aktionstheater ensemble streamt: Salz Burg

März 23, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Hungerkünstler des gespielten Worts

Strenge Lehrmeisterin in Sachen Spielbetrieb, Selbstaufgabe und Scheißdrauf: Grande Dame Vera Borek mit Videogestalter Felix Dietlinger (u.). Bild: © aktionstheater ensemble

Das aktionstheater ensemble zeigt als letzte Produktion der vierten Staffel seiner digitalen Aufführungsreihe „Streamen gegen die Einsamkeit“ die noch bis Sonntag zu sehende Performance „Salz Burg“ aus dem Jahr 2012 – und es hat was von der Faszination des Grausens wie zeitgemäß dieser mit den Erfahrungen des Ensembles komplettierte Text von Wolfgang Mörth gerade wieder ist. Das aktionstheater ensemble veranstaltet mit allem Pipapo eine Sponsorenparty, alles ist „vorbereitet aufs allerbest‘ für Geldgeber und andere Gäst´“.

Freilich, bei dem Titel muss der Hofmannsthal herhalten. Zu Jedermanns Freude wickeln sich zwei Pole-Tänzerinnen akrobatisch um die Stangen, vier Minuten pure Körperkunst zum pulsierenden Technobeat von Erdem Tunakan, der einen Pulsinger & Tunakan-Hälfte. Zur ziemlich „experimentellen“ Live-Kameraführung gibt es drei Vidiwalls – Alexander Moissi und sein „Tod“ Werner Krauß auf dem Domplatz, „Die Götter müssen verrückt sein“, „The Sound of Music“ und weiß der Kuckuck aus welchem Film der chinesische Kader ist.

Von Martin Gruber aufs Korn genommen wird jedenfalls der Kniefall der Hochkultur vor den Finanzstarken. Tobias – Voigt!, æ-Aficionados wissen’s, die Darsteller kreieren im Spiel eine fiktive Figur ihrer selbst – buhlt als Armer Nachbar um die Gunst der „Bewilligungsbefugten“, Sponsoren, Subventionsgebern, Kulturpolitiker: „Nur diesen Beutel teil‘ mit mir …“ Der Akteur mit der schwächelnden Blase und den kraftstrotzenden Grundsätzen, der eingangs, weil auf eine freie Toilette wartend, klorollenlange Assoziationsketten über begrenzte Kapazitäten und Ressourcen-Verteilung abwickelte, weiß um das große Theater mit den per Eigendefinition „Gönnern“.

„Bewilligungsdarsteller mit fixer Gage“, schimpft er sie. Und man selbst? „ …das Biafra, die Sahelzone, das Somalia der Bühnenkunst, Hungerkünstler des gespielten Worts, die Ausgezehrten des Spielbetriebs …“ Vom Speichel des Publikums müsse man sich ernähren, sagt Tobias, und nicht einmal das ist anno 2020/2021 via Stream mehr möglich. „Salz Burg“ ist als heute betrachtete Inszenierung ein Entwicklungsschritt auf dem Weg, den die schnelle Eingreiftruppe zur theatralen Aufarbeitung aktueller Themen 2008 einschlug, weg von den Klassikern, hin zur poetischen, in doppeltem Sinne „Verdichtung“ der gesellschaftspolitischen Realität.

Martina Ambach lamentiert. Bild: © aktionstheater ensemble

Vera Borek deklamiert. Bild: © aktionstheater ensemble

Susanne Brandt kalmiert. Bild: © aktionstheater ensemble

Was Martin Gruber und Martin Ojster hier ansprechen, und schön ist’s zu sehen, wie etwa Michaela Bilgeri und Susanne Brandt bereits an ihren Manierismen feilen, wird in den kommenden Projekten noch präziser werden: Vom Demokratie-Ennui bis zum egozentrierten Weltbild Europas, vom Couchkomfort zum Faschismus, von der Selbst-Infantilisierung über Interesselosigkeit zu einer Konsumsucht, die sich wie ein Krebs ausbreitet – ein collagenähnliches Panorama des Österreichischen, bei dem das Ensemble aufs Anarchischste den Aufstand probt, doch die Barrikaden des Kulturestablishments nicht ohne Selbst/Ironie stürmt.

2012 war das aufg’legt. Die Salzburger Festspiele hatten eben erst den zum Eröffnungsredner bestimmten Jean Ziegler wieder ausgeladen, „diesen Fremdkörper im Festspielorganismus“, sagt Bilgeri, „800 Millionen hungernde Menschen scheißen drauf“, sagt Brandt, „unterm Schirm der Kunst nichts spüren und nichts riechen“, das sei das Ersatzerlebnis, die Ersatzbefriedigung! Wie stets ist Martin Gruber der Moral von der Geschicht‘ elegant ausgewichen, persönliche Befindlich- und Wehleidigkeit hat hingegen hinreichend Platz.

Susanne hat sich für die Rolle der Sandy in „Grease“ beworben, für Musical ist ja Geld da und außerdem „bin ich innen nicht so, wie ich außen ausschau‘, ich fühl‘ mich wie ein Modeltyp“. Fabelhaft verzweifelt und urkomisch ist die Brandt, während sie sich durch ein Best-of-Webber singt. Michaela würde als Stellenangebot auch Blow Jobs annehmen. Martina (Ambach), eben noch Backstage-Anekdoten runterleiernd, eine im Bühnenpelz schwitzende Sängerin, ein Sponsor, der inszenatorische Oberhand will, „weil er’s schließlich zahlt hat“, bricht bei ihrer Selbst/Aufgabe in Tränen aus – so böse sind alle zu den Festspielen, dabei „is des quasi mei Ursprung.“

Michaela Bilgeri. Bild: © aktionstheater ensemble

Tobias Voigt. Bild: © aktionstheater ensemble

Susanne Brandt. Bild: © aktionstheater ensemble

Alle an der Pole Dance Stange. Bild: © aktionstheater ensemble

Derart wird schwadroniert und lamentiert, alles immer haarscharf pathetisch, und mittendrin erstaunt, erschreckt, „im falschen Film“ grad recht – Vera Borek, die Grande Dame des Wiener Volkstheaters, die – „Aufpassen, Kinder!“ – den Nachwuchs bei der Pole Dance Stange hält, in Tonfall und Geste eine gestrenge Ballettmeisterin, Ihre Deutungshoheit, die Bedeutungsschweres zu künden hat, „ …über wie viele Schatten ich schon gesprungen bin …“, „ihr fragt euch, wie bewahre ich bei all dem meine Würde, und ich sage euch, scheißt’s auf die Würde“.

Borek taumelt zum Mikrophon, „mit der richtigen Technik spielen wir die neueste Gesetzesnovelle zur Künstlersozialversicherung als wäre sie von Elfriede Jelinek“, ja, das war auch 2012, um Michaela Bilgeri aus „Wie geht es weiter“ zu zitieren, „ein Riesenthema bei uns“, die Borek will die im Trüben fischenden Kritiker mit postdramatischen Eindrücken beeindrucken, bevor sie sich neben ihren cognacfarbenen Lederfauteuil setzt. Martina hilft, Michaela lacht. Heimlich.

„Planlose Aktivitäten, sprühend vor Energie, aber alles in allem rätselhaft“, rekapituliert Tobias als wäre er einer der erwähnten Kritiker. Damit das klar ist, ES GEHT UMS GELD! Susannes irrer Smalltalk, Schmollmund-Schlampe Michaela, Martina mit ihrem urwüchsigen Charme, wer würde da gern spenden? Viel fehlt nicht, dass ihm das ergänzende Samen- wie Geifer von den Lippen tropft, toxische Männlichkeit heißt sich das. Der nächste Mythopoet, Videomacher Felix Dietlinger, redet von Rebranding, man müsse Content und Hype zugleich zu sein.

„Wie bewahre ich bei all dem meine Würde …?: Vera Borek. Bild: © aktionstheater ensemble

Was Wunder, dass die Berühmtheit in der Runde, die Borek, die ohnedies den Großteil des Abends neben der Espressomaschine verbracht hat, nun als güldene Kaffeekapsel epiphaniert. Vera Borek als fleischgewordene Werbefläche, das ist Product-Placement auf höchster künstlerischer Ebene, das ist Theater-Placement mit subtilem Produktzusammenhang. Noch ästhetischer, authentischer, aussagekräftiger geht nicht.

Und mit ihrer unverwechselbaren, vom Schneidenden ins Somnambule wechselnden Stimme schließt die Borek: „Da draußen gibt es irgendwo die Freiheit der Kunst … glaube ich … dann lass‘ mich sanft hinübergehen, vielleicht geh‘ ich in Freuden ein …“ Und aus dem Hofer-Sackerl schneit’s Federn. Wer wohl gerupft worden ist?

aktionstheater.at           Trailer: vimeo.com/42688565

23. 3. 2021

Schauspielhaus Graz streamt: The Hills are Alive

März 10, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Subversive Puppengroteske übers Österreichertum

You look so familiar – Einwanderungsbeamter Frickl hat kein Verständnis für den Antrag von Maria und Max von Trüb: Nikolaus Habjan und Neville Tranter. Bild: © Lex Karelly

„You look so familiar“, diesen Satz kann Einwanderungs- beamter Norbert Frickl wirklich nicht mehr hören. Im Halbdunkel sitzt der Bärtchen-und-Seitenscheitel-Lookalike an seinem Schreibtisch, stempelt mit Donnerhall Bleibeanträge in Grund und Heimatboden und gackert dabei vor Freude wie ein aufgeregtes Huhn. Frickl, und ein Schelm, der’s F durch ein K ersetzen will, stammt aus der Werkstatt des australischen Puppeteer Neville Tranter, er ein Großmeister seiner Zunft und

weiland Lehrer des 14-jährigen Nikolaus Habjan. Am Schauspielhaus Graz haben die beiden erstmals auf der Bühne zusammengefunden, für die Uraufführung von „The Hills are Alive“, das ab heute im Stream zu erleben ist. Jede Ähnlichkeit mit Hollywoodklassikern ist frei erfunden, wenn Tranter und Habjan ihre acht Klappmäuler zum Leben erwecken, wiewohl Habjan, da er „The Sound of Music“ anstimmt Julie Andrews alle Ehre macht. Dies tut er als Spieler der Maria, die mit Ehemann Max von Trüb nach Jahrzehnten im amerikanischen Exil hochbetagt ins Vaterland zurückkehren will.

Dem entgegen steht Magister Norbert Frickl, der die Stunde seiner Rache gekommen sieht, haben die von Trübs doch dereinst durch ihre Flucht seinen Vater zum Gespött der Ostmark gemacht, Gauleiter Zeller, hier umbenannt in Keller – zwecks des Wortwitzes Keller-Nazi. Die Sprache der Aufführung ist Englisch mit einheimischem Idiom, köstlich ist das, wenn Frickl vorm nicht besonders hellen Soldaten Kornbichler, denn meist scheitert der Böse ja am Blöden, über „se stars so breit and shining“ philosophiert.

Vor Salzburger Bergkulisse wartet Maria, so aufgetakelte wie abgewrackte Diva, auf die Ovationen der österreichischen Fans, für ihr „Climb Ev’ry Mountain“ gibt’s für Habjan später Szenenapplaus, ihre großen Gesten kann Max, geführt von Neville Tranter, nur mit seinem lakonischen Humor bekämpfen. Die Lachsalven dafür kommen aus dem Publikum.

Kammerkätzchen Juliette: Nikolaus Habjan. Bild: © Lex Karelly

Arnie mit Terminator-Auge: Nikolaus Habjan. Bild: © Lex Karelly

Bös‘ meets blöd – Soldat Kornbichler: Habjan und Tranter. Bild: © Lex Karelly

„The Hills are Alive“ ist eine großartig subversive Groteske aufs Österreichertum, eine hervorragend gelungene Parodie, die auch pure Blödelei nicht scheut, die Dialoge sind sowohl politisch als auch was das Puppenwesen betrifft doppeldeutig – „I don’t wanna be realistic“ – „I know, you are not built that way“ – und was das Puppenspiel betrifft, ist der Abend sowieso herausragend. Der teuflische Frickl ist eine Glanzrolle für Habjan – Habjan ist immer gut, doch wenn er böse ist, ist er besser. Famos, wie er am Höhepunkt des Geiferns den Frickl einbremst, worauf ihn die Puppe entgeistert ansieht.

Und dachte wer, mehr geht nicht, für den passiert Wundersames. Denn dort, wo Nikolaus Habjan mitunter auch co-agiert, geht Neville Trantor ganz in der Figur auf. Den Blick nach innen gerichtet „verschwindet“ er hinter der Puppe, auch switchen die beiden zwischen den Charakteren, einer führt, einer spricht, oder einer arbeitet mit zwei Puppen gleichzeitig. Mit einem Wort: Große Kunst! Unfassbar, wie viele Gesichtsausdrücke so eine Klappmaulpuppe haben kann!

Die Kitschfantasie der Traumfabrik-Vorlage wird mit konkret Politischem unterwandert. Absurder noch als der gamsige Ziegenbock Billy, ein pathetischer Poet, der anno Alm Marias Streicheleinheiten überinterpretierte und nun mit bebendem Geißbart „Kiss me!“ fordert, sind die Seitenhiebe aufs hiesige und anderweitige Asylunrecht. Frickl, für den die von Trübs illegale Immigranten sind – „Fifty years ago Austria was not good enough vor sem and now they try to reenter our faderland illeeegally …“ -, erpresst Zimmermädchen Juliette, indem er ihren syrischen Freund Osama verschwinden lässt, und macht sie zur Spionin in seiner Sache. Reporter David setzt er den Floh ins Ohr, er sei Max‘ unehelicher Sohn, wonach auch der auf Revanche aus ist.

Der hinterfotzige Frickl setzt dem arglosen Reporter David einen Floh ins Ohr: Tranter und Habjan. Bild: © Lex Karelly

„Hollywoodstar“ Maria erzählt Juliette von ihrem heimlichen Verehrer …: Habjan und Tranter. Bild: © Lex Karelly

… der sich allerdings als liebestoller Ziegenbock-Poet Billy entpuppt: Neville Tranter. Bild: © Lex Karelly

Ein Ende, das zu Tränen rührt: Max und Maria von Trüb aka Neville Tranter und Nikolaus Habjan. Bild: © Lex Karelly

Die von Trübs wiederum, erfährt man, haben Kalifornien verlassen, weil Trump seine Mauer zu Mexiko schnurgerade durch ihren Hinterhof gezogen hat. Bizarr und, wie Habjan im Programmheft-Interview sagt, „bitterlustig“ überschlagen sich die Ereignisse, von denen Maria, überzuckert wie Salzburger Nockerl, wenig mitkriegt. Also ist es Max, der US-Nachbar Arnie anruft, der mit Terminator-Auge und zum Jodler aus dem „The Lonely Goatherd“-Song anreist, um die Dinge zurechtzubiegen. Aber auch für die steirische Eiche, Habjans Highlight als Stimmenimitator, hat Frickl nur ein „Hasta la vista!“ übrig.

Die Virtuosen Tranter und Habjan haben das touristische Aushängeschild „The Sound of Music“ zur turbulenten Farce verballhornt, an deren tiefsten Stellen man in die Abgründe der österreichischen Seele zu blicken vermag. Zwischen dem Aktenmonster Frickl mit seinen uralten Animositäten und Max, der alle Hebel urösterreichischer Verdrängungsmechanismen bedient, von ewiggestrigem bis Neonazidenken, garniert mit einer Prise Ausländerhass, ist der Abend aus dem Jahr 2019 nicht so weit von der Jesuitenwiese im Wiener Prater entfernt.

Wo bekanntlich der Wurschtel wohnt, den keiner erschlagen kann. Am Ende rührt einen das Schicksal von Max und Maria zu Tränen, die Puppen von Tranter und Habjan können das. Man hat gelacht, man hat geweint, man hat sich unterhalten. Es war, wie Max sagt: Wunderbar!

Zu sehen heute, ab 19.30 Uhr, am 19. und am 27. März für jeweils 24 Stunden. Tickets um 10 € via shop.ticketteer.com/SchauspielhausGraz; nach dem Kauf erhält man Zugangslink und Kennwort.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=hsiVqhS2Yww           www.youtube.com/watch?v=ZP38t5qT5nM&t=1s

TIPP – BÖHM: Am 12. und 20 März, 19.30 Uhr und jeweils für 24 Stunden, streamt das Schauspielhaus Graz die umjubelte Aufführung „Böhm“ in der Regie von und mit Nikolaus Habjan. Die Inszenierung war 2018 für den Nestroy-Preis in der Kategorie „Beste Bundesländeraufführung“ nominiert. Trailer: www.youtube.com/watch?v=roZfPVMGYjw

schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com

  1. 3. 2021

Landestheater NÖ streamt: Gandhi – Der schmale Grat

März 5, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Große Seele mit kleinen Rissen

Bettina Kerl schlüpft nicht nur in verschiedene Rollen – hier in die des Enkel Arun Gandhi, sie spielt auch die Shrutibox. Bild: Screenshot „Gandhi – Der schmale Grat“

Satyagraha, das lernt man als Erstes, heißt satya – die Wahrheit und ā-graha – das Festhalten daran. Mahatma Gandhi hat diese Wortneuschöpfung erdacht, als Ausdruck seines zivilen Ungehorsams. Liebe, sagte er einmal sinngemäß, sei Wahrheit und Gewaltlosigkeit, die Liebe, die seinen politischen Kampf ausmache, und Satyagraha dabei die Waffe der geistig und moralisch Stärksten. Das mit dem „passiven Widerstand“, den ihm der Westen so gern

anheftet, hörte er gar nicht so gern, hielt er ihn doch für ein Mittel der Schwachen. Bei der berühmten Rede zur Einweihung der Universität Benares 1948 nannte Gandhi sich einen Anarchisten „der anderen Art“. Mahatma, die Große Seele …

Dies alles erfährt man schon in den ersten Minuten der Inszenierung „Gandhi – Der schmale Grat“ des Landestheater Niederösterreich. Regisseurin und Dramaturgin Evy Schubert und Schauspielerin Bettina Kerl haben die Produktion fürs Klassenzimmertheater erdacht und konzipiert, nun wurde das Ganze extra für den Stream von Johannes Hammel neu aufgenommen. Derzeit wird dieser für Schulen inklusive einer Online-Nachbereitung der Theaterpädagogik angeboten www.landestheater.net/de/theatervermittlung, an dieser Stelle schwelt allerdings die Hoffnung, dass der Stream noch einmal für alle freigeschaltet wird – und natürlich die Aufführung bald live zu sehen ist.

Nun könnt‘ man sagen, Bettina Kerl spielt großen Pazifisten und Asketen, wahr ist aber vielmehr: sie performt ihn. Zu Bollywood-Musik und mit Goldmikro malt sie erst die Buchstaben in die Luft G-A-N-D-H-I, bevor sie ein Bild des Anführers der indischen Unabhängigkeitsbewegung zeichnet. Von dessen Zeit als Rechtsanwalt in Südafrika, wo er sich für die Gleichberechtigung der indischen Minderheit einsetzte, bis zur Loslösung Indiens aus der britischen Kolonialherrschaft. Der Salzmarsch (gegen das britische Monopol) darf da nicht fehlen, seine bis an die Grenze zum Sterben durchgehaltenen Hungerstreiks, die er stets dann begann, wenn er eine Idee durchsetzen wollte, sein selbstgewebtes Gewand, der Khadi, ein Zeichen für die Emanzipation der indischen Textilarbeiterinnen.

Bettina Kerl agiert eindringlich, an Gandhi, versteht man schnell, war alles Symbol. Er war ein Meister der Geste, der seine komplexen Botschaften in schlichter Weise unters Volk brachte. Diese Kunst beherrschten in den 1920er-, 1930er-Jahren anderswo die Falschen, und so ist es bis heute geblieben, und wenn Kerl im Namen Gandhis sagt, die Nation müsse lernen Nein zu sagen, dann schlägt man das Buch zur europäischen Zeitgeschichte beschämt zu.

Doch „Gandhi – Der schmale Grat“ verklärt den Bapu, den Vater der Nation, nicht. Schon seine elf Gelübde werden ihr zum Yoga-Matten-Spagat. Eins davon, das der Keuschheit, ist besonders brüchig. Denn nicht nur, dass er seine Ehefrau Kasturba erst gar nicht übers Vorhaben informierte, er ließ sich, um seine Enthaltsamkeit auf die Probe zu stellen, nächtens nackte Mädchen ins Bett legen – aber sich tagsüber mehr und mehr als religiöse Figur feiern. Die Große Seele, sie hatte durchaus Risse. Schließlich kam Gandhis große Niederlage: Die Unabhängigkeit Indiens 1947 als Zweistaatenlösung.

Bettina Kerl mit Goldmikro performt den Gandhi. Bild: © Landestheater Niederösterreich

Bettina Kerl als Gandhi-Attentäter und Hindu-Nationalist Nathuram Godse. Bild: © Landestheater Niederösterreich

Flugs wechselt Bettina Kerl die Position, sie entfernt den Klebestreifen-Schnauzbart, wird zum Attentäter, zum Mörder Nathuram Godse, einem Hindu-Nationalisten. Und wie sie da breitbeinig steht, den Tikala auf der Stirn, frech, ohne Reue, Godses Standpunkte wie eine Strafverteidigerin vertretend, da kann man nur sagen: Verwandlung gelungen. Und wieder dockt die Aufführung am Heute an: Die Teilung des Landes ins hinduistische Indien und ins muslimische Pakistan, erklärt Kerl, ist die größte Flüchtlingsbewegung der Geschichte.

Die einen wollten nach hüben, die anderen nach drüben, eine Million Tote, 20 Millionen Vertriebene, und man muss begreifen, dass niemand seine Heimat aus Jux und Tollerei verlässt. „Niemand flüchtet freiwillig“ schreibt auch UNHCR Österreich, und weist in der aktuellen Statistik 80 Millionen Menschen weltweit als Flüchtlinge aus. Wobei – dies all jenen ins Stammbuch geschrieben, die vor dem Überrannt-Werden Europa warnen – 73 % davon in den Nachbarländern bleiben. Die meisten Flüchtlinge nehmen neben der Nummer eins

Türkei die ärmsten Länder auf: Uganda in Afrika am meisten, der Libanon, Bangladesch, das sich 1971 von Pakistan abspaltete – und weltweit auf Platz zwei: Pakistan selbst. Dies eine kurze Kritik an dieser ansonsten fabelhaften Arbeit, und ohne Schülerinnen und Schüler mit Mountbatten-Plan, Churchill-Intrigen und Clement Attlee strapazieren zu wollen. Doch gehörte die Ursache für die meisten blutigen Konflikte, politische Schieflagen, beides oft wegen willkürlich gezogener Grenzen, schlechte Wirtschaftslagen und damit kaum Aussicht auf Arbeitsplätze – siehe das Unwort: Wirtschaftsflüchtling/Migrant, deutlicher herausgestellt: der Kolonialismus, die Herrschaft des weißen Mannes und seine Ausbeutung von Mensch und Land. Auch zwischen Indien und Pakistan gibt es keinen Frieden. Seit 1948 befehdet man sich wegen Kaschmir.

Einen dritten Charakter stellt Bettina Kerl noch dar: den Gandhi-Enkel Arun. Die Shrutibox spielend erzählt sie als dieser vom verehrten Großvater. Als 12-Jähriger kam er in dessen Haus und blieb zwei Jahre. Zeit genug, um vom Friedensaktivisten die wichtigsten Lektionen zu lernen, davon die erste „Wut ist ein Geschenk“, und da stutzt man kurz. Bevor man sich der flammenden Reden der 18-jährigen Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg – deren indische Mitstreiterin Disha Ravi (21) ein Online-Kontakt mit Greta übrigens gerade erst hinter Gitter brachte -, der 21-jährigen Emma Gonzales, die unter Zornestränen schärfere Waffengesetze in den USA fordert, und nicht zuletzt der pakistanischen Frauenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai (23) entsinnt.

Gandhis Vermächtnis wird fortgeführt. Eine Botschaft, sagt Kerl als Arun, hätte ihm sein Großvater noch mitgegeben, nämlich, dass zu viele Menschen zu viel Zeit darauf verwenden, ihre kleine private Welt zu schützen. „Doch der einzelne überlebt nur, wenn auch der Rest der Welt überlebt.“

www.landestheater.net

  1. 3. 2021