VON MICHAELA MOTTINGER
Er dramatisiert Heimito von Doderers „Dämonen“

Nicolaus Hagg: Bild: Sepp Gallauer
Der Schauspieler und Autor Nicolaus Hagg hat für die Festspiele Reichenau eine Bühnenfassung von Heimito von Doderers Hauptwerk „Die Dämonen“ erarbeitet. Nach der „Strudlhofstiege“ 2009 oder „Anna Karenina“ 2012 ist dies eine weitere Dramatisierung aus seiner Hand. Doderers eng an die „Strudlhofstiege“ anschließender Roman erzählt aus den Jahren 1926/27 in Wien und von einer Clique, den „Unsrigen“, einer besseren Gesellschaft, und ihrem irren Beziehungsgeflecht.
Unter den unzähligen Intrigen die ausladendste, ist die der Charlotte von Schlaggenberg, genannt „Quapp“, die als ungefähr letzte erfährt, dass sie Erbin eines Millionenvermögens ist, das ihr beinahe unterschlagen worden wäre. Das alles wird als Rückblick geschildert, ein Sektionsrat Geyrenhoff erinnert sich in den 1950er-Jahren in einer Chronik an die Geschehnisse. „Doderers Dämonen“ wird am 4. Juli bei den Festspielen Reichenau uraufgeführt. Es inszeniert Hermann Beil. Es spielen Joseph Lorenz den Geyrenhoff, sowie unter anderem Julia Stemberger, Johanna Arrouas, André Pohl, Peter Matić, Rainer Frieb, Thomas Kamper, Sascha Oskar Weis und David Oberkogler. Nicolaus Hagg im Gespräch:
MM: Sie haben die Romandramatisierungen bei den Festspielen Reichenau zu einer eigenen Kunstform erhoben. Was ist der Reiz daran?
Nicolaus Hagg: Diese Romane selbst. Sich in diese Themen und in die Vielfältigkeit der Figuren hineinzutigern. Man hält sich nicht damit auf, eigene Handlungsstränge zu erfinden, sondern man kann sich direkt auf einen Dialog werfen. Man kann sich auf die Reduktion konzentrieren, die die Bühne braucht, ohne sich einen Kopf machen zu müssen, wie es dann weitergeht. Sich im Detail verlieren zu können, das ist der große Reiz daran. Ich erlebe bei diesen Dramatisierungen die Literatur noch einmal intensiver. Ich habe Doderer schon als Pubertierender gelesen und hab‘ mir das alles damals sehr filmisch vorgestellt, nun stelle ich es mir theatralisch vor.
MM: Nun werden Romandramatisierungen von manchen Theaterschaffenden als Modeerscheinung betrachtet. Andererseits sagte kürzlich ein Intendant und Regisseur, er greife zu großen Romanen, weil es zu wenige gute neue Stücke gibt. Wie denken Sie darüber?
Hagg: Ich mache diese Arbeit noch gar nicht so lange, dass ich mich nicht auch als Teil der „Modeerscheinung“ begreifen müsste. Bei Intendanten herrscht halt auch der Glaube, besser ein bekannter Buchtitel als ein ungekanntes Stück. Ich weiß nicht, ob das konkurrieren muss. Es gibt gute neue Stücke und gute Romandramatisierungen. Natürlich gibt es da einen gewissen Wildwuchs, ich habe diesbezüglich Aufträge auch schon zurückgelegt, weil ich das vorgeschlagene Buch für nicht dramatisierbar hielt. Das wird schließlich trotzdem gemacht, funktioniert aber auf einer Bühne nicht, wie ich meine. Dann gibt es unglaublich monströse Bücher, wie die „Dämonen“ von Doderer, wo’s geht. Man kann ihn wie einen Hollywoodfilmautor begreifen, und wenn man auf eines seiner Bücher mit Lust hingreift, wird daraus ein eigenes Stück.
MM: Hollywood, weil er so monumental entwirft?
Hagg: Ja, die Romane sind wie Treatments zu Monumentalschinken. „Die Strudlhofstiege“ oder „Die Dämonen“, dies auch ein Hinweis an den Österreichischen Rundfunk, gehören nicht als Hörspiel ins Radio, sondern als Serie ins Fernsehen. Das ist ein riesiges Stück österreichischer Geschichte, von der wir weit davon entfernt sind, sie aufgearbeitet zu haben. Wie sich dieser Tage politisch zeigt. Das sind Sechzigteiler, da könnte ich ein einheimisches „Downton Abbey“ draus basteln.
MM: Apropos, politisch: Ist Doderer diesbezüglich eine schwierige Liebe? Wie steht es mit den „Dämonen“, die ihn gejagt haben?
Hagg: Für mich ist es keine schwierige Liebe. Das ist schließlich Weltliteratur. Außerdem lache ich zwei, drei Mal pro Seite laut auf, ich finde Formulierungen, die sind so unglaublich toll, das ist schon herrlich. Ich habe für Reichenau ja schon „Die Strudlhofstiege“ gemacht, aber „Die Dämonen“ liest man vier, fünf Mal, und jedes Mal ist es ein anderes Buch. Das ist mir noch nie passiert. Doderer verändert die Menschen, die ihn lesen, er verändert ihre Horizonte. Der Buchhändler in Gloggnitz hat 2009 so viele Exemplare der „Strudlhofstiege“ verkauft, dass ihn der Verlag gefragt hat, ob er damit heizt. Ich hoffe, dass uns nun etwas Ähnliches gelingt. Die bewusstseinserweiternde Droge Doderer sollte man mehr unter die Leute werfen.
MM: Was nun keine wirkliche Antwort auf meine Frage war: Doderer hat „Die Dämonen“ um heikle Passagen erleichtert. Alles, wo’s um „die Reinheit des Blutes“ geht hat er beispielsweise nachträglich gestrichen. Ich habe Rezensionen von 1957 bis 2012 gelesen, es ist interessant, dass ausgerechnet bei diesem Autor die NSDAP-Mitgliedschaft vergeben und vergessen scheint …
Hagg: Er hat Stellen getilgt, ja, heute werden ganze Bücher umgeschrieben, aber nicht von den Autoren, sondern von den Verlagen, weil böse, nicht mehr opportune Worte drinnen vorkommen. Doderer ist 1933 in die NSDAP eingetreten, um überhaupt einmal ein Buch zu verkaufen, 1941 aber wieder ausgetreten. 1941 war das Jahr mit den meisten Eintritten in die NSDAP. Da war der Frankreichfeldzug gewonnen, da war der Hitler-Stalin-Pakt beschlossen, Hitler war ein Superstar, ein unverwundbarer Siegfried der deutschen Geschichte – und Doderer dreht sich um und geht. Da traut sich einer aus dem Verein auszusteigen! Gegen den habe ich politisch nichts. Aus einem sehr nationalen Umfeld kommend, seine Schwester war eine Nazi bis zum Tod, war er nicht einmal ein politisch Suchender. Ich glaube, wir haben genug damit zu tun, uns die Täter dieser Zeit anzuschauen. Wenn wir auch noch die Opportunisten unter die Lupe nehmen, werden wir nie fertig. Vielleicht sollten wir, die glauben, die Vergangenheit zu kennen und aus ihr gelernt zu haben, nicht im Blick zurück verharren. Wir sollten uns die Täter von heute anschauen. Die Täter, die munter und in Scharen durch die blaue Vordertür hereinkommen, während wir immer noch beim braunen Hintertürl hinausschauen.
MM: Doderer hat aus seiner Vergangenheit auch nie ein Hehl gemacht.
Hagg: Ich denke, sein Werk spricht für sich. In den „Dämonen“ ist das große Fanal die Schüsse von Schattendorf und das darauffolgende Urteil und mit ihm einhergehend der Brand des Justizpalastes und seine zig Toten. Wo die junge, die jungfräuliche Republik auf die eigenen Leute hat schießen lassen. Das war der Anfang vom Ende der ersten Republik. Das heißt, dass unsere Schuld am Tod, am Mord der Republik viel früher beginnt, als die Ausrede des Austrofaschismus und vor allem des Anschlusses, die Ausrede, erst ein von der Dollfuß-Nummer, dann von Hitler überfallenes Land gewesen zu sein, zulassen. Da ist Doderer g’scheiter als andere. Die Kleingeistigkeit der Bevölkerung und der Parteipolitik, die er in ganz vielen Zeilen aufzeigt, auch in den „Wasserfällen von Slunj“, die zerstört das Große. Er, mit dem Blick aufs Große, kann das erkennen. Das ist die wichtige historische Information aus diesem Werk. Und die ist doch sehr früh hingeschrieben dafür, dass man es in Österreich immer noch nicht zur Kenntnis genommen hat.
MM: Kann das kein Zufall sein, dass man in Zeiten wie diesen einen Roman wie diesen in die Hand nimmt?
Hagg: Natürlich. Den Loidolts und mir war nach der „Strudlhofstiege“ immer klar, dass wir auch „Die Dämonen“ machen wollen. Vor eineinhalb Jahren hatten wir das Gefühl, da beginnt etwas sich loszutreten, in Ungarn, aber auch bei uns, an Geschichtsverdrängung, an Radikalisierung, an Lagerbildung, sodass wir sagen: So, jetzt. Wobei mir immer noch leid ist, dass wir „Die Dämonen“, die ja zwei durch den Donaukanal getrennte Romane sind, nicht in der Fülle zeigen können, sondern uns auf den 9. Bezirk beschränken. Das hat vielleicht auch mit einer Reichenau-Tradition zu tun, aber auf die Brigittenau mit ihren noch einmal 30, 40 Figuren, haben wir bei dieser Dramatisierung verzichtet.

„Doderers Dämonen“ mit Julia Stemberger, Peter Matic, Joseph Lorenz, Johanna Arrouas und David Oberkogler. Bild: Festspiele Reichenau
MM: Womit Sie meine nächste Frage schon ansprechen: „Die Unsrigen“ flechten unzählige wilde Intrigenstränge. Was haben Sie daraus gefiltert? Welche Geschichte aus dem Konvolut an Geschichten erzählen Sie uns?
Hagg: In erster Linie die Geschichte der Charlotte von Schlaggenberg. Die „Quapp“-Geschichte ist der dramaturgische rote Faden. Dazu die drei Männer: Geyrenhoff, als Chronist eigentlich die langweiligste, oder besser gesagt: schwierigste Figur, weil er so untheatralisch ist, aber an ihm interessiert mich sein Kriegstrauma. Schlaggenberg und die Fantasie der „Dicken Damen“, die ich sehr ernst genommen habe als große Sehnsucht nach einer Mütterlichkeit. Und Stangeler, der ebenfalls mit versehrter Seele aus dem Krieg zurückkommt. Bei den beiden anderen Männern lässt Doderer es nur erahnen, sie haben im Roman nur kurz Platz, darüber zu sprechen, aber bei Stangeler ist das Trauma sein Grundmotiv. Und es wird von außen überwunden werden – durch eine großartige Frau, die an ihn glaubt. Er kathartisiert sich im Roman über 60 Seiten. Dafür, glaube ich, ist der ganze Roman geschrieben. Darin liegt Doderers ganze erruptive Gestaltungskraft.
MM: Die sich aus seinem eigenen Kriegstrauma speist?
Hagg: Er war jung im Ersten Weltkrieg, dann in Sibirien in russischer Kriegsgefangenschaft, hat grauenhafte Dinge erlebt, und ist zu Fuß von dort nach Haus gegangen. Er hat jahrelang nichts anderes gesehen, als den Tod. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Sein Werk liest sich wie eine Fortsetzung dieser Erlebnisse.
MM: Sie haben in der „Strudlhofstiege“ den Stangeler noch selbst gespielt. Jetzt nicht?
Hagg: Nein. Es hat Vor- und Nachteile im eigenen Stück zu spielen. Damals, mit Maria Happel als Regisseurin, ging das gut. Die hatte so irre Ideen, dass sie mich völlig vergessen ließ, dass der Text einmal von mir war, weil ohnedies was ganz anderes daraus entstanden ist. Diesmal wollte ich nicht dabei sein, weil mir der Text zu nahe ist. David Oberkogler ist mein „Nachfolger“ als Stangeler … Er wird das besser machen, als ich es gekonnt hätte. Ich habe ehrlich gesagt schon beim Schreiben an ihn gedacht, weil er diese verzweifelte Streitlust, diesen akademischen Wissendurst, die Wut des Stangeler, aber auch seine Weichheit, seine Tiefe sehr repräsentiert. Da gibt es Sätze … die stehen schon dort, weil ich gewusst habe, dass sie der Oberkogler sprechen wird, die könnte ich gar nicht sagen.
MM: Das klingt, als ob Sie in Produktionsfragen gefragt sind?
Hagg: Das klingt nach einer Liebeserklärung an David Oberkogler. Aber, ja, natürlich spricht man über Besetzungen. Und wenn alles erst im Entstehen ist, ich aber schon weiß, wohin eine Figur geht, ist es gut, ein Gesicht dazu zu haben. Ansonsten gehe ich nicht einmal auf Leseproben. Ich rauche nicht mehr. Was soll ich tun, wenn ich mich aufrege? (Er lacht.)
MM: Können Sie also gut Kindsweglegung betreiben? Manchen Dramatikern muss man die Stücke ja beinah aus den Händen stemmen.
Hagg: Ja! Ich habe wirklich schon nervöse Ausschläge bekommen, wenn ich ein Stück abgegeben habe. Diesmal habe ich gesagt, ich kann nicht dabei sein, weil ich ein echtes kleines Kind habe. Ich hatte mit Regisseur Hermann Beil davor sehr schöne Gespräche, bei ihm wird alles in besten Händen sein. Außerdem bin ich selber in recht intensiven Proben.
MM: Sie selber spielen in Nestroys „Liebesgeschichten und Heiratssachen“. Es inszeniert Helmut Wiesner, Sie sind …
Hagg: … der Wirt. Wir proben seit Mitte Mai, mit einem toll vorbereiteten Miguel Herz-Kestranek als Nebel, der vorne am Bug steht und weit daher leuchtet. Marcello de Nardo, frisch aus den USA zurück, wo er das Theater, glaube ich, sehr vermisst hat, spielt mit viel Elan den Marchese Vincelli. Ich selber stehe am dritten Mast und schau‘, dass ich auch einmal ein Segel aufziehe. Der Wirt ist eine hübsche kleine Rolle, ich hoffe, dass es gut wird.
MM: Abgesehen davon, dass es kleine Rollen ja nicht gibt, haben Sie also beschlossen den Reichenau-Aufenthalt diesmal zur Sommerfrische zu nutzen, und das schwere Gepäck bei anderen abzustellen?
Hagg: Ich hoffe, dass das schwere Gepäck auch leicht daherkommen wird. Denn auch „Die Dämonen“ haben etwas Komödienhaftes. Soweit Komödie in Österreich überhaupt entstehen kann. Wir haben mehr Talent für die politische Posse, für die Satire, für die Lyrik. Obwohl: Es gibt auch einen Thomas Bernhard der immer Komödien geschrieben hat. Oder Wolfgang Bauer, in dessen „Magic Afternoon“ beispielsweise sich tatsächlich die Gesellschaft spiegelt, obwohl es komödienhaft daher kommt. Aber sonst sind wir mit Komödien nicht sehr gesegnet. Aber wir haben eine große Erzählertradition in Österreich. Joseph Roth würde ich furchtbar gern machen, oder Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ noch einmal dramatisieren, auch Doderers „Die Wasserfälle von Slunj“. Und vielleicht einen eigenen Prosatext schreiben, einmal – oder bald. Aber in Reichenau, da haben Sie schon recht, ist Sommer angesagt. Wir wohnen dort seit sieben Jahren an einem märchenhaften Platz, in einem alten großen Haus aus der Zeit um 1800. Unten fließt die Schwarza vorbei, da gehe ich mit meinen Söhnen Wasserrutschen auf Autoreifen. Es gibt Momente, an denen ich mich tatsächlich im Jänner schon nach Reichenau träume und sehne.

Nicolaus Hagg in der Volksopern-Erfolgsproduktion „Der Kongress tanzt“: Als Finanzminister mit „Fürstin“ Regula Rosin. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien
MM: Und danach der eigene Roman. Wollen Sie sich aufs Schreiben fokussieren? Was sind Ihre nächsten Pläne?
Hagg: Was Reichenau betrifft, bereiten wir schon etwas Neues für 2018 vor. Ich kann nichts verraten, nur so viel: Die Festspiele wollen sich in der Zeit weiter vorwärts bewegen und mit den Stücken näher an das Jahr 1938 heranrücken, was mir sehr entgegenkommt, weil das eine Welt ist, die ich schreibend nun gut kennengelernt habe. Dann bin ich ja an der Volksoper engagiert, spiele wieder „Anatevka“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=19898), „The Sound of Music“ und „Der Kongress tanzt“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=17709). Für diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar, weil ich das Haus sehr liebe, weil das Klima rund um Robert Meyer toll ist, und weil ich ein bisserl auf dem Bankerl sitzen und die Aussicht genießen kann. Ich habe ein heimatliches Gefühl, wenn ich an die Volksoper denke, ich verbinde mit ihr ja auch eine persönliche Liebe. Aber die Schreiberei ist schon eine große Sehnsucht. Da möchte ich schon noch so manches erzählen. Egal in welcher Form. Ich bin in einem Alter, wo ich das eine noch nicht loslassen kann und das andere nicht mehr missen möchte. Die fixe Verpflichtung an der Volksoper ermöglicht mir, innezuhalten und nachzuschauen, wohin der Weg mich führen wird. Also, ein eigener längerer Prosatext, ja, mal schauen … Allerdings ist dann die Gefahr, dass einer daherkommt und ihn dramatisiert. (Er lacht.)
www.festspiele-reichenau.com
Wien, 24. 5. 2016