Der Rabenhof auf fm4 – Lesemarathon: Albert Camus‘ „Die Pest“ ab Karfreitag als Videostream

April 7, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

120 Stimmen in zehn Stunden

Bild: pixabay.com

„Ein monumentales Projekt in Tagen des Ausnahme- zustands“ plant der Rabenhof am Karfreitag ab 12 Uhr
auf fm4.orf.at: „Die Pest“ des französischen Nobelpreis- trägers Albert Camus als Videostream, als Marathonlesung von 120 Stimmen in zehn Stunden. Nach einer Idee von Claus Philipp und Thomas Gratzer sind unter anderem zu sehen und zu hören:

Elfriede Jelinek, Martin Kušej, Birgit Minichmayr, Michael Maertens, Klaus Maria Brandauer, Andrea Breth, Karl Markovics, Michael Heltau, Branko Samarowski, Peter Simonischek, Erwin Steinhauer, Josef Hader, Cornelius Obonya, Wolfgang Ambros, EsRAP, Martin Grubinger, Heinz Fischer, Christoph Schönborn, Herbert Föttinger, Dirk Stermann und Christoph Grissemann, Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier, Stefanie Sargnagel, David Schalko, Clemens J. Setz, Ruth Beckermann, Arik Brauer, Ruth Brauer-Kvam, Adele Neuhauser, Robert Palfrader, Willi Resetarits, Sophie Rois, Manuel Rubey, Robert Stachel und Peter Hörmannseder, Werner Gruber, Gerhard Haderer, Christoph Krutzler, Paulus Manker, Ernst Molden, Katharina Strasser, Ursula Strauss, Oliver Welter und Armin Wolf. „Die Pest“-Marathonlesung wird einen Monat lang abrufbar sein.

Bild: pixabay.com

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1947 verfasst, schildert Camus den Verlauf der Pest in der algerischen Küstenstadt Oran aus Sicht seines Protagonisten Dr. Bernard Rieux, der sich jedoch erst am Ende des Romans als „Verfasser der Chronik“ zu erkennen gibt. Die Geschichte beginnt im Jahre „194…“. Einige tote Ratten und ein paar harmlose Fälle einer unbekannten Krankheit sind die Anfänge einer schrecklichen Epidemie, die die Stadt in den Ausnahmezustand bringt, die Bewohner von der Außenwelt abschottet und unter ihnen mehrere tausend Todesopfer fordert. Die Pest bedroht das Menschssein der Bevölkerung und wird so zum gemeinsamen Gegner. Jeder nimmt den schier ausweglosen Kampf gegen den Schwarzen Tod auf seine Weise in Angriff.

Rieux ringt als Arzt gleich einem Sisyphos mit der Krankheit und gerät darüber in Disput mit Pater Paneloux, der die Pest als Strafe Gottes deutet. Camus entwickelt dies alles als politische Allegorie, als existenzialistische Parabel. Er seziert hellsichtig das menschliche Handeln im Angesicht der Katastrophe und zeichnet dabei ein erstaunlich vergleichbares Bild der derzeitigen, einer „neuen Normalität“. Das Absurde bleibt dabei sein steter Begleiter. Unschuldige Kinder sterben genauso wie Menschen, die es „verdient hätten“, obwohl sich insgesamt das Prinzip erkennen lässt, dass die Pest bevorzugt solche ohne Solidarität tötet …

Nikolaus Habjan mit Berti Blockwardt. Bild: Screenshot/w24-Rabenhof Theater/Abgesagt?-Angesagt!

Auf www.w24.at zeigt das Rabenhof-TV-Studio unter dem Titel „Abgesagt? Angesagt!“ und moderiert von Manuel Rubey eine Auswahl aktuell gecancelter Produktionen – als Appetizer auf die Acts, sobald Performer und Publikum wieder live zusammen- kommen können. Die jüngste Folge mit unter anderem Nikolaus Habjans „Berti Blockwardt“, Marius Zernatto als „#Werther“ (mehr zu diesem großartigen Goethe-Konzept: www.mottingers-meinung.at/?p=24657), Poetry-Slammerin Yasmo und – abgesagt bei der Biennale, angesagt in Erdberg – Doris Uhlich mit dem „Pudertanz“: www.w24.at/Sendungen-A-Z/Abgesagt-Angesagt/Alle-Folgen?video=17879

www.rabenhoftheater.com           fm4.orf.at           www.w24.at

7. 4. 2020

„Maikäfer flieg“: Gerald Votava im Gespräch

März 4, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Annäherung auf Zehenspitzen

Gerald Votava mit "Feldwebel" Ivan Shvedoff Bild: © Oliver Oppitz

Trost für den Besatzer: Gerald Votava mit „Feldwebel“ Ivan Shvedoff
Bild: © Oliver Oppitz

Er ist der Eröffnungsfilm der Diagonale am 8. März und kommt am 11. März in die heimischen Kinos: „Maikäfer flieg“, entstanden nach dem autobiografischen Roman „Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich“ von Christine Nöstlinger. Filmemacherin Mirjam Unger hat die Erinnerungen der Autorin an eine Kindheit im Krieg gemeinsam mit Sandra Bohle für die Leinwand adaptiert. Zita Gaier spielt die junge Christl, Ursula Strauss die Mutter, Gerald Votava den Vater – und er besticht mit seiner „einfachen“ Darstellung eines offenbar sehr bemerkenswerten Mannes. Ein Gespräch über Christine Nöstlinger und ihren Vater Walter Göd, Brad Pitt am Set und die eigene Ehefrau als Regisseurin:

MM: Sie sind bei diesem Projekt der Vermittler zu Christine Nöstlinger. Wie kam’s?

Gerald Votava: Wir haben vor einiger Zeit im Rabenhof das Stück „Iba de gaunz oamen Leit“ gespielt und sie war bei der Premiere persönlich anwesend. Da haben wir einander kennen gelernt, geplaudert und ich war gleich verliebt. Mirjam war bei dieser Theaterproduktion natürlich am Rande dabei und hat dann das Maikäfer-Buch hervorgeholt. Die ganze Familie hat’s gelesen und für sehr verfilmungswürdig befunden. Ich habe Christine Nöstlinger angerufen und ihr das erzählt und sie meinte nur: „Des haben andere a schon probiert.“ Es gab offenbar schon zwei Versuche, beide gescheitert …

MM: Hat Frau Nöstlinger Ihren Film schon gesehen?

Votava: Ja, ich habe aber noch nicht mit ihr darüber gesprochen. Ich habe ein Interview gelesen, da sagt sie: „Er ist eh ned so schlecht.“ Das macht mich glücklich, das klingt nach einem Lob.

MM: Sie spielen im Film Christls Vater Walter Göd. Frau Nöstlinger dürfte zu ihm ein besonderes Verhältnis gehabt haben, er ist im Buchtitel ja auch direkt angesprochen. Welch eine Verantwortung diese Rolle zu gestalten!

Votava: Da nähert man sich auf Zehenspitzen! Ich bin viel bei Christine Nöstlinger gesessen und habe mir von ihm erzählen lassen. Und bald war klar, da wird eine große Veränderung notwendig sein, um diesem Erscheinungsbild nahe zu kommen. Der Mann war an der Russlandfront, wurde verletzt, kam ins Lazarett, ist daraus desertiert, weil er in Österreich bleiben und nicht nach Deutschland verlegt werden wollte … Das ist schon eine Lebensgeschichte. Christine schildert ihn davor als ziemlichen Feschak, dem im ganzen Bezirk die Frauen nachgeschaut haben. Dem allem wollte ich äußerlich gerecht werden. Technisch durch Ernährungsumstellung und Training. Dabei konnte ich auch gleich das Hungergefühl kennenlernen.

MM: Und „innerlich“? Was haben Sie da erfahren? Sie spielen ja einen sehr überlegten, abwartenden Mann, einen stillen Beobachter der Szenerie …

Votava: Christine Nöstlinger erzählt vor allem, dass er ein Papa war, der da war. Auch schon vor dem Krieg, Er hat bei seinen Kindern beispielsweise die Windeln gewechselt, das war für einen Mann dieser Generation sicher eine Besonderheit, Vaterschaft so zu verstehen. Das muss ein unglaublicher Mann gewesen sein. Mir kam außerdem zugute, dass ich auch beim Militär war, weil ich vor der Zivildienstkommission nicht bestanden habe, durfte ich beim Bundesheer in Baden lernen, wie man ein Geschütz bedient. Ich konnte mich also auch ganz gut da reindenken, in den kriegerischen Wahnsinn, in dem sich die Familie befindet.

MM: Es gibt eine ganz starke Szene. Da gehen einem russischen Feldwebel die Nerven durch und der Vater wiegt ihn in den Armen wie ein Kind, flüstert ihm beruhigende Sätze ins Ohr – und der Mann ergibt sich seinen Vorgesetzten. So rettet der Vater die brenzligste Situation im Film.

Votava: Und in der Realität. Er hat im Krieg russisch gelernt und das nützt er jetzt, um die Frauen und Kinder zu retten. Sie haben recht, er war wohl einer, der erst geschaut und dann reagiert hat. Alles, was meine Figur ist, die Definition dieser Rolle, kommt von Christine Nöstlinger. Ich habe sie sehr konkret nach Situationen gefragt und wie er da reagiert hat. Und so wie sie mir das erzählt hat: Der Mann hatte einen zynischen Humor, er hat viel gelesen, Hermann Hesse, was damals sehr ausgeflippt war, war Jazzliebhaber, …

MM: Weshalb im Film entweder Radio BBC läuft oder das Grammophon spielt.

Votava: … der war vorn, seiner Zeit voraus, in vielerlei Hinsicht. Ich hätte den sehr gerne kennengelernt. Der Vorteil für mich, einen Vater zu spielen, ist, dass ich der Figur relativ offen gegenübertreten konnte, weil ich ohne Vater aufgewachsen bin und auch nicht von Ersatzvaterfiguren umzingelt war. Ich komme aus einer sehr weiblichen Familie, dadurch hatte ich viel Platz zum Füllen.

MM: Sie sind nicht nur einer der Hauptdarsteller, Sie haben an der Produktion auch dramaturgisch mitgearbeitet?

Votava: Meine Funktion war sozusagen Rückmeldung. Ich habe die Buchfassung von Sandra Bohle und Mirjam Unger als erster gelesen und was dazu gesagt. Ich bin mit „Maikäfer flieg“ von Grund auf und in jeder Position beschäftigt gewesen und es ist ein großes Herzensprojekt.

MM: Wie ist arbeiten mit der Ehefrau als Regisseurin. Weil Sie vorher sagten „Hungergefühl“, hat sie Ihnen nichts zum Essen gegeben?

Votava: Mir geht’s mit Frauen prinzipiell sehr gut, weil ich ja ohne Männer aufgewachsen bin, bis auf den Opa. Mir ist es aber relativ wurscht, ob einer Mann oder Frau ist, ich schätze gute Arbeit und gute Menschen. Mir geht’s darum, dass man sich gemeinsam auf eine Vision einlässt. Da funktioniert die Zusammenarbeit mit Mirjam Unger natürlich sehr gut, weil wir einander lange kennen und sehr vertraut sind. Da ist „Wie spricht man miteinander?“ kein Thema, weil wir das eh täglich tun. Das ist schon super.

MM: Und der Hunger?

Votava: Ich weiß, jeder sagt mir, ich bin sehr schlank geworden und jetzt reicht’s. Ich wollte aber sowieso abnehmen, also kam mir das ganz recht. Als Schauspieler muss man bereit sein, in extremere Zustände zu gehen, und im Krieg hat’s nichts zu essen gegeben, also wollte ich hungern, um diesen Zustand nachvollziehen und spielen zu können. Das ist definitiv eine ganz wichtige Facette in einem Krieg und in unserem Film. Die Diät machen war für mich eine gute Erfahrung: Damit zurechtzukommen, wenn dieser Grant hochsteigt und man muss trotzdem freundlich bleiben. Walter Göd war sicher kein Mensch, der seine schlechte Laune an anderen ausgelassen oder geraunzt hat … Wer weiß, spiel‘ ich bald einen, für den ich zehn Kilo zunehmen muss, dann schau‘ ich wieder anders aus.

MM: Wie war’s mit den russischen Kollegen am Set? Mit Konstantin Khabensky als Cohn hatten Sie ja einen richtigen St. Petersburger Schauspielstar.

Votava: Der uns in jeder Drehpause von seinem guten Freund Brad Pitt erzählt hat. (Er lacht.) Das war lustig, am Set war’s sehr nett. Ich habe auch ein wenig russisch gelernt, auch Verständnis für die russische Seite des Krieges bekommen. Das war sehr interessant. Ivan Shvedoff, der Darsteller des Feldwebels, mit dem ich im Film die große Auseinandersetzung habe, ist am Abend oft mir mit zusammengesessen. Denis Burgazliev, der den Major spielt, ist dazu gekommen … Ich habe mich sehr gefreut, über diese Begegnungen. Man lernt sich kennen und verstehen – so muss es damals auch gewesen sein. Und dann natürlich Ursula Strauss, mit der ich immer wieder gern arbeite. Die hat wirklich was abgeliefert, halleluja!, es war eine große Freude ihr Filmgatte zu sein.

MM: Sie haben noch zwei Projekte am Start „Kater“ von Händl Klaus …

Votava: Ja, das ist eine gute Anekdote. Klaus hat mich angerufen: Die beiden Hauptdarsteller Lukas Turtur und Philipp Hochmair sind ja Mitglieder eines Orchesters, und da soll einer einen Witz erzählen, was wohl nicht geklappt hat. Also sollte ich das machen und aus dieser kleinen Szene ist dann meine Rolle Max entstanden. Ich bin einer im Umfeld dieser Beziehung, um die sich der Film dreht. Das waren auch schöne Dreharbeiten.

MM: … und „Hotel Rock’n’Roll.

Votava: Das rockt! Das ist ein Film von Michael Ostrowski und Helmut Köpping, bei dem Michael Glawogger noch am Drehbuch gearbeitet hat. Mit den üblichen Schauspielern Pia Hierzegger, Georg Friedrich, Detlev Buck, Hilde Dalik … Diesmal übernehmen wir ein total abgesandeltes Hotel. Ich freu‘ mich schon sehr, wenn der Film rauskommt.

MM: In meiner Wahrnehmung machen Sie seit einiger Zeit vermehrt Film. Ein Ausgleich zur One-Man-Bühnenshow?

Votava: Ich bin immer gern mit Menschen. Das ist für mich das höchste, wenn eine Gruppe zusammenkommt und gemeinsam was macht. Es hat beides was, aber die Filmarbeit hat etwas, wo ich das Gefühl habe, da bin ich jetzt richtig.

MM: Das heißt, auf einen Nachfolger von „Narzissmus und Tiere“ werden wir warten müssen?

Votava: Ja, schon noch … Ich steh‘ derweil mit der „Familie Lässig“ auf der Bühne. Aber Filme machen und bis ins kleinste Detail etwas zu erzählen und das dann auf der großen Leinwand sehen, das hat schon Magie.

MM: Welche Magie soll sich bei „Maikäfer flieg“ auf die Zuschauer übertragen? Sie verstehen, das ist die Frage nach der „Message“.

Votava: Ich finde es immer ganz gut, wenn ein Werk für sich steht, ich bin nicht so für Begleittexte. Die Themen im Film sind selbsterklärend, sehr heutig, leider – der Krieg, Fliehen und Verstecken müssen. Der Moment im Film ist ja der, an dem der Krieg vorbei ist und „wichtige“ Menschen in Konferenzen sitzen und die Welt unter sich aufteilen. Wie sehr das 2016 ist, muss ich, glaub‘ ich, nicht sagen. Der Film zeigt auch, wie sich Menschen in Extremsituationen drehen, wie die Windradln. Vor allem geht’s aber um die Christl, um ein Kind, das in einen Krieg hineingeboren ist und gar nichts anderes kennt. Und wie sie da durchgeht und agiert und nachher diese große Schriftstellerin wird: Wow!

maikaeferflieg.derfilm.at

Trailer: www.youtube.com/watch?v=ED0tLOZeGBk

Filmkritik : www.mottingers-meinung.at/?p=17909

Mehr zur Diagonale 2016: www.mottingers-meinung.at/?p=17827

Wien, 4. 3. 2016

„Maikäfer flieg“ ist der Eröffnungsfilm der Diagonale

März 1, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Nöstlinger-Autobiografie als Antikriegsfilm

Zita Gaier als Christine. Bild: © Oliver Oppitz

Zita Gaier als Christine. Bild: © Oliver Oppitz

Die Urgroßmutter hatte einst das Wesen der Menschheit in zwei Sätzen zusammengefasst. „Ma kann ned alle über an Kampl scheren“, hieß der für bessere Tage. „Depperte gibt’s überall“ der für schlechtere.

Miriam Unger hat Christine Nöstlingers großteils autobiografischen Roman „Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich“ aus dem Jahr 1973 verfilmt.

Was der Regisseurin gelungen ist, ist weit mehr als die Geschichte einer Kindheit im Jahr 1945. „Maikäfer flieg“ – am 8. März Eröffnungsfilm der Diagonale, ab 11. März in den Kinos – ist ein starker Antikriegsfilm. Er ist ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit, eine Aufforderung zur Zivilcourage und dieser Tage eine Erinnerung daran, dass jeder, egal woher er kommt, welcher Hautfarbe oder Religion er ist, das Recht auf ein Leben in Frieden hat. Er ist eine Liebeserklärung an die Heldin unserer frühsten Leseabenteuer, eine Erfahrung, die wir, erwachsen geworden, mit mehr Sinn für die Gerechtigkeitssätze dieser in dieser Frage unnachgiebig sturen und streitbaren Autorin wiederholen. Und er ist Erinnerung und Liebeserklärung an die eigene Urgroßmutter, die zwei Weltkriege gesehen hat. Sie war eine von denen, über die die Nöstlinger schreibt, ausgebombte Mutter von fünf Kindern, Mutterkreuzverweigerin, weder jüdisch noch nationalsozialistisch, daher weder den Tätern noch den Opfern zugerechnet, eine einfache Überlebende des Wahnsinns.

Zita Gaier spielt die neunjährige Christine. Es ist April, bald 8. Mai, die Rote Armee kündigt sich schon als Siegermacht in Wien an, und die Christl geht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Neuwaldegg, wo es sicher sein soll. In eine Villa, in der die Mutter geputzt hat, und deren Besitzerin samt Sohn auch bald vor der Tür steht, wie der aus dem deutschen Lazarett desertierte Vater – und die Russen. Einquartierung. Versorgung der Truppen. Doch die Befreier sind auch Zerstörer. Und die Konflikte mit einigen „angehauchten“ Neuwaldeggern vorprogrammiert. Das alles wird erzählt aus Christls Perspektive, und Zita Gaier ist ein Glücksfall für die Rolle. Sie verkörpert die perfekte Mischung aus nervig altklug und für ihre jungen Jahre überraschend weise. Die trotzige Naivität ihrer Christl, ihr Widerspruchsgeist und ihr Aufbegehren gegen alles, was ihr dumm und sinnlos erscheint, lässt schon die Nöstlinger dahinter erahnen. Sie ist unbeirrbar in ihrer Überzeugung, nein: dem Wissen, dass alle Leut‘ gleich sind. Also geht sie zum Schrecken der Mutter auch offen und ehrlich auf die sowjetischen Soldaten zu und freundet sich mit ihnen an. Vor allem mit dem vom russischen Filmstar Konstantin Khabensky gespielten jüdischen und daher sekkierten Koch Cohn. Auch in der Sowjetunion war der Antisemitismus Alltag.

„Maikäfer flieg“ wird von Frauen gemacht. Neben Miriam Unger waren Co-Drehbuchautorin Sandra Bohle, Kamerafrau Eva Testor, Ausstatterin Katharina Wöppermann, Kostümbildnerin Caterina Czepek, Musikerin Eva „Gustav“ Jantschitsch und für den Schnitt Niki Mossböck verantwortlich. Produziert hat Gabriele Kranzelbinder, der die Diagonale in der gleichnamigen neuen Programmreihe ein „Zur Person“ widmet. Punkto Budget habe man eine „für Frauen“ bis dahin gläserne Decke durchbrochen, sagt Regisseurin Unger. Doch nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera führen die Frauen. Bettina Mittendorfer ist als Villenbesitzerin Frau von Braun die Witwe eines Fliegerasses – „Ich hätte meinen Gatten auch gern versteckt, aber er hat das nicht gewollt“, kommentiert sie erschütternd schlicht die Anwesenheit von Christls Vater. Sie wird sich dem russischen Major ins Bett werfen, um ihren blonden Sohn, und blonde Buben sind bei den Russen ohne Ausnahme Hitlerjungen, zu schützen. Hilde Dalik spielt eine führerverehrende Nachbarin, Krista Stadler Christls Großmutter, der die Schrecken rund um sie allmählich den Verstand rauben, Paula Brunner die große Schwester, Lissy Pernthaler die Soldatin Ludmilla. Als sie erzählt, wie die Wehrmacht in ihrer Heimat gehaust hat, reicht’s der Mutter. „Na, des kann i ma nimmer anhören“, schreit sie und rennt aus dem Zimmer. Die Menschen brauchen Zeit, um zu begreifen, wie sehr die jahrelange Lüge ihr Denken bestimmt hat.

Ursula Strauss überzeugt als diese Mutter. Sie hat sich der Mentalität der Trümmerfrauen mit Sensibilität und viel Gespür für ihre Rolle angenähert und gibt nun eine von ihnen mit großer Wahrhaftigkeit wieder. Christls Mutter ist eine harte, eine vom Leben hart gemachte Frau, eine Resolte mit reschem Charme, und wenn sie mit den Russen schimpft, einer was retourmurmelt und sie sagt: „Ned deppert z’ruckreden“, dann muss man schon schmunzeln. In Miriam Ungers Film liegt die Tragi- ganz nah bei der -komödie, und es ist vor allem Ursula Strauss, die zeigt, was der Krieg für die Menschen dieser Generation irgendwann war: ein stechendes Hungerloch im Bauch, das man gelernt hatte zur Kenntnis zu nehmen. Der Strauss gehört auch einer der schönsten, berührenden Momente im Film. Die Kinder fladern im Haus des geflüchteten Forstrats eine Vorratsportion Rehragout. Und die unbeugsame Mutter bricht plötzlich in Tränen aus. Aus Freude und ob der Tatsache, dass der Nazi so eine Köstlichkeit überhaupt noch besaß. Später wird man dann beim Esstisch sitzen, der Vater ausnahmsweise im Sakko, die Frauen mit Blumen im Haar, das Grammophon spielt, die Kinder tanzen – und da springt die Mutter auf und räumt den Tisch ab. Nur nicht zu viel Freude, wer weiß, was noch alles kommen mag …

Eine bestechende Darstellung zeigt auch Gerald Votava als Christls Vater. Er spielt den Kriegsversehrten mit einer Reduziertheit, die ans Herz geht. Er ist ein stiller Beobachter der Szenerie, einer, der ja gehört hat, wohin Geplärre und große Worte führen. Trotz dieser Zurückgenommenheit ist Votavas Vater aber nicht resignativ, eher abwartend. Und er wird es auch sein, der im Moment größter Gefahr – beim betrunkenen Amoklauf des sadistischen russischen Feldwebels – die Wogen glätten wird. Christine Nöstlingers Vater muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein, von der Tochter im Romantitel ja auch geehrt, und Gerald Votava gelingt der schauspielerische Versuch, dem gerecht zu werden. Einmal ein Temperamentsausbruch: „Ihr wisst’s ja gar nicht, wie des war“, herrscht er die Frauen im Haushalt an, als ihm vorgeworfen wird, auch nur eines dieser kriegerischen Mannsbilder zu sein. Er säuft zum Wohle seiner Familie Wodka bis zum Umfallen, repariert Uhren und enttarnt sich als Russlandfeldzugteilnehmer, als er den Feldwebel in dessen Muttersprache besänftigt. „Kochentuberulose, ja?“, lacht der Major wegen der Rettung der Situation und der Lüge übers von Granatsplittern aufgerissene Bein und hält dem Vater die Flasche hin. Votava grinst, trinkt, schweigt und sein beredtes Schweigen ist glänzend.

Christine Nöstlinger wird im Oktober 80 Jahre alt. Und angesichts der frischen Fernsehbilder fällt es nicht schwer, sich eine Kindheit in Kriegstrümmern vorzustellen. Die Nöstlinger schreibt von den Träumen einer Kinderseele und vom Familientrauma und wie möglich ein Miteinander wird, wenn man an das Gute in den Menschen glaubt. Sie schreibt, dass man nicht alle über einen Kamm scheren kann, weil es überall Depperte und Nichtdepperte gibt. Miriam Ungers Film hat das perfekt eingefangen. „Maikäfer flieg“ ist zum Lachen und zum Weinen und vor allem zum Weiterdenken. 2016 wenn möglich weiter, als bis vor die eigene Haustür.

maikaeferflieg.derfilm.at

Trailer: www.youtube.com/watch?v=ED0tLOZeGBk

Gerald Votava im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=18019

Mehr zur Diagonale 2016: www.mottingers-meinung.at/?p=17827

Wien, 1. 3. 2016

Altes Geld

November 3, 2015 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Frei von der Leber weg? Es war fad.

Manuel Rubey als Jakob Rauchensteiner Bild: ORF/Superfilm

Ein finsterer Geselle als Lichtblick: Manuel Rubey als Jakob Rauchensteiner
Bild: ORF/Superfilm

Im anschließenden Kulturmontag kam ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner das Wort Überhöhung über die zugespitzten Lippen. Ja, wenn’s denn so … Wochenbeginn war’s und „Altes Geld“ war und bin ich böse, weil mir das Herzerl nicht übergegangen ist? Frei von der Leber weg: Es war fad.

Nun ist es natürlich ein guter Schmäh, vor der Fernsehausstrahlung die DVDs rauszubringen, die freilich Platin holen, weil die Leute schneller sein wollen als der Küniglberg sein kann, und David Schalko kaufen, wenn David Schalko draufsteht. Nun ist es der noch viel bessere Schmäh, auf stattgefundenen Flimmit-VoD-Erfolgen rumzureiten, also quasi im Öffentlich-Rechtlichen einen aufgewärmten Schas zu trommeln, den sich die letzten, also ich, die’s noch nicht gesehen haben, anschauen, weil die Zuschauer ob des bisherigen Hypes David Schalko sehen wollen, wo David Schalko drin ist. Die Leber galt, nur so nebenbei, den alten Griechen als Sitz des Lebens; heute gilt als verstorben, wer hirntot ist. Man spricht dann auch von „coma dépassé“, einem irreversiblen Koma.

Apropos, „Altes Geld“. Das ist sehr langsam und ziemlich leise. Vermutlich, weil der Zynismus selten schnell und nie laut ist. Bis sich was entwickelt, und es entwickelt sich kaum was, und das in Nichtlustig, weil bei keinem Tempo auch keine, so sie vorhanden gewesen wären, Pointen zünden können, kann man getrost drei Mal Limonade holen und vier Mal Lulu gehen. Oder je nach Blase umgekehrt. Die Lücke der dafür privat zuständigen, beim ORF fehlenden Werbepausen ist somit praktisch gefüllt. Es gibt viele Stehsätze. „Es gibt keine Pazifisten, nur Menschen ohne Waffen“. „Ich will nicht deinen Tod, ich wünschte es hätte dich nie gegeben“. „Humanismus ist, was übrigbleibt, wenn Effizienz weg fällt“. Vastehst, Oida? Pampf! Irgendwo kränzelte einer den Lorbeer „Altes Geld“ sei der heimische Denver-Clan, und wiewohl der schon eine Fernsehflatulenz, ich komm‘ einfach nicht von heißer Luft und Wind machen los – bitte um Verzeihung, war, ist „Altes Geld“ doch eher Rosamunde-Pilcher-Dynasty. Fallon und Jeff verlassen die Party und gehen mit der Kippe in den Garten an der Klippe. Fallon beginnt den Joint zu rauchen.  Jeff: „Das ist ja Stoff, Fallon.“ Fallon:“Da hast du recht.“ Jeff: „Was ist, wenn uns jemand sieht?“ Fallon:“Keine Sorge, ich habe genug, das reicht für alle.“ So viel zu Serien – high – light.

Zurück zu „Geld. Macht. Liebe.“ Das topbesetzte Schauspielerensemble agiert als die typischen Stereo-Typen. Udo Kier, sprachlos hinter Sonnenbrillen, teilt sich den einen irren Blick brüderlich mit Robert Palfrader, der als Psychopath auftritt. Ebenso überraschend der Einsatz von Nicholas Ofczarek als Arsch vom Dienst und von Thomas Stipsits als Hoperdatsch. Herbert Föttinger ist ein versoffener, süffisanter Bürgermeister, Simon Schwarz ein geschmeidiger Grüner. Immerhin zukunftsvisionärrisch sah Schalko das Gesundheitsressort schon wie Nieren wandern. Es kann aber statt Verkehr auch Bildung werden. Johannes Krisch, Florian Teichtmeister, Cornelius Obonya und Ursula Strauss spielen außerdem mit. Michael Maertens gibt einen Dr. Seltsam. „Hier bringt sich erstaunlicherweise niemand um“ ist ein Serienzitat. Sunnyi Melles spielt die upperclassig Unterkühlte und Nora von Waldstätten kann punkto Gesichtsfarbe sogar noch blasser sein als sie.

Nur Manuel Rubey erfindet sich mit blonder Perücke beißend neu, als Apfel, der dann doch nicht so weit vom Stamm gefallen ist, ein raubtiergefährlich Schimmernder unter aalglatter Oberfläche; er ist auf den ersten Licht-Blick nur an der Stimme identifizierbar. Ah ja, Dr. Seltsam: Worum geht’s? Der Kier hat Geld und braucht eine neue Leber und wird sein Vermögen dem vererben, der ihm eine bringt. Der Kier ist Nazi-Bub mit Führerfahrzeug im Fuhrpark und jüdischer Schwester am Telefon, sein Vater passender Weise mit Gas, für den Entweichler kann ich aber nix, reich geworden. Außerdem gibt’s Ost-Ganoven, Afrika und Analverkehr und eine Kampfszene in Peckinpah-Zeitlupe. Untertourig fast voll aufs Pedal steigen soll angeblich Sprit sparen.

Was gefällt, außer dem Dark-Duck-Club und seinem Codesatz „Hedy Lamarr ist eine geile Sau“, ist dieses Wien und Umgebung ohne Wiedererkennungswert, dieses nirgendwo überall in seinen kalten Farben, das seine Schattenspiele auf den Gesichtern aufführt, die unkonventionellen Kameraperspektiven, die schiefen Winkel und die schrägen Einstellungen. Es kann nur besser werden. Wöchentliche Ausstrahlung heißt ja, dass man sich an alles gewöhnt. Nach den ersten beiden Folgen gilt für das als „auf eine krude Art lustvoll“ angepriesene, aber noch: Eh, für die Masochisten unter den Serientätern.

Zum Nachjammern: tvthek.orf.at/program/Altes-Geld/10856047/Altes-Geld-1-Folge-Buschtrommeln/10892981

tvthek.orf.at/program/Altes-Geld/10856047/Altes-Geld-2-Folge-Alpha/10893003

Wien, 3. 11. 2015

Ursula Strauss lädt zum Festival „Wachau in Echtzeit“

Oktober 14, 2015 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Programmtipps von Nosferatu bis Marlene Dietrich

Ursula Strauss und Alexander Hauer bei der Programmpräsentation auf der Ruine Aggstein Bild: www.photo-graphic-art.at

Ursula Strauss und Alexander Hauer bei der Programmpräsentation auf der Ruine Aggstein
Bild: www.photo-graphic-art.at

Am 30. Oktober beginnt das Festival „Wachau in Echtzeit“. Intendantin Ursula Strauss hat bereits zum vierten Mal ein anspruchsvolles Programm für die stille Zeit in der sonst von Touristen gefluteten Region zusammengestellt. An wunderbaren und wundersamen Aufführungsorten wie der Ruine Aggstein, dem Schloss Spitz und dem Stift Dürnstein, der Römerhalle in Mautern und der Kremser Minoritenkirche werden Musik, Film und Schauspiel geboten.

Drei Tipps:

Am 7. November begreifen Anton Fian und das Kollegium Kalksburg auf der MS Austria „Man kann nicht alles wissen“. Jetzt ist es ja auch schon wieder bald einige Jährchen her, dass der Herr Fian begonnen hat, mit dem WienerliedDinglDanglTrio zusammenzuarbeiten; auch wenn diese die längste Zeit mit dem Begriff „zusammen“ und vor allem „Arbeit“ immer ihre profane Not hatten, so kann das Publikum an diesem Abend die Früchte des nicht immer gerechten, aber fast immer gerechtfertigten Fianschen Zorns ernten und schön schauen was dabei herauskommt. Nämlich Dramolette, Donauschifffahrt und Dinner inmitten der Wachauer Weinberge.

Am 13. November stellen August Zirner und das Spardosen-Terzett in Stift Dürnstein die „Diagnose: Jazz“. Zirner brilliert als fulminanter Musiker und Erzähler. Er lässt in Wort und Musik die drei großen Jazz-Legenden Thelonious Monk, Charles Mingus und Rahsaan Roland Kirk wiederauferstehen. Mit seiner wunderbar sonoren Stimme erzählt er komische, sehr poetische und manchmal tieftraurige Geschichten von drei Ausnahmemusikern. Drei Leben, die in den USA der 1950er Jahre wie bizarre Fremdkörper wirkten. In wunderschönen Interpretationen würdigen Zirner an der Querflöte und das Spardosen-Terzett an Flügel, Kontrabass und Schlagzeug deren musikalisches Werk.

Am 28. November erzählt Ursula Straus im Klangraum Krems Minoritenkirchen von „Marlene“. Sie liest Auszüge aus Maria Rivas Buch „Meine Mutter Marlene“. Die Biographie der Dietrich-Tochter über ihre Mutter gewährt einen umfassenden Einblick in das an beruflichen wie amourösen Abenteuern reiche Leben der Leinwandgöttin. Das Duo BartolomeyBittmann gibt sich derweil dem Groove hin und bringt das klassische Instrumentarium Cello, Geige und Mandola auf einen neuen Weg. Strauss tritt als Erzählerin und Sängerin auf und stellt damit einmal mehr die Bandbreite ihres Könnens unter Beweis.

Ihren liebsten Programmpunkt hat Intendantin Strauss schon bei der Programmpräsentation auf der Ruine Aggstein klar gemacht: Als erste diesjährige Aufführung präsentiert das live improvisierende Ensemble „Divine Musical Bureau“ am 30. Oktober auf der Ruine Aggstein den Stummfilmklassiker „Nosferatu“ von Friedrich Murnau. Hermann Niklas, auch bekannt durch seine experimentellen Literatur-Konzerte mit „Schalldicht“, ergänzt diese Darbietung mit Rezitationen. Strauss: „Letztes Jahr durfte ich gemeinsam mit dem ,Divine Musical Bureau‘ die Passionsgeschichte der Jean d’Arc erzählen. Heuer freue ich mich auf ,Nosferatu‘ und die musikalische Interpretation dieses Kultfilmes. Ich mag Vampire, ich fürchte sie und finde sie gleichermaßen betörend geheimnisvoll. Solch ein Geheimnis liegt auch in der Musik des ,Divine Musical Bureau‘. Sie entsteht im Moment durch den Moment und durch die wunderbaren Musiker, die sich auf das Hier und Jetzt einlassen. Ein absolut sehens- und erlebenswerter Abend“.

www.wachauinechtzeit.at

Wien, 14. 10. 2015