Fakten, wird individuell zwischen Protagonisten und Publikum neu verhandelt.

Man kann diesen Film als Sittenbild, als gesellschaftspolitische und soziale Zustandsschilderung aus dem Wien der Sechziger Jahre sehen, oder als einen über Stolz, Respekt und Würde. Von den einzigartigen Gesichtern der Protagonistin und der Protagonisten geht eine beinah unheimliche Faszination aus, das sind Persönlichkeiten, die sich durch nichts im Leben haben brechen lassen. Oral History vom Feinsten.

Am Ende: Aufnahmen in Farbe. Kurt macht sich für einen Auftritt fertig, Alois zeigt seinen Hof. Und dann: die beiden gemeinsam beim Heurigen, sie singen „Heute war die alte Zeit bei mir“, das absolute Lieblingslied von Kurt und Alois und jedes Mal, sagt Frimmel mit seinem Gespür für einfühlsames und empathisches Filmemachen, „wenn sie sich getroffen haben und wir dabei waren, haben sie es gemeinsam gesungen“. PS.: Welturaufführung war bei der Berlinale, und Schmutzer gab auf der Bühne Vollgas mit seinem Wiener Schmäh – und musste fürs Publikum via Dolmetscher übersetzt werden.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=L68aMLUHsMk           www.youtube.com/watch?v=lPBE9dfxgEw           unterwelt.wien           stadtkinowien.at

BUCHTIPP:

Kiepenheuer & Witsch, David Schalko: „Schwere Knochen“, Roman, 576 Seiten. Schalko erzählt von der Zwischen- bis zur Nachkriegszeit von der „Erdberger Spedition“, einem Kleinganovenquartett, das sich darauf spezialisiert hat, in Windeseile Wohnungen und Häuser zu „evakuieren“, heißt: leerzuräumen –  der Wessely, genannt „der Bleiche“, der „Zauberer“ Sikora, der Fleischhauersohn Praschak und der Krutzler, das ist der mit den schweren Knochen, weil ein Bulle von einem Mann, und alle vier von den alten Herren der „großen Galerie“, das sind laut Glossar die hochrangigsten Verbrecher, mutmaßlich so genannt nach dem Fotoalbum der Polizei, ob ihres Einfallsreichtums wohl gelitten … Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=29139

  1. 8. 2021

Philipp Hochmair in „Der Glanz des Tages“

April 19, 2013 in Film

Das Leben ist kein Bühnenspiel

„Du warst noch nie im Theater?“, staunt der erfolgreiche junge Schauspieler über seinen alten Onkel Walter in der Garderobe. Der zuckt mit den Schultern. Im Leben spielt’s sowieso anders als auf der Bühne. Später, vom Nachbarn nach Freunden befragt, stammelt der Mime was von „Wegbegleitern“,  meist Frauen natürlich, er ist ja attraktiv. Aber seine amourösen Angelegenheiten so kurzlebig, wie er selbst „kurzatmig“. „Hohl“ schilt ihn Onkel Walter bald. Der Wirklichkeit hinterher hechelnd …

„Der Glanz des Tages“  heißt der neue Film von Tizza Covi und Rainer Frimmel, der am 19. April in den heimischen Kinos anläuft. Bisher waren die beiden damit auf mehr als dreißig Festivals eingeladen, haben zehn Preise gewonnen. Locarno 2012: Leopard für den besten Hauptdarsteller: „Onkel“ Walter Saabel,  Don Quichote Preis der International Federation of Film Societies, 2013: Max Ophüls Preis für den Besten Spielfilm,  Großer Diagonale-Preis für den besten österreichischen Spielfilm, Thomas Pluch Würdigungspreis …

Philipp Hochmair, Walter Saabel Bild: Tizza  Covi, Rainer Frimmel, Der Glanz des Tages, Österreich 2012

Philipp Hochmair, Walter Saabel
Bild: Tizza Covi, Rainer Frimmel, Der Glanz des Tages, Österreich 2012

Der Wiener Film- und Bühnendarsteller (ab 6. August wird er bei den Salzburger Festspielen im Rahmen des Young Directors Project einen One-Man-„Jedermann“ kreieren: www.salzburgfestival.at) Philipp Hochmair IST der junge erfolgreiche Schauspieler mit Engagements an den großen Bühnen wie der Wiener Burg und dem Hamburger Thalia Theater. Sein Leben ist vom Einstudieren neuer Texte, von Proben und Aufführungen bestimmt. Dadurch verliert er immer mehr den Bezug zur Realität des Alltags. Als er auf seinen vagabundierenden Onkel trifft, zu dem er eine ambivalente Freundschaft aufbaut, und mit dem Schicksal seines Nachbarn Viktor konfrontiert wird, wird er daran erinnert, dass das Leben kein Theater ist. Eine der „Glanz“leistungen von Hochmair ist, diese messerscharfe Rolle (Hochmair: „Die Selbstkonfrontation wurde mir permanent vor Augen geführt. Ein Identitätscrash! Der Film hat mir schon eine Flucht vor mir als Mensch gezeigt, die mir so nicht bewusst war.“) so nah an sich heranzuziehen. Ohne Schnittwunden zu scheuen. „Sei einfach du selbst! sagen Regisseure gern. Aber was heißt das, wenn es seit Jahren alltäglich ist, sich permanent zu verwandeln und einen anderen zu spielen. Ich habe wahrscheinlich ein stückweit schon vergessen, wer ich außerhalb der Theaterwelt bin“, sagt Philipp Hochmair über seine Arbeit.

Für die Figur des Onkel Walter, der Identität und „Ideal“ strikt trennt, haben Covi und Frimmels – wie schon in „Babooska“ und „La Pivellina“ – den echten, ehemaligen Bärenringer und Messerwerfer Saabel engagiert. In Wien trifft er seinen „Neffen“ Hochmair, der gerade am Theater einen ziemlich modern aufgefassten Hauptmann im „Woyzeck“ gibt. Die zwei Ungleichen, aber in ihrem Narzissmus, ihrer Unsicherheit, ihrem Freiheits- und Geltungsdrang doch ziemlich Ähnlichen, nähern sich einander binnen einiger Tage an. Eine köstliche Szene: Hochmair probt in seiner Wohnung Text; Onkel, auf dem Sofa liegend, hört ab. Natürlich nicht, ohne sachdienliche Kommentare. Wie Onkel Walters und des Schauspielers Treffen im Film verlief auch das von Hochmair und Saabel in Wirklichkeit. Hochmair: „Das erste Mal trafen wir uns in Wien, wo ich ihn gleich ins Theater geschleppt habe, wo er wahrscheinlich gar nicht hin wollte. Wir kannten uns nur aus Erzählungen. Tizza und Rainer wollten, dass aus dem Kennenlernen zwischen uns der Film entsteht. Da gab es natürlich Hürden zu überwinden. Als wer oder was begegnen wir uns, was fangen wir miteinander an… So unterschiedliche Biografien und doch dieses gemeinsame Nomadentum, die Sehnsucht nach Freiheit. An einem klassischen Filmset, wo alles ausgeleuchtet ist, Schienen für die Kamera gelegt sind, es Statisten gibt und so weiter, kann es sein, dass trotz allem Aufwand nichts Wahrhaftiges passiert. Anstatt x-mal zu proben und alles zu überprüfen, folgt man bei Covi und Frimmel nur der Intuition, dem Augenblick und schaut, was dabei entsteht.“

Entstanden ist ein fabelhafter Film, der sich viel Publikum verdient hat. Und um auf den Titel zurückzukommen: Hochmair hat auch schon Goethes „Torquato Tasso“ gespielt. „Ich bin vom Glanz des Tages überschienen, ihr kennet mich, ich kenne mich nicht mehr“, heißt es da.

www.ventofilm.com

www.stadtkinowien.at

Trailer: http://vimeo.com/62928882

Von Michaela Mottinger

Wien, 19. 4. 2013