Berliner Theatertreffen: Fegefeuer in Ingolstadt

Mai 13, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Messias als Dorftrottel

Bild: Berliner Theaterfestspiele

Bild: Berliner Theaterfestspiele

Die Berliner Theaterfestspiele hatten Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ von den Münchner Kammerspielen zum Treffen der Besten eingeladen. Und siehe da: Die Inszenierung der jungen Regisseurin Susanne Kennedy erhielt den 3sat-Preis beim diesjährigen Theatertreffen in Berlin. Kennedy zeigt ein Sammelsurium am Figuren, solche, bei denen man aufstehen würde, würden sie sich in den Öffis neben einen setzen. Sie wirft sie in einen kalten, kahlen Bühnenraum, der durch Schrägen  in seinen Proportionen verrutscht ist, beengt, eine Puppenstube des Grauens oder ein Krankenzimmer. Das Kruzifix an der Wand. Blackouts unterbrechen die kurzen Szenen. Und Störgeräusche. Ohrenlähmend wie ein Sendeausfall. Den haben die Figuren hier sowieso. Und einander zu sagen auch nichts. Tun sie’s, tun sie’s als Playback. Alles und jeder ist hier „falsch“, fremd, verfremdet und „kaputt“ – auf die eine oder andere Weise. Und nicht immer sychron in der Lippenbewegung, darf ganz aufs Spielen konzentriert sein. Steif in den Bewegungen, ungelenk wie die Puppen, die in dieses Haus gehören. Sie wurden von der Regisseurin „eingerichtet“ wie die Knetfiguren von Nick Park.

Kennedy hat ein Dorfantiidyll geschaffen. Grausam-klinisch-katholisch. Eine Fleißer’sche Familienaufstellung. Das Geschehen spielt  während der Schulferien. Olga erwartet ein Kind von Peps, doch der ignoriert sie nun. Da wendet sich der übelriechende Außenseiter Roelle Olga zu, weshalb Olgas Schwester Clementine eifersüchtig wird. Roelle fühlt sich als Heiliger, den Engel aufsuchen, eine Idee, in der ihn seine bigotte Mutter noch bestärkt. Er gibt sich als Vater von Olgas Kind aus, um sich Respekt zu verschaffen, erreicht damit aber nur, dass nun auch Olga geächtet wird. Beide sind dem Fegefeuer der Mitschüler, Mitbürger, Eltern, Ministranten und der undurchsichtigen Agenten Protasius und Gervasius ausgesetzt. Um ihr Außenseiterdasein zu überwinden, diffamieren sie sich gegenseitig: Als Roelle sein Verhalten rechtfertigt, behauptet Olga, er habe sie zu sich „heruntergezogen“. Schließlich glaubt Roelle sich wirklich im Zustand einer Todsünde und will beichten. Da er sich aber eine korrekte Beichte nicht zutraut, isst er den Beichtzettel auf …

Kennedy Interpretation, mehr szenische Installation als Inszenierung, lebt vor allem vom hervorragenden Ensemble. Skurril und anrührend zugleich. Besonders Cigdem Teke als schwangere Olga kann unglaublich ungläubig schauen. Sie verkörpert eine solche Sehnsucht nach Geborgenheit, dass es schmerzt. Die Paarung Protasius und Gervasius, Marc Benjamin und Edmund Telgenkämper,  befeuern einander mit harmonischer Grausamkeit, sardonischem Lächeln und schwuler Zärtlichkeit. Walter Hess als Vater verfällt alle paar Minuten in herzinfarktischen Epileptikmodus, Heidy Forster als Mutter Roelle füttert ihr Kind aus dem Reindl, bis ihm die Soße aus den Mundwinkeln läuft. Überhaupt scheint sich Kennedy am meisten für Christian Löber, das heißt seinen Roelle, zu interessieren. Der Mutterhörige ist ja eigentlich ein Feschak mit langen Haaren und kurzer Hose. Tommy, The Who, summt er immer wieder: You’ll feel me coming, A new vibration, From afar you’ll see me, I’m a sensation, I’m a sensation. Doch der Messias ist gleichsam auch der Dorftrottel. So sehen es die anderen. Wie er schon dasteht, diese bizarre Körperhaltung, die Beine gekrümmt wie der Herr am Kreuz, wie er schon spricht, wie in Bibelzitaten. Da wird aus dem, der der Anfang ist (wie Protasius und Gervasius ihn einmal aufziehen) ganz schnell ein vom Teufel Besessener. Es ist beeindruckend, wie Löber den mehr und mehr überhandnehmenden Wahnsinn spielt, schließlich „in mehreren Stimmen“ spricht

Am Ende brabbelt das Ensemble ein Gebet. Wieder und wieder und wieder. Zwölf Mal? Zehn Minuten lang? Nein, das reicht nicht. Unruhe macht sich breit, ein paar Buhs müssen sich Luft machen. Die Darsteller werden immer schriller. Eine Endlosschleife, die alle in den gleichen Erhitzungsgrad des Fegefeuers wirft. Auch das Publikum. „Blut Christi tränke mich. Wasser aus der Seite Christi wasche mich. Verbirg in deinen Wunden mich.“ Fleißer selbst nannte „Fegefeuer“ 1924 ein Stück über „das Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen“. In Kennedys Händen merkt man, wie viel die Fleißer heute noch zu sagen hat, wie untot der „Schafft sie weg!“-Reflex noch ist. Chapeau vor dieser mutigen Arbeit.

www.berlinerfestspiele.de

www.muenchner-kammerspiele.de

Trailer: www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=43537

www.mottingers-meinung.at/berliner-theatertreffen-zement/

Wien, 13. 5. 2014

Berliner Theatertreffen: Zement

Mai 5, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Vermächtnis des Dimiter Gotscheff

Sebastian Blomberg, Bibiana Beglau Bild: Armin Smailovic/Residenztheater München

Sebastian Blomberg, Bibiana Beglau
Bild: Armin Smailovic/Residenztheater München

Festspielintendant Thomas Oberender eröffnete  das 51. Berliner Theatertreffen mit einer Inszenierung aus dem Münchner Residenztheater: Dimiter Gotscheff hatte Heiner Müllers „Zement“ inszeniert – es war seine erste Arbeit am Haus und seine letzte bevor der Regisseur verstarb. Und wenn man eines von Beginn des dreistündigen Abend (der in München übrigens höchst kontrovers aufgenommen worden war) an sagen konnte, dann: Er fehlt. Dieser Theaterberserker, der vor Archaik und Pathos nicht zurückschreckte, der Herz und Hirn in Gleichklang bringt, der es schafft ein Publikum zu berühren und anzurempeln – der „seinen“ Heiner Müller so auf die Bühne bringt, dass man versteht, was einen der Große „von damals“ noch angeht. Und dabei die Schönheit seiner Sprache in den Mittelpunkt stellt. Gotscheff zeigt Müllers dystopisches Revolutionsstück „Zement“ aus dem Jahr 1972, geschickt verpackt zwischen Zeilen und Szenen des Autors und des Regisseurs zwiespältiges Verhältnis zum Arbeiter- und Bauernstaat. Den Sowjet im Sinn, kommt man auf die DDR hin. Müllers Dramatisierung eines Romans von Fjodor Gladkow aus dem Jahr 1925 behandelt die Geschichte der russischen Revolution. Gleb Tschumalow (Sebastian Blomberg), Schlosser und kommunistischer Bürgerkriegsheld gegen die weißen Garden, kehrt heim. Das Zementwerk ist stillgelegt, seine traumatisierte und fanatisierte Frau Dascha (Bibiana Beglau) ist erkaltet wie der heimische Herd. Seine Tochter wird im Kinderheim verhungern, sie derweil die Frauenbewegung anführen. Die Revolution frißt ihre Kinder.

Das Ganze: Eine Tragödie griechischen Ausmaßes. Gespielt in einem grauen Betonwürfel, desssen Boden/Podium sich steiler und steiler aufrichtet. Die Kostüme schmutziggrauweiß, ein Chor mit Gesichtsmasken aus Strümpfen, Mützen – die er für einen kurzen Moment, da das Werk wieder läuft, abnehmen wird. Doch dann siegt das Kollektiv über das Individuum. Und sie vermummen sich wieder zur anonymen Masse. Einmal müssen sie sogar die Schreibmaschine sein. Auch Revolution braucht Bürokratie. Sie erschlägt sich mit Papier. Valery Tscheplanowa, das tote Kind, klein und allein, erzählt, singt dazu. Vom an den Felsen geschmiedeten Prometheus, vom trojanischen Krieg, von der Kindsmörderin Medea. Von Gleb und Dascha. Er, ein russigschwarzes Gespenst, dem die Maschinen zuschreien: Mach‘, dass unser Zementwerk läuft. Sie, Frau Oberbolschewikin, hart wie Stein. Vom Feind gefoltert und missbraucht, um den Aufenthaltsort ihres Mannes preiszugeben – der jetzt nach drei Jahren Absenz Sex will. Man ist sich fremd geworden. Und wird sich auch nicht mehr finden. Mit kleinsten Gesten erzählen die Gotscheff-Vertrauten Beglau und Blomberg das. Das Ende der Zwischenmenschlichkeit, den Beginn des Sowjetmenschen. Ein neues Land steht auf in diesem Infight der Protagonisten. Man hat nicht mehr die selben Lebensziele, so endet diese Liebesgeschichte. Beide spielen sie das gestochen scharf und trotzdem mit gebrochenem Herzen. Zwei Verletzte, die sich ihre Wunden nicht zeigen wollen oder können. Beide umkreisen sich mit atemberaubender Körperspannung. Eine großartige schauspielerische Leistung. Ebenso großartig, wie Gotscheff den Chor einsetzt, der einerseits von Politfunktionär, vom Apparatschik bis zum Bürger alle nachahmt, gleichzeitig jederzeit Lynchmob ist. Hauptsache, es gibt jemanden, an den man sich klammern kann. Das Feuer der Revolution hat ihnen die Köpfe enteignet. „Keine Sklaven mehr und keine Herren“, skandieren sie. Ob sie schon wissen, dass es nicht stimmen wird?

Gotscheff schuf großes, wuchtiges Theater. Dargeboten als Weihespiel. Es geht um Politik vs Wirtschaft. Den kategorische Imperativ. Die kampfverliebte Polja (Leitsatz: „An den Gewehren war die beste Zeit!“) und der anerkennungssüchtige, weil aus bourgeoiser Familie stammender Iwagin (Lukas Turtur) – das Gegenpaar zu Gleb und Dascha – stecken sich nach ihrem Parteiausschluss ihre zu Pistolen gekrümmten Zeigefinger in den Mund und versinken im Boden. Gewalt regiert und geschrieen wird viel. Der Kommunismus ist kein Traum, sondern Arbeit. Zeit und Welt sind bei Müller/Gotscheff aus den Fugen. Das ist der Stoff aus dem politisches Theater von und für Heute ist. Ein Menschheitsalbtraumtraumadrama.

www.berlinerfestspiele.de

www.residenztheater.de

Wien, 5. 5. 2014

Landestheater NÖ: Amphitryon und sein Doppelgänger

Februar 13, 2014 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Schauspielhaus Zürich gastiert in St. Pölten

Bild: Matthias Horn

Bild: Matthias Horn

Am 14. und 15. Februar ist am Landestheater Niederösterreich „Amphitryon und sein Doppelgänger“ als Gastspiel aus dem Schauspielhaus Zürich zu sehen. Karin Henkel inszenierte frei nach Heinrich von Kleist. Die Arbeit ist auch zum Berliner Theatertreffen im Mai eingeladen worden. Inhalt: Alkmene erwartet die Rückkehr ihres Gatten Amphitryon. Statt seiner erscheint ihr Jupiter in der Gestalt des Amphitryon und verführt sie. Als am nächsten Tag der echte Amphitryon zurückkehrt und Alkmene ihm von der vermeintlich gemeinsam durchlebten Nacht erzählt, bricht für ihn nicht nur eine Welt, sondern auch seine Identität zusammen. Er sieht sich durch einen Doppelgänger ersetzt, der ihm bis aufs Haar gleicht und doch mehr zu entsprechen scheint, als er selbst: Wie sonst ist es zu erklären, dass eine Gegenüberstellung mit seinem Doppelgänger dazu führt, dass alle den Jupiter-Amphitryon für den wahren Amphitryon halten? „Dein Stock kann machen, dass ich nicht mehr bin. Doch nicht, dass ich nicht Ich bin, weil ich bin“, begehrt sein Diener Sosias auf, als er von seinem Doppelgänger – hinter dem sich Merkur verbirgt – geschlagen wird. Letztlich weiß in dieser radikalen Komödie von 1807, die erst 1899 zur Uraufführung kam, niemand mehr, wer er ist. Gibt es ein Ich? Gibt es Individualität? Und wenn ja, warum ist der Einzelne ersetzbar?

Das Doppelgängermotiv wird bis heute in der Literatur viel verwendet und zumeist mit dem Verlust der eigenen Identität assoziiert. Die zentrale Angst der bürgerlichen Gesellschaft vor Gesichtsverlust und Entindividualisierung findet nach romantischen Werken wie E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“ ihre Fortsetzung in den Schriften von Edgar Allan Poe, Franz Kafka und Fjodor M. Dostojewski. „Amphitryon und sein Doppelgänger“ ist Karin Henkels fünfte Arbeit während der Intendanz von Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich. Dort inszenierte sie zuletzt „Elektra“, dramaturgisch verzahnt durch unterschiedliche Quellen und aus zweierlei Blickwinkeln zu erleben. In Henkels Regie spielen Carolin Conrad, Fritz Fenne, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz und Marie Rosa Tietjen.

www.landestheater.net

Wien, 13. 2. 2014

Berliner Theatertreffen: Baumgarten inszeniert Brecht

Mai 29, 2013 in Bühne

„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“

Regisseur Sebastian Baumgarten war mit seiner Inszenierung von Bert Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ vom Schauspielhaus Zürich zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ein Brecht-Abend, wie man ihn sonst selten sieht. Denn während heimische Theatermacher gern erklären, dass dieses und jenes nicht ginge, weil die Erben …, hat sich Baumgarten einfach nichts geschissen. Der Wirtschaftsklassiker, derzeit wieder vielerorts gespielt, wird sonst möglichst nah ans „Heute“ gerückt. Baumgarten hingegen befindet sich eher in einem Chicago lang vor 1930. Das könnte ziemlich gestrig aussehen, tut es aber nicht. Ein Pianist klimpert jazzige Rhythmen, Brechts stets ein wenig alt-klug-vaterisch klingende Blankverse passen dazu wie ein Libretto aus den 20er-Jahren. Die Rinderbosse tragen Latex-Halbmasken wie aus einer alten Ruth-Berghaus-Inszenierung, die ihnen die gröbsten Gefühlsregungen aus dem Gesicht wischen. Dabei sehen die „Kings of Cool“ unrettbar lächerlich aus mit ihren Cowboyhüten und grotesken Kostümen, als hätte man Brechts verstaubten Verfremdungs-Fundus im Berliner Ensemble geplündert. Aber je weiter die Arbeit äußerlich von der Vorlage wegrückt, umso näher scheint sie ihr im Kern zu kommen. An den Gesetzen von Angebot und Nachfrage hat sich bis heute nichts geändert, Moral und Intelligenz dienen, so überhaupt vorhanden, hauptsächlich der eigenen Interessenwahrung. Lösung ist keine mehr in Sicht, nicht einmal als Utopie.

Wie eigentlich im Stück vorgegeben: Denn Börsenspekulationen prägen das Geschehen im Chicagoer Viehgeschäft. Der Fleischkönig Pierpont Mauler, der durch Insidertipps alles und jeden kontrolliert und dadurch den Markt künstlich zu regulieren vermag, spielt mit dem Gedanken, sich aus dem „blutigen“ Business zurückzuziehen. Um für seine Anteile einen angemessenen Preis zu erzielen, will er zunächst aber seinen Konkurrenten Lennox niederringen – mit fatalen Folgen für die Arbeiter der Fleischfabriken. Johanna Dark, eine Heilsarmeesoldatin der „Schwarzen Strohhüte“, macht sich auf, den entlassenen und hungernden Arbeitern zu helfen und wendet sich schliesslich an Mauler. Dieser will sie von der Schlechtigkeit der Armen überzeugen – doch Johanna glaubt an das Gute in jedem Menschen und erkennt in der Armut der Arbeiter den Grund allen Unglücks. Als sich kurze Zeit später das Blatt an der Börse wieder wendet und Mauler durch Niedriglöhne seine Monopolstellung am Fleischmarkt zu festigen sucht, bahnt sich ein Generalstreik der Arbeiter an. Johanna solidarisiert sich mit ihnen – doch sie vermag die Katastrophe nicht zu verhindern.

Baumgartens Inszenierung spielt mit und gegen Brecht, sie verfremdet die Verfremdung. Ist frech, trashig, „durchkomponiert“  und vor allem dreckig. Die heilige Johanna suhlt sich am Ende im Schlamm, wie die anderen im Blut. Selbst auf Brechts Kinobegeisterung wird angespielt (durch Videos oder wenn Mauler – wie  Nosferatu – seine Hand zur Klaue biegt). Als Johanna, die Hand mit der Pistole steif in die Luft gestreckt, schon tot am Boden liegt, taucht die High Society der Hinterhöfe wieder auf. In rot-weiß-blauen Superhelden-Ganzkörpertrikots und US-Flagge. Sieg! Auch, wenn der Kapitalismus sich längst neben Johanna langgelegt hat. Ein bisschen was geht immer … Und deswegen singen sie zum Schluss auch nicht Hosianna, sondern vom Haifisch, der seine Zähne noch hat. Und (Achtung: Textänderung!) von Tränen, und die laufen vom Gesicht … Riesenapplaus unter anderem für Yvon Jansen als Johanna, Markus Scheumann als Mauler, Carolin Conrad als skrupellose Pin-upige Maklerin Slift  – und natürlich Jean-Paul Brodbeck am Piano.

www.berlinerfestspiele.de

www.schauspielhaus.ch

www.mottingers-meinung.at/berliner-theatertreffen-orpheus-steigt-herab

www.mottingers-meinung.at/berliner-theatertreffen-thalheimers-medea

Von Michaela Mottinger

Wien, 15. 5. 2013

Berliner Theatertreffen: „Orpheus steigt herab“

Mai 14, 2013 in Bühne

Sebastian Nübling inszeniert Tennessee Williams

Wiebke Puls als "Lady" (Mitte), vorne der von der Kleinstadthölle befeuerte Risto Kübar als Val Xavier. Foto: © Julian Röder

Wiebke Puls als „Lady“ (Mitte), vorne der von der Kleinstadthölle befeuerte Risto Kübar als Val Xavier.
Foto: © Julian Röder

Beim diesjährigen Berliner Theatertreffen ist ab 19. Mai Sebastian Nüblings Interpretation von Tennessee Williams‘ „Orpheus steigt herab“ als eine der zehn besten Produktionen aus dem deutschsprachigen Raum zu sehen. Premiere an den Münchner Kammerspielen war am 29. September 2012. Nübling schafft, was wenigen gelingt: Er verweht den üblichen Duft von Magnolienblüten und Zitronenlimonade und Taftkleidchen und inszeniert einen schaurigen Südstaatenalbtraum. Und das in den schönsten Bildern.  Das ist einerseits genial-neu, andererseits hat Nübling offenbar so viel Furcht vor Williams‘ Cinemascope-Sentiment, diesen leinwandgroßen Gefühlen, dass er sich kühl-distanziert hinter dem Text verschanzt. Oder positiv gesagt: Bei Nübling ist die Hölle bitterkalt.

Two River County, also. Ein Provinzkaff, in dem die WASP, die White Anglo-Saxon Protestants, eherne Gesetze eingeführt haben. Die Außenseiter naturgemäß ausschließen. Ein Glück. Nübling deutet den Ku-Klux-Klan und seine „Nigger“-Jagd nur in Halbsätzen an. Man hat das ja an grauenhaften Abenden auch schon alles durchdekliniert durchleiden müssen. Die Bewohner teilen sich – außer beim Schießen – strikt in Männchen und Weibchen. Die Sies: aufblondiert, trotz Arnie-Schwarzenegger-Oberschenkeln kurzberockt, schnell hysterisch, hämisch. Ein Nest aus Nattern, neidig und niederträchtig. Die Ers: Machos – anzunehmen: mit Minischwänzchen -, Goschnreißer, ein moralisch verkommener, bedrohlicher Bürgerwehr-Mob, lüstern ohne echte Lust auf Vollzug. Man kennt die Gattin – und all ihre Freundinnen, die man in der Jugend schon durchgebumst hat – eben schon allzu lang. Spießbürger, die andere gern aufspießen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Nübling setzt auf Realismus mit Ringelspiel. Denn ein solches, das im Laufe des Abends von zwei Schauspielern zusammenbaut wird, dominiert die Bühne. Bunte Glühlämpchen glimmen in einer düsteren Welt, die Karussellscherberln täuschen Bewegung vor, wo alles in Erstarrung liegt. Die beiden Figuren, die den Jahrmarktszauber vollenden wollen, sind natürlich Williams‘ Außerseiter dieser Gesellschaft: Lady Torrance (Wiebke Puls), die Itaker-Tochter, den man samt seinem Weinberg abgefackelt hat, weil er Alkohol an Schwarze ausschenkte. Und die nun ein verhärmtes Leben führt, weil sie sich aus Geldmangel an einen bösen, alten, todkranken und gleichzeitig untoten Mann (Jochen Noch) „verkauft“ hat. Und Orpheus. Das heißt: Val Xavier (im Film: Marlon Brando als „Der Mann in der Schlangenhaut“). Nübling hat sich als Gegenentwurf den estischen Schauspieler Risto Kübar vom wunderbaren, auch immer wieder zu den Wiener Festwochen eingeladenen (vergangenes Jahr mit „Three Kingdoms“), Theater NO99 ausgeborgt. Sein Akzent und, dass er zwischendurch Estnisch spricht, macht das „Ausländische“ noch deutlicher.

Er ist ein Tingeltangelsänger mit Autopanne. Ein dürrer, androgyner, sich somnambul selbstverliebt Streichelnder, eine schillernde, stets in Fluchtpose verharrende Echse, ein Mix aus Stricher und Iggy Pop. Ihn begleitet, mitgebracht aus der antiken Unterwelt in den modernen Hades, ein Tod mit Clownsglatze und schwarzer, statt roter Nase. Und die Musik von Lars Wittershagen. Und natürlich: Wenn Orpheus singt, werden die Damen notgeil. Selbst der strengen, von religiösen Visionen erleuchteten Ehefrau des Sheriffs (Çigdem Teke) rutscht da die Brille von der Nase. Und die knallharte Streunerin Carol (Sylvana Krappatsch) ergeht sich in endlosen Kreischorgien. Hochdrucktheater mit hässlichem Ende. Denn der Fremde muss weg. Die scharfen Dobermänner werden dafür sorgen. Und Wiebke Puls‘ Lady, diese zähe Kämpferin, zerbrechlich in ihrer Stärke, verbarrikadiert hinter spröder Strenge, eine, die nach Berührung hungert und doch vor ihr zurückschreckt, wird von ihrem Mann erschossen. Puls blanciert über alle Pathosfallen hinweg. Selbst in der Sexszene mit Risto Kübar, die Nübling hoch oben, unsichtbar im Karussell abgehen lässt.

Eine dichte, geradlinige Inszenierung eines selten gespielten Stücks. Nüblings größtes Verdienst: Er versucht keine Deutungen zu entdecken. Bei Williams steht alles da. Zum hervorragend agierenden Ensemble gehoren außerdem Tim Erny, Angelika Krautzberger, Christian Löber, Lasse Myhr und Annette Paulmann.

www.berlinerfestspiele.de

www.muenchner-kammerspiele.de

Trailer: www.muenchner-kammerspiele.de/programm/stuecke-a-z/orpheus-steigt-herab/trailer/

Von Michaela Mottinger

Wien, 14. 5. 2013