Academy Awards Streaming: Glenn Close und Amy Adams in „Hillbilly Elegie“
April 15, 2021 in Film
VON MICHAELA MOTTINGER
Ron Howards Rust-Belt-Melodram spitzt auf zwei Oscars

Tränenreicher Abschied von J.D., der von Middletown, Ohio, zur Eliteuni Yale übersiedelt: Glenn Close, Amy Adams und Haley Bennett. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020
Auch wenn sich das Feuilleton wegen der Netflix-Filmadaption von J.D. Vances auto- biografischem Sachbuch „Hillbilly Elegie“ (Buchrezension: www.mottingers-meinung.at/?p=25744) nicht grad vor Freude überschlagen hat, wurde das mit viel Hollywood-Glanz zum Rust-Belt-Melodram gestylte White-Trash-Erklärstück von der
Academy of Motion Picture Arts and Sciences mit zwei Oscar-Nominierungen bedacht, und beide völlig zurecht, nämlich Eryn Krueger Mekash, Matthew Mungle und Patricia Dehaney für Bestes Make-up und Beste Frisuren, und: Glenn Close als Beste Nebendarstellerin. Die Charakterschauspielerin, die mit acht Nominierungen seit 1983 den Rekord als hoffnungsvolle, doch nie preisgekrönte Academy-Award-Aspirantin hält, wurde dies Jahr neben Regisseur Ron Howard und Drehbuchautor Vanessa Taylor aber auch schon für die Goldene Himbeere nominiert, und um den Oscar tritt sie immerhin in Konkurrenz mit Olivia Colman für „The Father“ (in Wien bereits 2016 in den Kammerspielen zu sehen, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=17522) und Amanda Seyfried für „Mank“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45151). Hier noch einmal die Filmkritik vom November:
Wie die Waltons auf Crack
Um’s gleich zu gestehen, dieser Titel ist ausgeliehen vom britischen Autor Brian Viner, der „Hillbilly Elegie“ in der Daily Mail mit dem Satz beschrieb: „This film is like The Waltons on crack“, und weil man’s besser nicht sagen kann – Zitat! Als das autobiografische Sachbuch von J.D. Vance mit dem Titel „Hillbilly Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=25744) 2016 erschien, traf es einen Nerv.
Nachdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, begab sich die verdutzte, verunsicherte Hälfte der Nation auf Motivsuche für diesen Triumph. Vor allem die weiße, wirtschaftlich abgehängte Bevölkerung des Rust Belt, der einstigen Industrieregion im Nordosten, der White Trash, die Rednecks, mit einem Wort: die Kapitol-Stürmer vom Jänner 2021, wurden zum Forschungsobjekt. Viel war vom Wegbrechen der Arbeiterklasse die Rede, erbärmliches Prekariat statt aufrechtem Proletariat, man denke an die zornigen weißen Unterschichtler, die mit den „Make America Great Again“- und den „America First“-Taferln wachelten [- auch 2020 wählten diese Menschen überwiegend Trump].
Wobei völlig unverständlich blieb, warum diese Wohlstandsverlierer glaubten, ein Rüpel, der ständig mit seinem Reichtum prahlt, würde ihre Arme-Leute-Interessen vertreten. Doch immerhin war da einer, der aus erster Hand über den Zustand der Vereinigten Staaten hinten den sieben Bergen berichten konnte, J.D. Vance. Aufgewachsen in Jackson, Kentucky, und in Middletown in Ohio, gelang ihm das seltene Kunststück, sich aus seinem familiären Umfeld zu lösen, und es – nach der US-typischen Karriere Militär, als Marine im Irak, ergo Stipendium – zwecks Jusstudium gegen die Eliteuni Yale zu tauschen.
Sein Buch wurde ein Bestseller, bei den Demokraten, die ihre Ressentiments schriftlich bestätigt sahen, und im rechten Lager, zu dessen gefühlsduseligem Patriotismus sich auch Vance in schönster Unbefangenheit bekennt, und das sich von einem der ihren durchaus nicht ungerecht beschrieben fühlte. Dass sich „Hillbilly Elegie“ nun als prominent besetzte Netflix-Produktion wiederfindet, zeigt zwar, dass die klaffenden Klüfte arm-reich, rechts-links, Norden-Süden die Kulturschaffenden im Home of the Brave nach wie vor umtreiben, doch liefert Ron Howards überdramatisierte Filmversion kaum Ansätze, wie sich das Land und seine mehr als 40 Millionen armutsgefährdeten Menschen therapieren ließen.

Owen Asztalos und Glenn Close. Bild: © Lacey Terrell/Netflix

Glenn Close und Owen Asztalos. Bild: © Lacey Terrell/Netflix

Glenn Close. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020

Amy Adams. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020
Die Kamera von Maryse Alberti unternimmt ausgedehnte Ausflüge durchs Breathitt County, vorbei an Hütten zu nennenden Holzhäusern, davor Männer, die voll Oldtimer-Lust an einer Rostlaube schrauben, drinnen Frauen, die andächtig dem Radio-Prediger lauschen, der tägliche nachbarschaftliche Amoklauf so selbstverständlich wie der Zusammenhalt, die Familienehre ein ehernes Gesetz, die Colts sitzen so locker wie’s Mundwerk ist, Middletown, du Geisterstadt mit in den Seilen hängenden Scheintoten – und überm ganzen trostlosen Elend gleißt glitzernd-heiß die Sonne.
Man merkt dem Film die Hemmung, die hier porträtierte Gesellschaftsschicht auch gesellschaftspolitisch zu sezieren, in jeder Sekunde an. Scheint’s bewusst belässt es Ron Howard diesbezüglich bei Leerstellen. Das Politischste ist noch die kurze Diskussion darüber, dass J.D.s Mutter keine Krankenversicherung hat, doch selbst das stellt sich als ihre eigene Entscheidung heraus. Während das Buch ein ganzes Milieu abzubilden versucht, geht es hier wirklich nur um eine Familie, und wie exemplarisch diese für andere stehen soll, verweist Howard ins Reich der Vermutungen. Der Regie-Routinier taucht lieber ein in die Untiefen der Sozialtristesse.
Von Vances‘ kritischen Kommentaren in seiner Rückschau, in denen er die fehlende Arbeitsmoral seiner Leute oder deren Ausnutzung von Wohlfahrtsprogrammen beklagt, fehlt jede Spur – „Er zeichnet Bilder von arbeits- unwilligen Freunden und alleinerziehenden Müttern, beide von der Sorte, der man vorwirft den Sozialstaat (soweit in den USA überhaupt vorhanden) zu plündern. Würde man nicht wissen, dass sich hier ein quasi Tatsachen- bericht liest, man würde aufstehen und schreien: Übertreibung!“, stand in der mottingers-meinung.at-Buchkritik.
Stattdessen bekommt Glenn Close als traditionsverhaftete Hillbilly-Großmutter Mamew ausreichend Platz, um mit ihrer tragikauzigen Performance zu brillieren. Die Struwwel-Haare! Die Gurkenglas-Brille! Die Zigarette an die rechte Hand getackert. Ein wenig vulgär und von einem verschmitzten Verhärmt-Sein, aus dem die Meisterin der Verwandlung keinen Widerspruch macht. Es braucht den Nachspann, in dem Original-Vance-Familienfotos zu sehen sind, um zu begreifen, dass hier eine real existiert habende Frau und nicht die trockenhumorige Sophia aus den „Golden Girls“ abgeformt wurde.
Wie sie den dicklichen Tollpatsch J.D., als Kind: Newcomer Owen Asztalos, über den Augengläserrand hinweg anstiert und dabei schimpft wie ein Kapskutscher, selten wurde (groß-)mütterliche Liebe, das Prinzip harte Schale und weicher Kern, zugleich bedrohlicher und begütigender dargestellt. Denn es ist Mamew, die mit fürsorglichem – pardon! – Arschtritt ihren Enkel in die richtige Richtung befördert. Weg von Mutter Bevs Drogensaustall und nach vertrödelten Jugendjahren endlich hinein in die High School – und hopp-hopp zu mehr Selbstvertrauen.

Amy Adams. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020

Glenn Close und Amy Adams. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020

Bennett, Close und Asztalos. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020

Amy Adams und Haley Bennett. Bild: © Lacey Terrell/Netflix
In schablonenhaften, nichtsdestotrotz treffsicheren Szenen macht Ron Howard klar, wie es ist, sich als Unterschichtskind auf die erste Sprosse der Karriereleiter zu wagen. Er wechselt dazu von Gegenwart zu Rückblick, beinah im Minutentakt, Vanessa Taylor hat das 300-Seiten-Buch zu einer 24-Stunden-Novelle verdichtet, und Gabriel Basso spielt J.D., den jungen Mann, als Außenseiter im elitären Juristenzirkel von Yale. Die sozialen Kontraste nicht nur deutlich gemacht durch ein Bewerbungsdinner, bei dem ihm ob der ihm unbekannten Besteckreihenfolge die Schweißperlen auf die Stirn treten, sondern auch in den Tischgesprächen der schnöseligen, standesdünklerischen Rechtsanwaltsclique.
So, so, er stamme also aus Ohio, na, da hätte er ja bis Yale den American Way beschritten! Wie sich’s heute wohl anfühle unter die Rednecks zurückzukehren? Spöttische Bemerkungen, als käme J.D. schnurstracks aus den verlassenen Höhlen von Moria. Wider besseres Ferialjob-Wissen wehrt er sich, und dabei ist ein Zusammenspiel aus Scham und Stolz sichtbar, das ans Kitschherz geht. Doch schon im nächsten Moment wird J.D. aus der Establishment-Welt in die noch grausamere Wirklichkeit gezerrt.
Ein Telefonanruf der Schwester, die aus dem Pica-Syndrom-Drama „Swallow“ bekannte Haley Bennett als Lindsay, die Mutter liegt wieder einmal wegen einer Überdosis Heroin im Krankenhaus, sie fleht den Bruder an, zu kommen … Auftritt Amy Adams als Beverly! Explosiv, wie aus der Kanone geschossen, rast sie durch ihr be***scheidenes Leben; Ron Howard fährt zur Inszenierung der Vance’schen Familienchronik schweres Geschütz auf, und derart kann nur ein Schlachtengemälde aus grobkörnigen Fotografien entstehen, jedes Close-up: Blitz, Donner, Einschlag!
Amy Adams schreit, prügelt, schluchzt, bereut, die komplette Schuld-und-Sühne-Klaviatur rauf und runter. Glenn Close lässt die Mundwinkel noch tiefer sacken und ihre Mamew vor Bev parieren und für J.D. kalmieren – beide Darstellerinnen von der Intensität, dass man als Betrachterin vor Schmerz aufjaulen möchte. Doch ob Adams nun auf die Ambulanzfahrer hysterisch wie eine Furie losgeht oder ihrem Sohn bei durchgetretenem Gaspedal mit einem tödlichen Autounfall droht, immer ist da die hilfesuchend ausgestreckte Hand, wieder und wieder, wir haben’s schon verstanden: Bev ist ein Opfer der Umstände. Wie anrührend, wie unangenehm berührend!
Und so resignativ wie Gabriel Bassos blasser J.D. wirkt, der Junge hat nicht mal mehr die Kraft für Zorn auf die Mühlstein-um-den-Hals-Familie, der Junge, der dennoch imstande war, die Opferrolle abzuschütteln, der Junge, der nichts mehr verabscheut, als den mitleidigen „Er kommt aus einer dysfunktionalen Familie“-Satz, so resignativ denkt man an Phil Morrisons „Junikäfer“, der Amy Adams 2015 die erste größere Aufmerksamkeit brachte, in dem die Gegensätze der beiden Amerikas um einiges subtiler herausgearbeitet waren.

Haley Bennett und Gabriel Basso. Bild: © Lacey Terrell/Netflix

Amy Adams und Gabriel Basso. Bild: © Lacey Terrell/Netflix

Gabriel Basso. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020

Freida Pinto. Bild: © Lacey Terrell/Netflix 2020
Hier läuft’s für J.D. auf emotionale Erpressung hinaus. Von Mutter Bev, die mit ihrer „Verdammt nochmal!“-Art überall aneckt, die vor Spott und Hohn auf den Sohn, der jetzt ja glaube, etwas Besseres zu sein, vor Verzweiflung und Verletztheit trieft, und deren rotierende Abwärtsspirale in den Rückblenden erzählt wird: von der diplomierten Krankenschwester zum verwahrlosenden Drogenjunkie.
Von Schwester Lindsay mit der dauerhaft rotgeheulten Nase, die sich von Gott und der Welt alleingelassen fühlt, und über die Mutter sagt: „Ich versuche nicht, sie zu verteidigen, aber ich versuche ihr zu vergeben …“ Da ist diese eine Szene in der Küche, in der sie wutschnaubend erklärt, niemals werde sie so enden, als minderjährige Mutter mit schlechtem Job und einem ob seiner „Hobbys“ durch Abwesenheit glänzenden Ehemann, aber ach …
Man möchte diesen J.D., dessen einziger Anker Freundin Usha ist, „Slumdog Millionär“-Bollywood-Star Freido Pinto, J.D. und Usha sind übrigens bis heute verheiratet, man möchte also J.D. zurufen: Lauf! Mach dich los! Weg da! Jeden Moment, den ich dir zusehe, fürchte ich, deine Sippschaft zieht dich wieder auf ihr Niveau runter! Siehst du nicht, dass das „Home, sweet Home“ deine schlechtesten Eigenschaften zutage befördert!
Oder wie ein Polizist sagt, nachdem der gewalttätigen Bev wieder einmal die Handschellen angelegt wurden: „Das mag in deiner Familie normal sein, aber es ist nicht richtig.“ Worauf Owen Asztalos als J.D. die Mutter entschuldigend und in Schutz nehmend antwortet: „Sie hat nichts getan, ich habe mich schlecht benommen.“ Welch ein Kind, welch eine Kindheit! Und welch ein ehrliches, authentisches, denn das ist dieser Stoff ja schließlich, Sozialdrama man daraus mit etwas weniger wimmernden Geigen hätte machen können.
Im bereits erwähnten Abspann schließlich wird zur Beruhigung des Publikums Entwarnung gegeben: Die Vances sind auf dem besten Weg, Bev ist seit sechs Jahren clean und eine hingebungsvolle Großmutter für Lindsays mittlerweile drei Kinder. Die ehemaligen Blue-Collar-Worker pfeifen auf den Blues, sogar der Schildkröte, deren gebrochenen Panzer Klein-J.D. mit Klebeband verarztete, geht es prima. Hurra! Happy End!
Trailer OV/OmU: www.youtube.com/watch?v=KW_3aaoSOYg www.youtube.com/watch?v=zIn074iQSbQ www.netflix.com
15. 4. 2021