Theater zum Fürchten: Höllenangst

Januar 11, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zeitlebens im Joch der Lohnarbeit

Dies großartige Vater-Sohn-Gespann landet auf dem Weg nach Rom natürlich im nächsten Wirtshaus: Philipp Stix und Bernie Feit als Wendelin und Schuster Pfrim. Bild: Bettina Frenzel

In der verpflichtend vorgeschriebenen Zeitstrophe geht es diesmal allerdings darum, was die an Anspielungen alles nicht beinhalten muss, Rattenlyrik, Liederbuch, Ibiza, andere Einzelfälle, damit ein Theater „Haltung“ beweist. Und dann lässt Bruno Max kurz vor Schluss Peter Fuchs als Staatssekretär auftreten. Ein Publikumslachkrampf, gleicht der Schauspieler doch konstitutionstypisch, von Augenglas bis arrogantem Grinsen, jenem Ex-

Innenminister und Polizeipferdefreund, der erst gestern wieder im Nationalrat eine seiner Attacken ritt, – und ordnet auch noch eine diskrete Hausdurchsuchung beim Oberrichter an. Gestern also ging’s nicht nur in der Politik um Metternich, totale Macht und faule Kompromissler, das Theater zum Fürchten zeigte zum 25-Jahr-Jubiläum seines Bespielens der Scala die Wien-Premiere von „Höllenangst“. Der Prinzipal höchstselbst hat die Nestroy-Posse inszeniert und gemeinsam mit Marcus Ganser den Raum geschaffen, in dem das bewährte TzF-Ensemble nun agiert. Klar, kann’s bei Bruno Max beim höllischen Spaß nicht bleiben. Er macht die Komödie zur First Class Farce über Proletariat, Prekariat, Neopauperismus, dies wohl ganz im Sinne des Autors.

Jedoch versteht er es auch, dessen Charakteren etwas Karikaturhaftes anzuhaften. Anno 2020 und angesichts der verschwurbelten Handlung ist die Persiflage ein überaus legitimer Ansatz, das von den Zeitgenossen wegen zu viel Spiegelvorhaltung verhasste Nachmärz-Stück, das nach 100-jährigem Dornröschenschlaf 1948 in der Scala Wien – anderer Ort, ähnliche Progressivität – von Karl Paryla zu neuem Leben erweckt wurde, dem Bruno Max nun zwischen tragikomischer Schicksalsergebenheit und vollmundigem „Meuterei!“-Geschrei einen aktuellen Rock anlegt. Im Sinne von modern, aber nicht modisch zeigt er, wie die Freiheit ein paar Freiheiterln geopfert wird, das Volk längst nicht mehr in der Verfassung, die Einhaltung derselben zu fordern.

Johanna Rehm und Philipp Stix. Bild: Bettina Frenzel

Matthias Tuzar und Magdalena Hammer. Bild: Bettina Frenzel

Peter Fuchs und Leopold Selinger. Bild: Bettina Frenzel

Dort, wo bei Nestroy ein vermeintlicher Satanspakt die gesellschaftlichen Ketten bricht, ist beim TzF ein rahmendes Bild zu sehen. Am Anfang wie Ende stecken die Menschen tief im schwarzen Loch der Fabrik, erst Arbeitssklaven der ausbeuterischen „Strombergs gute Schuhe“-Firma, schließlich vom nunmehr Kapitalisten Reichthal – mit zwar amikalem Schulterklopfen – zurück ins Fließband-Joch der Lohnarbeit gedrückt. Mehr Brechtisches braucht Bruno Max nicht, die Verhältnisse, sie sind schon so, die grundschlechten Leut‘ schikanieren die armen Teufel und armen Narren – zwei davon Vater und Sohn Pfrim, Bernie Feit als permanent ang’flaschelter Flickschuster und Philipp Stix als mit seinen Dämonen ringender, von sich selbst gestellten Wünschen und Forderungen getriebener Wendelin.

Die beiden Darsteller in dieser supersympathischen, sehr amüsanten Aufführung die komödiantischen primi inter pares, vor allem Feit macht aus der Rolle ein versoffen-philosophisches Kabinettstück, das muss erst einmal einer bringen, wieder und wieder durch die Tür zu torkeln, und immer noch ist es lustig. Die TzF-„Höllenangst“ fährt ein ebensolches Tempo, gespielt wird zwischen Sarkasmus, Stunt und Slapstick, Bernie Feit die Pointenschleuder, der seine Umgebung statt mit dem Schusterhammer mit seinen Wuchtln weichklopft, Philipp Stix mit einer Umverteilungsansprache seinen Wendelin als sozialistischen Revolutionär deklarierend. Das Motto heißt: „The Floss“ tanzen und Outrieren bis der Arzt kommt, alle balancieren hier ständig am Rande des Nervenkasperls, aber ehrlich, wie sonst sollte die gegenwärtige Politburleske auf einer Bühne zu toppen sein?

Ein fabelhafter Fürst der Finsternis aka Oberrichter von Thurming ist Matthias Tuzar, virtuos in der Körpersprache, wenn er bei seinem Böser-Geist-Spiel schamlos übertreibt, was dem in Furcht und Schrecken versetzten Wendelin als einzigem nicht zu denken gibt, oder er als fickriger Verliebter die juridische Respektsperson sofort ablegt, sobald sein frisch angetrautes Eheweib ihre Rechte anmeldet. Tuzar turnt mit Bravour durch die wilde Jagd, auf die Bruno Max ihn schickt, TzF-Debütantin Magdalena Hammer ist seine heißblütige Baronesse Adele, die sich nach renitenten Kräften gegen das ihr vom garstigen Vormund bestimmte Novizinnen-Los wehrt.

Ein Jedermann’scher Herzgriff des vermeintlichen Teufels: Matthias Tuzar und Philipp Stix. Bild: Bettina Frenzel

Die vor Angst um ihr Leben bibbernden Pfrims: Sibylle Kos, Philipp Stix und Bernie Feit. Bild: Bettina Frenzel

Der flüchtige Freiherr von Reichthal bei den Pfrims: Sibylle Kos, Georg Kusztrich und Bernie Feit. Bild: Betina Frenzel

Fürs Schuhfabrikvolk bleibt sich’s unter jedem Regime gleich: Kusztrich, Rehm, Feit, Sibylle und Stix. Bild: Bettina Frenzel

Diesen Freiherr und Schuhfabrikanten von Stromberg gestaltet Leopold Selinger als sleeken, teflonbeschichteten Machthaber, sein Gehabe so gegelt wie sein Haar, und wie er da so im Führerbunker neben Peter Fuchs steht, ist jede Ähnlichkeit mit real existierenden Volksverdrehern, äh, -vertretern freilich rein zufällig. Mit Georg Kusztrich als flüchtigem Freiherr von Reichthal hat Selinger einen starken Widerpart. Sibylle Kos ist grandios als Pfrim-Ehefrau Eva, die dem Leibhaftigen im Herrgottswinkel zu entfliehen versucht. Johanna Rehm ist als Baronessen-Zofe Rosalie – in einem der wunderbaren Kostüme von Anna Pollack – ein hinreißend-sexy Kammerkätzchen, das in Windeseile vom Schnurren zum Krallen-Ausfahren wechseln kann.

Michael Werner, Leonhard Srajer, Philipp Schmidsberger und Valentin Ivanov runden als Fabriksmalocher, Gendarmen, Erscheinungen den Cast ab. Tuzars Thurming treibt Stixs Wendelin mit einem Jedermann’schen Herzgriff zum Äußersten, gemeinsam mit Feit-Pfrim begibt er sich auf Pilgerreise nach Rom, die mit dem was Wein betrifft pragmatischen Vater in der nächsten Wirtsstube endet. Alldieweil decken nicht Smartphone-Chats, sondern gute alte Briefe die Intrige Strombergs auf – Happy End einer tumultösen Geschichte! Den Teufel, der im Detail steckt, hat das Theater zum Fürchten mit dieser Arbeit spielfreudig bezwungen. Diese „Höllenangst“ ist mit ihrem gekonnten Mix aus Sozialkritik, Politsatire und Komödie ein Spektakel der Extraklasse.

www.theaterzumfuerchten.at

  1. 1. 2020

Theater zum Fürchten: Loveplay

September 29, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Frauen haben ihn in der Hand

Die etwas andere Aufklärung: Eszter Hollósi als Wissenschaftlerin und Philipp Stix als ihr Studienobjekt. Bild: Bettina Frenzel

Beim Schlussapplaus herrscht Staunen: Sechs Schauspieler sind es tatsächlich nur, die davor nicht ganz zwei Stunden lang die mehr als 30 Rollen stemmen, zehn Liebesgeschichten aus 2000 Jahren Menschheitsgeschichte spielen, und dies mit verblüffender Wandlungsfähigkeit mal berührend, mal burlesk, mal brutal. Das Theater zum Fürchten zeigt in seiner Wiener Dependance, der Scala, Moira Buffinis „Loveplay“.

Regisseurin Helena Scheuba hat TzF-Prinzipal Bruno Max die Satire zur Inszenierung vorgeschlagen, und der war vom Stück so begeistert, dass er es sich sofort unter den Nagel riss, selbst die Übersetzung anfertigte und die deutschsprachige Erstaufführung übernahm (Scheuba wird stattdessen Harold Pinters „Betrogen“ auf die Bühne heben).

Es nimmt einen Wunder, dass die in ihrer Heimat England höchst erfolgreiche Dramatikerin und Drehbuchautorin Buffini, dieses etwa für die „Jane Eyre“-Verfilmung mit Judi Dench und Michael Fassbender, hierzulande so gut wie unbekannt ist, sind ihre mit leichter Feder verfassten Arbeiten doch so ironisch wie intelligent, feinster Boulevard, bei dem sich prächtig zu amüsieren ist.

In „Loveplay“ geht es – no na – ums Spiel mit der Liebe. In zehn Szenen von der Antike bis herauf in die Gegenwart erzählt Buffini, was es damit auf sich hat. Der Schauplatz ist stets London, das sich in der Scala-Aufführung via Animationsfilm vom Römerlager Londinium zur Hauptstadt des britischen Weltreichs zur Brexit-Kapitale ausdehnt.

Punkto Vielfalt an Figuren wird den Darstellern dabei einiges abverlangt, wenn es gilt, sich die Freier und Vergewaltiger, die Verschüchterten und Verklemmten, die Widerlinge und die Widersacher zu eigen zu machen, ihre durch im Wortsinn Leiden/schaften über Jahrhunderte geschundenen Seelen, deren Irrungen und Wirrungen, die Anbahnung von wie die Abrechnung mit Beziehungen. „Love Is Just A Four-Letter Word“ könnte Joan Baez da singen, doch Bruno Max hat sich für die „Love, love, love“-Beatles entschieden, sind doch Herzensregungen, und nicht die anderer Körperteile, der Höhepunkt der Episoden. Buffinis Text behandelt Sex nicht als Selbstzweck, sondern beschäftigt sich mit den „50 Shades“ auf dem Weg dorthin.

„Romantik“ zwischen der Gouvernante und ihrem Dienstherrn: Johanna Rehm und Matthias Tuzar. Bild: Bettina Frenzel

Shakespeare, schau oba: Johanna Rehm, Leopold Selinger und Matthias Tuzar. Bild: Bettina Frenzel

Und so erlebt man mit, wie die britannische Prostituierte Dorcas (Johanna Rehm) das flavische Währungssystem anzweifelt, indem sie des Legionärs Marcus (Philipp Stix) Münze nicht annimmt, bekommt sie doch sonst in Ausübung des ältesten Gewerbes der Welt ein lebendes Huhn als Lohn. Hat Freude an einer shakespeare’schen Persiflage um den sexuellen Versager, Dichter Llevelyn (Matthias Tuzar, der noch dazu als Kabinettstück im eigenen Drama den Bösewicht gibt), den selbstverliebten Komödianten Trevelyn (Leopold Selinger) und des ersten Ehe-, des zweiten Bühnenpartnerin Helen (Johanna Rehm), die sich um Dramaturgie, Figurenpsychologie und einen vom Autor zwar vorgesehenen, bei der Probe aber ausufernden Kuss zwischen den Protagonisten streiten. Oder beobachtet Gouvernante Miss Tilly (Johanna Rehm), wie sie, statt der Romantik zu huldigen, zum wilden Ritt auf Dienstherr Mr. Quilly (Matthias Tuzar) diesem ihren jüngsten SM-Schauerroman vorträgt.

Von Epoche zu Epoche großartig gelungen sind die Kostüme von Alexandra Fitzinger und die Maske von Gerda Fischer, Zoe Marvie und Pia Urbanek. Und fabelhaft ist, dass letztlich stets diese hochgebildeten, auch berechnenden, mitunter sogar boshaften Frauen siegreich sind, sie sozusagen „ihn“ in der Hand haben – bis auf einen zart-poetischen Auftritt von Leopold Selinger und Philipp Stix, die sich als Geistlicher Buttermere und Malerfürst und sanfter Verführer De Vere endlich ihrer homoerotischen Zuneigung stellen. Schön, wie Selingers Vikar beim Ablegen des Kollars und damit der Ketten der Konvention gesteht, soeben seinen „ersten freien Gedanken“ gehabt zu haben. Die lesbische Seite des Liebesspektrums, gleichgeschlechliche Liebe hat bei Buffini ihren selbstverständlichen Platz, verkörpern als Ordensschwestern Johanna Rehm, Samantha Steppan und die ziemlich notgeile Klosterfrau von Eszter Hollósi.

Bevor’s zur Free Love der Roaring Sixties geht, wo Johanna Rehm als verklemmt-verschüchtertes Hippiegirl einem – von den wie von Wolfi Bauer erfundenen „revolutionären Sex-Aktivisten“ Eszter Hollósi, Leopold Selinger und Matthias Tuzar organisierten – Love-in nichts abgewinnen kann, oder zu einer neuzeitlichen Mit-Gefühl-mach‘s-Geschäft-Partneragentur, auf deren Bäumchen-wechsle-dich-Party Leopold Selinger grandios einen protzigen Urologen und Samantha Steppan die durch ihn ins Emo-Chaos gestürzte Lebensgefährtin der Agenturchefin mimt – hier die persönliche Lieblingsszene mit Eszter Hollósi und Philipp Stix.

Anno 1898 – der Künstler liebt den Geistlichen: Philipp Stix und Leopold Selinger. Bild: Bettina Frenzel

Schüchtern in den Roaring Sixties: Johanna Rehm mit Eszter Hollósi und Leopold Selinger. Bild: Bettina Frenzel

Sie eine großbürgerliche Privatgelehrte, er ein einfacher Handwerker, er ihr Studienobjekt, will die mehr als wissenschaftlich interessierte Roxanne doch endlich wissen, was es mit der Aufklärung auf sich hat. Wie sie seinen nackten Körper erforscht, und bei dieser „empirischen Untersuchung der Natur des Mannes“ für sich zum ersten Mal das Geheimnis um „das Abbild Gottes“ lüftet, wie sie sagt „Ich will Ihn anfassen!“, worauf er lapidar „Ist recht!“ antwortet, wie er glaubt, es sei nun von ihm mehr gewünscht, und er den akademischen Akt zum leibhaftigen machen will, worauf er mit Schimpf und Schande aus dem Herrenhaus gejagt wird – das sagt eine Menge über der modernen Menschen Verhältnis zu Verstand und Gefühl, zum Verhältnis Bildung zu Body.

Die TzF-Produktion „Loveplay“ in der Scala ist ein supersympathischer Abend mit formidablem Ensemble, das die Emotionsskala, von Spaß an der Sache bis Todesangst davor, von tiefsinnig bis untief, nur so rauf und runter spielt. Bruno Max‘ Fazit: Liebe, Lust und Leidenschaft bleiben auch nach zwei Jahrtausenden ein Mysterium. Aber schauen Sie sich das selber an …

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  1. 9. 2019

Festspiele Reichenau: Doderers Dämonen

Juli 7, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein glänzend gespieltes Gesellschaftsporträt

Johanna Arrouas, Joseph Lorenz, Sascha O.Weis. Bild: Festspiele Reichenau

Die Quapp hält endlich das ihr zugedachte Testament in Händen: Johanna Arrouas mit „Geyrenhoff“ Joseph Lorenz und „Kajetan Schlaggenberg“ Sascha Oskar Weis. Bild: Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

Auch dieses Jahr brachten die Festspiele Reichenau eine großartige Romandramatisierung zur Uraufführung. Nach Doderers „Strudlhofstiege“ 2009 hat sich Autor und Schauspieler Nicolaus Hagg nun mit dessen „Dämonen“ gleichsam eine Art Fortsetzung vorgenommen und versucht das beinah 1400 Seiten starke Meisterwerk auf eine mögliche Essenz zu komprimieren. Die Übung ist gelungen. Haggs Bühnenfassung erzählt stringent und mit kaum mehr als einem Dutzend Figuren die wichtigsten Episoden aus Doderers Großstadtepos.

Er hat die Studien aus dem Huren- und Verbrechermilieu der Brigittenau bewusst gestrichen und sich auf die großbürgerlichen bis aristokratischen Kreise in der Wiener Innenstadt konzentriert. Die Menschen, die Hagg zeigt, sind Kriegsversehrte, vor allem die Männer Gefangene ihrer Welt von gestern, während die Frauen in eine Moderne aufbrechen, im Kopf schon aufgebrochen sind, ohne zu wissen, dass ihnen alsbald der Weg dorthin abgeschnitten werden wird. Und doch ist es, als ahnten diese noch an der Vergangenheit laborierenden Figuren bereits den kommenden, größeren Schrecken. Was hier entworfen wurde, sind keine psychologisch bis ins Detail ausgearbeiteten Einzelbilder, sondern ein umfassendes Gesellschaftsporträt. Es ist, als wollte Hagg eine kollektive Geschichtsgedächtnislücke schließen, über eine Zeit, deren Ursache und Wirkung in den Köpfen gern auf ein Jahrzehnt später verlegt wird. Deren Ungeist in Österreich aber schon viel früher und ohne Einfluss „von außen“ hochkochte und der immer noch köchelt.

Auch mit Augenmerk darauf sind „Doderers Dämonen“ in Reichenau eine wichtige Inszenierung. Vorgenommen von Regisseur Hermann Beil, der mit feiner Hand ein fabelhaftes Ensemble durch dieses fabelhafte Ensemblestück geleitet. Denn die eine Hauptrolle gibt es nicht. Beil zeigt eine Szenenfolge, einen sich rasch drehenden Reigen, aus dem von Hagg mit je unterschiedlicher Temperatur und Temperament vier Handlungsstränge hervorgehoben sind:

Johanna Arrouas, David Oberkogler, Johanna Prosl, Julia Stemberger und Sascha Oskar Weis. Bild: Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

Johanna Arrouas, David Oberkogler, Johanna Prosl, Julia Stemberger und Sascha Oskar Weis. Bild: Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

André Pohl, Thomas Kamper, Rainer Frieb, Joseph Lorenz. Bild: Festspiele Reichenau

Die Intrige rund um die Quapp fliegt auf: André Pohl, Thomas Kamper, Rainer Frieb und Joseph Lorenz. Bild: Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

Den der Mary K., deren Straßenbahnunfall den Fluchtpunkt der „Strudlhofstiege“ bildet und die nun mit einer Beinprothese zu leben und jenseits aller Standesunterschiede den Arbeiter Leonhard Kakabsa lieben lernt – sie in jeder Hinsicht eine der schönsten Personen, die Doderer je erdacht hat. Den des René Stangeler, 2009 noch von Hagg selbst gespielt, und seiner schwierigen Beziehung zu Mitmenschen im Allgemeinen und der Jüdin Grete Siebenschein im Besonderen. Kajetan Schlaggenberg und seine Schwäche für die „dicken Damen“ – von Hagg nicht eine Sekunde ins Lächerliche gezogen, sondern als Synonym für einen Gemütszustand ernst genommen. Und die Geschichte der „Quapp“, Charlotte Schlaggenberg, rund um die sich ein Krimi um ein unterschlagenes Testament und ein sagenhaftes Vermögen entspinnt. Dies alles festgehalten in der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff.

Er ist, gemeinsam mit Stangeler und Schlaggenberg, ein drittes Alter Ego Doderers. Und das Kreativduo Hagg/Beil veranlasst ihn seine Erinnerungen statt erst 1955 bereits 1945 in einem halbzerstörten Nachkriegskaffeehaus Revue passieren zu lassen. Doderers „Dämonen“ beleuchtet das Jahr 1926/27, die Geschehnisse bis zum Schattendorfer Urteil und zum Justizpalastbrand. Am 30. Jänner 1927 hatte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs in dem kleinen burgenländischen Ort eine Versammlung abgehalten, die von Mitgliedern der politisch rechten Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreich beschossen wurde. Es gab Tote, darunter ein sechsjähriges Kind. Die Täter wurden von einem Geschworenengericht freigesprochen, was die gewalttätigen Ausschreitungen in Wien zur Folge hatte.

Wie Gespenster der Vergangenheit tauchen nun erst Stimmen, dann die Charaktere aus Geyrenhoffs Gedächtnis auf und beginnen aus einer Distanz von tausend Jahren von Neuem ihr Spiel. In ihren Gesprächen berichten sie von sich und ihrem gewesenen Schicksal; Hagg hat den Tonfall dieser Tage gut getroffen, er mengt leisen Humor unter Doderers Melancholie, lässt seine Figuren zwischen Seelengüte und Sarkasmus changieren, und freilich ist‘s seine Perfidie, dass Hoffnung auf vier Liebeshappyends gemacht wird, und man doch nicht weiß, wie es mit all diesen ans Herz Gewachsenen nach Ende des Abends, nach Ende des Dritten Reichs ausgegangen sein wird. „Doderers Dämonen“ sind Nachrichten aus einer untergegangenen Welt, und in ihr Menschen beim Versuch, das Glück für sich neu zu erfinden. Manche werden scheitern müssen …

Julia Stemberger, Philipp Stix. Bild: Festspiele Reichenau

Mary K. bekennt sich zu ihrer großen Liebe, dem Arbeiter Kakabsa: Julia Stemberger und Philipp Stix. Bild: Festspiele Reichenau/Dimo Dimov

Die Schauspieler in Reichenau sind wie stets hochkarätig. Und Beil lässt seinen ersten Kräften Raum zum Spielen. Allen voran brilliert Julia Stemberger als Mary K., die sich mit Mut und Mutterwitz nicht von ihrem Lebenswillen abschneiden lässt, egal welche Steine ihr in den Weg geworfen werden. Ihr zur Seite steht Philipp Stix als Leonhard Kakabsa, der prototypische Fall eines romantisierten Arbeiters. Er hat sich selbst ermächtigt, dieser beinah Dostojewski’sche neue Mensch, der sich Latein beibringt und den Weltaltas studiert. Stix ist einer der Sympathieträger im Stück.

Neben David Oberkogler als zwischen Wut und Weichheit schwankender Stangeler, der knurrig die tiefen Gefühle zu verbergen sucht, die er für seine Grete, dargestellt von Karin Kofler, hegt. Der große Peter Matić hat als ihr Vater mit seinen trocken dargebrachten Sagern zur ganzen Angelegenheit die Lacher auf seiner Seite. Sascha Oskar Weis gehorcht als Kajetan Schlaggenberg seiner Obsession für die weiblichen Rundungen; er ist ein Mann mit Herz, auch wenn’s ihm ab und an in die Hose rutscht. Seine Schwester schließlich, die Quapp, gestaltet Johanna Arrouas als emanzipierte Frau, die weiß, was sie will – und sei’s der ungarische Diplomat Geza Orkay (David Jakob). Die Intrige rund um sie veranstalten André Pohl als milder Teufel und Thomas Kamper als ängstlicher Bösewicht, aufgedeckt wird sie von „Wachtmeister“ Rainer Frieb und natürlich Geyrenhoff, dem Joseph Lorenz mit gewohnter Prägnanz Profil und Grandezza verleiht und dem mit der Friederike Ruthmayr von Fanny Stavjanik auch noch eine späte Ehe ins Haus steht.

Doderers „Dämonen“ können in ihrer Bühnenfassung in Reichenau auf ganzer Linie reüssieren. Das ist dem geistreich pointierten Plot ebenso wie dem ihn heiter-skurril umsetzenden Cast zu danken. Die Festspiele zeigen, was sie am besten können, nämlich auf den Konversationston fokussiertes, hervorragendes Schauspielertheater. Hermann Beil hat mit viel Gespür für Hagg/Doderers Sprachmelodien und -färbungen die Figuren durch eben diese Eigenheiten charakterisiert und inszeniert. Mehr ist für die gelungene Aufführung auch nicht nötig. Den zugegeben gewaltigen Rest kann man ja nun im Buch nachlesen, denn nicht zuletzt darauf macht der Abend Lust – Lust auf mehr Doderer.

Nicolaus Hagg im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=20209

www.festspiele-reichenau.com

Wien, 7. 7. 2016

Festspiele Reichenau: Nicolaus Hagg im Gespräch

Mai 24, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Er dramatisiert Heimito von Doderers „Dämonen“

Nicolaus Hagg: Bild: Sepp Gallauer

Nicolaus Hagg: Bild: Sepp Gallauer

Der Schauspieler und Autor Nicolaus Hagg hat für die Festspiele Reichenau eine Bühnenfassung von Heimito von Doderers Hauptwerk „Die Dämonen“ erarbeitet. Nach der „Strudlhofstiege“ 2009 oder „Anna Karenina“ 2012 ist dies eine weitere Dramatisierung aus seiner Hand. Doderers eng an die „Strudlhofstiege“ anschließender Roman erzählt aus den Jahren 1926/27 in Wien und von einer Clique, den „Unsrigen“, einer besseren Gesellschaft, und ihrem irren Beziehungsgeflecht.

Unter den unzähligen Intrigen die ausladendste, ist die der Charlotte von Schlaggenberg, genannt „Quapp“, die als ungefähr letzte erfährt, dass sie Erbin eines Millionenvermögens ist, das ihr beinahe unterschlagen worden wäre. Das alles wird als Rückblick geschildert, ein Sektionsrat Geyrenhoff erinnert sich in den 1950er-Jahren in einer Chronik an die Geschehnisse. „Doderers Dämonen“ wird am 4. Juli bei den Festspielen Reichenau uraufgeführt. Es inszeniert Hermann Beil. Es spielen Joseph Lorenz den Geyrenhoff, sowie unter anderem Julia Stemberger, Johanna Arrouas, André Pohl, Peter Matić, Rainer Frieb, Thomas Kamper, Sascha Oskar Weis und David Oberkogler. Nicolaus Hagg im Gespräch:

MM: Sie haben die Romandramatisierungen bei den Festspielen Reichenau zu einer eigenen Kunstform erhoben. Was ist der Reiz daran?

Nicolaus Hagg: Diese Romane selbst. Sich in diese Themen und in die Vielfältigkeit der Figuren hineinzutigern. Man hält sich nicht damit auf, eigene Handlungsstränge zu erfinden, sondern man kann sich direkt auf einen Dialog werfen. Man kann sich auf die Reduktion konzentrieren, die die Bühne braucht, ohne sich einen Kopf machen zu müssen, wie es dann weitergeht. Sich im Detail verlieren zu können, das ist der große Reiz daran. Ich erlebe bei diesen Dramatisierungen die Literatur noch einmal intensiver. Ich habe Doderer schon als Pubertierender gelesen und hab‘ mir das alles damals sehr filmisch vorgestellt, nun stelle ich es mir theatralisch vor.

MM: Nun werden Romandramatisierungen von manchen Theaterschaffenden als Modeerscheinung betrachtet. Andererseits sagte kürzlich ein Intendant und Regisseur, er greife zu großen Romanen, weil es zu wenige gute neue Stücke gibt. Wie denken Sie darüber?

Hagg: Ich mache diese Arbeit noch gar nicht so lange, dass ich mich nicht auch als Teil der „Modeerscheinung“ begreifen müsste. Bei Intendanten herrscht halt auch der Glaube, besser ein bekannter Buchtitel als ein ungekanntes Stück. Ich weiß nicht, ob das konkurrieren muss. Es gibt gute neue Stücke und gute Romandramatisierungen. Natürlich gibt es da einen gewissen Wildwuchs, ich habe diesbezüglich Aufträge auch schon zurückgelegt, weil ich das vorgeschlagene Buch für nicht dramatisierbar hielt. Das wird schließlich trotzdem gemacht, funktioniert aber auf einer Bühne nicht, wie ich meine. Dann gibt es unglaublich monströse Bücher, wie die „Dämonen“ von Doderer, wo’s geht. Man kann ihn wie einen Hollywoodfilmautor begreifen, und wenn man auf eines seiner Bücher mit Lust hingreift, wird daraus ein eigenes Stück.

MM: Hollywood, weil er so monumental entwirft?

Hagg: Ja, die Romane sind wie Treatments zu Monumentalschinken. „Die Strudlhofstiege“ oder „Die Dämonen“, dies auch ein Hinweis an den Österreichischen Rundfunk, gehören nicht als Hörspiel ins Radio, sondern als Serie ins Fernsehen. Das ist ein riesiges Stück österreichischer Geschichte, von der wir weit davon entfernt sind, sie aufgearbeitet zu haben. Wie sich dieser Tage politisch zeigt. Das sind Sechzigteiler, da könnte ich ein einheimisches „Downton Abbey“ draus basteln.

MM: Apropos, politisch: Ist Doderer diesbezüglich eine schwierige Liebe? Wie steht es mit den „Dämonen“, die ihn gejagt haben?

Hagg: Für mich ist es keine schwierige Liebe. Das ist schließlich Weltliteratur. Außerdem lache ich zwei, drei Mal pro Seite laut auf, ich finde Formulierungen, die sind so unglaublich toll, das ist schon herrlich. Ich habe für Reichenau ja schon „Die Strudlhofstiege“ gemacht, aber „Die Dämonen“ liest man vier, fünf Mal, und jedes Mal ist es ein anderes Buch. Das ist mir noch nie passiert. Doderer verändert die Menschen, die ihn lesen, er verändert ihre Horizonte. Der Buchhändler in Gloggnitz hat 2009 so viele Exemplare der „Strudlhofstiege“ verkauft, dass ihn der Verlag gefragt hat, ob er damit heizt. Ich hoffe, dass uns nun etwas Ähnliches gelingt. Die bewusstseinserweiternde Droge Doderer sollte man mehr unter die Leute werfen.

MM: Was nun keine wirkliche Antwort auf meine Frage war: Doderer hat „Die Dämonen“ um heikle Passagen erleichtert. Alles, wo’s um „die Reinheit des Blutes“ geht hat er beispielsweise nachträglich gestrichen. Ich habe Rezensionen von 1957 bis 2012 gelesen, es ist interessant, dass ausgerechnet bei diesem Autor die NSDAP-Mitgliedschaft vergeben und vergessen scheint …

Hagg: Er hat Stellen getilgt, ja, heute werden ganze Bücher umgeschrieben, aber nicht von den Autoren, sondern von den Verlagen, weil böse, nicht mehr opportune Worte drinnen vorkommen. Doderer ist 1933 in die NSDAP eingetreten, um überhaupt einmal ein Buch zu verkaufen, 1941 aber wieder ausgetreten. 1941 war das Jahr mit den meisten Eintritten in die NSDAP. Da war der Frankreichfeldzug gewonnen, da war der Hitler-Stalin-Pakt beschlossen, Hitler war ein Superstar, ein unverwundbarer Siegfried der deutschen Geschichte – und Doderer dreht sich um und geht. Da traut sich einer aus dem Verein auszusteigen! Gegen den habe ich politisch nichts. Aus einem sehr nationalen Umfeld kommend, seine Schwester war eine Nazi bis zum Tod, war er nicht einmal ein politisch Suchender. Ich glaube, wir haben genug damit zu tun, uns die Täter dieser Zeit anzuschauen. Wenn wir auch noch die Opportunisten unter die Lupe nehmen, werden wir nie fertig. Vielleicht sollten wir, die glauben, die Vergangenheit zu kennen und aus ihr gelernt zu haben, nicht im Blick zurück verharren. Wir sollten uns die Täter von heute anschauen. Die Täter, die munter und in Scharen durch die blaue Vordertür hereinkommen, während wir immer noch beim braunen Hintertürl hinausschauen.

MM: Doderer hat aus seiner Vergangenheit auch nie ein Hehl gemacht.

Hagg: Ich denke, sein Werk spricht für sich. In den „Dämonen“ ist das große Fanal die Schüsse von Schattendorf und das darauffolgende Urteil und mit ihm einhergehend der Brand des Justizpalastes und seine zig Toten. Wo die junge, die jungfräuliche Republik auf die eigenen Leute hat schießen lassen. Das war der Anfang vom Ende der ersten Republik.  Das heißt, dass unsere Schuld am Tod, am Mord der Republik viel früher beginnt, als die Ausrede des Austrofaschismus und vor allem des Anschlusses, die Ausrede, erst ein von der Dollfuß-Nummer, dann von Hitler überfallenes Land gewesen zu sein, zulassen. Da ist Doderer g’scheiter als andere. Die Kleingeistigkeit der Bevölkerung und der Parteipolitik, die er in ganz vielen Zeilen aufzeigt, auch in den „Wasserfällen von Slunj“, die zerstört das Große. Er, mit dem Blick aufs Große, kann das erkennen. Das ist die wichtige historische Information aus diesem Werk. Und die ist doch sehr früh hingeschrieben dafür, dass man es in Österreich immer noch nicht zur Kenntnis genommen hat.

MM: Kann das kein Zufall sein, dass man in Zeiten wie diesen einen Roman wie diesen in die Hand nimmt?

Hagg: Natürlich. Den Loidolts und mir war nach der „Strudlhofstiege“ immer klar, dass wir auch „Die Dämonen“ machen wollen. Vor eineinhalb Jahren hatten wir das Gefühl, da beginnt etwas sich loszutreten, in Ungarn, aber auch bei uns, an Geschichtsverdrängung, an Radikalisierung, an Lagerbildung, sodass wir sagen: So, jetzt. Wobei mir immer noch leid ist, dass wir „Die Dämonen“, die ja zwei durch den Donaukanal getrennte Romane sind, nicht in der Fülle zeigen können, sondern uns auf den 9. Bezirk beschränken. Das hat vielleicht auch mit einer Reichenau-Tradition zu tun, aber auf die Brigittenau mit ihren noch einmal 30, 40 Figuren, haben wir bei dieser Dramatisierung verzichtet.

"Doderers Dämonen" mit Julia Stemberger, Peter Matic, Joseph Lorenz, Johanna Arrouas und David Oberkogler. Bild: Festspiele Reichenau

„Doderers Dämonen“ mit Julia Stemberger, Peter Matic, Joseph Lorenz, Johanna Arrouas und David Oberkogler. Bild: Festspiele Reichenau

MM: Womit Sie meine nächste Frage schon ansprechen: „Die Unsrigen“ flechten unzählige wilde Intrigenstränge. Was haben Sie daraus gefiltert? Welche Geschichte aus dem Konvolut an Geschichten erzählen Sie uns?

Hagg: In erster Linie die Geschichte der Charlotte von Schlaggenberg. Die „Quapp“-Geschichte ist der dramaturgische rote Faden. Dazu die drei Männer: Geyrenhoff, als Chronist eigentlich die langweiligste, oder besser gesagt: schwierigste Figur, weil er so untheatralisch ist, aber an ihm interessiert mich sein Kriegstrauma. Schlaggenberg und die Fantasie der „Dicken Damen“, die ich sehr ernst genommen habe als große Sehnsucht nach einer Mütterlichkeit. Und Stangeler, der ebenfalls mit versehrter Seele aus dem Krieg zurückkommt. Bei den beiden anderen Männern lässt Doderer es nur erahnen, sie haben im Roman nur kurz Platz, darüber zu sprechen, aber bei Stangeler ist das Trauma sein Grundmotiv. Und es wird von außen überwunden werden – durch eine großartige Frau, die an ihn glaubt. Er kathartisiert sich im Roman über 60 Seiten. Dafür, glaube ich, ist der ganze Roman geschrieben. Darin liegt Doderers ganze erruptive Gestaltungskraft.

MM: Die sich aus seinem eigenen Kriegstrauma speist?

Hagg: Er war jung im Ersten Weltkrieg, dann in Sibirien in russischer Kriegsgefangenschaft, hat grauenhafte Dinge erlebt, und ist zu Fuß von dort nach Haus gegangen. Er hat jahrelang nichts anderes gesehen, als den Tod. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Sein Werk liest sich wie eine Fortsetzung dieser Erlebnisse.

MM: Sie haben in der „Strudlhofstiege“ den Stangeler noch selbst gespielt. Jetzt nicht?

Hagg: Nein. Es hat Vor- und Nachteile im eigenen Stück zu spielen. Damals, mit Maria Happel als Regisseurin, ging das gut. Die hatte so irre Ideen, dass sie mich völlig vergessen ließ, dass der Text einmal von mir war, weil ohnedies was ganz anderes daraus entstanden ist. Diesmal wollte ich nicht dabei sein, weil mir der Text zu nahe ist. David Oberkogler ist mein „Nachfolger“ als Stangeler … Er wird das besser machen, als ich es gekonnt hätte. Ich habe ehrlich gesagt schon beim Schreiben an ihn gedacht, weil er diese verzweifelte Streitlust, diesen akademischen Wissendurst, die Wut des Stangeler, aber auch seine Weichheit, seine Tiefe sehr repräsentiert. Da gibt es Sätze … die stehen schon dort, weil ich gewusst habe, dass sie der Oberkogler sprechen wird, die könnte ich gar nicht sagen.

MM: Das klingt, als ob Sie in Produktionsfragen gefragt sind?

Hagg: Das klingt nach einer Liebeserklärung an David Oberkogler. Aber, ja, natürlich spricht man über Besetzungen. Und wenn alles erst im Entstehen ist, ich aber schon weiß, wohin eine Figur geht, ist es gut, ein Gesicht dazu zu haben. Ansonsten gehe ich nicht einmal auf Leseproben. Ich rauche nicht mehr. Was soll ich tun, wenn ich mich aufrege? (Er lacht.)

MM: Können Sie also gut Kindsweglegung betreiben? Manchen Dramatikern muss man die Stücke ja beinah aus den Händen stemmen.

Hagg: Ja! Ich habe wirklich schon nervöse Ausschläge bekommen, wenn ich ein Stück abgegeben habe. Diesmal habe ich gesagt, ich kann nicht dabei sein, weil ich ein echtes kleines Kind habe. Ich hatte mit Regisseur Hermann Beil davor sehr schöne Gespräche, bei ihm wird alles in besten Händen sein. Außerdem bin ich selber in recht intensiven Proben.

MM: Sie selber spielen in Nestroys „Liebesgeschichten und Heiratssachen“. Es inszeniert Helmut Wiesner, Sie sind …

Hagg: … der Wirt. Wir proben seit Mitte Mai, mit einem toll vorbereiteten Miguel Herz-Kestranek als Nebel, der vorne am Bug steht und weit daher leuchtet. Marcello de Nardo, frisch aus den USA zurück, wo er das Theater, glaube ich, sehr vermisst hat, spielt mit viel Elan den Marchese Vincelli. Ich selber stehe am dritten Mast und schau‘, dass ich auch einmal ein Segel aufziehe. Der Wirt ist eine hübsche kleine Rolle, ich hoffe, dass es gut wird.

MM: Abgesehen davon, dass es kleine Rollen ja nicht gibt, haben Sie also beschlossen den Reichenau-Aufenthalt diesmal zur Sommerfrische zu nutzen, und das schwere Gepäck bei anderen abzustellen?

Hagg: Ich hoffe, dass das schwere Gepäck auch leicht daherkommen wird. Denn auch „Die Dämonen“ haben etwas Komödienhaftes. Soweit Komödie in Österreich überhaupt entstehen kann. Wir haben mehr Talent für die politische Posse, für die Satire, für die Lyrik. Obwohl: Es gibt auch einen Thomas Bernhard der immer Komödien geschrieben hat. Oder Wolfgang Bauer, in dessen „Magic Afternoon“ beispielsweise sich tatsächlich die Gesellschaft spiegelt, obwohl es komödienhaft daher kommt. Aber sonst sind wir mit Komödien nicht sehr gesegnet. Aber wir haben eine große Erzählertradition in Österreich. Joseph Roth würde ich furchtbar gern machen, oder Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ noch einmal dramatisieren, auch Doderers „Die Wasserfälle von Slunj“. Und vielleicht einen eigenen Prosatext schreiben, einmal – oder bald. Aber in Reichenau, da haben Sie schon recht, ist Sommer angesagt. Wir wohnen dort seit sieben Jahren an einem märchenhaften Platz, in einem alten großen Haus aus der Zeit um 1800. Unten fließt die Schwarza vorbei, da gehe ich mit meinen Söhnen Wasserrutschen auf Autoreifen. Es gibt Momente, an denen ich mich tatsächlich im Jänner schon nach Reichenau träume und sehne.

Nicolaus Hagg in der Volksopern-Erfolgsproduktion "Der Kongress tanzt": Als Finanzminister mit "Fürstin" Regula Rosin. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Nicolaus Hagg in der Volksopern-Erfolgsproduktion „Der Kongress tanzt“: Als Finanzminister mit „Fürstin“ Regula Rosin. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

MM: Und danach der eigene Roman. Wollen Sie sich aufs Schreiben fokussieren? Was sind Ihre nächsten Pläne?

Hagg: Was Reichenau betrifft, bereiten wir schon etwas Neues für 2018 vor. Ich kann nichts verraten, nur so viel: Die Festspiele wollen sich in der Zeit weiter vorwärts bewegen und mit den Stücken näher an das Jahr 1938 heranrücken, was mir sehr entgegenkommt, weil das eine Welt ist, die ich schreibend nun gut kennengelernt habe. Dann bin ich ja an der Volksoper engagiert, spiele wieder „Anatevka“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=19898), „The Sound of Music“ und „Der Kongress tanzt“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=17709). Für diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar, weil ich das Haus sehr liebe, weil das Klima rund um Robert Meyer toll ist, und weil ich ein bisserl auf dem Bankerl sitzen und die Aussicht genießen kann. Ich habe ein heimatliches Gefühl, wenn ich an die Volksoper denke, ich verbinde mit ihr ja auch eine persönliche Liebe. Aber die Schreiberei ist schon eine große Sehnsucht. Da möchte ich schon noch so manches erzählen. Egal in welcher Form. Ich bin in einem Alter, wo ich das eine noch nicht loslassen kann und das andere nicht mehr missen möchte. Die fixe Verpflichtung an der Volksoper ermöglicht mir, innezuhalten und nachzuschauen, wohin der Weg mich führen wird. Also, ein eigener längerer Prosatext, ja, mal schauen … Allerdings ist dann die Gefahr, dass einer daherkommt und ihn dramatisiert. (Er lacht.)

www.festspiele-reichenau.com

Wien, 24. 5. 2016

Theater zum Fürchten: Von Mäusen und Menschen

November 4, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Ausflug ins Land der verlorenen Seelen

Paul Basonga als Lennie, Melanie Flicker als Curleys Frau Bild: Bettina Frenzel

Paul Basonga als Lennie, Melanie Flicker als Curleys Frau
Bild: Bettina Frenzel

Der schlechte Scherz vom Staubtüchl, das man dafür wohl einstecken müsse, war zugegeben der erste Gedanke anlässlich Bruno Max‘ Ankündigung John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ auf die Bühne bringen zu wollen. Tagelöhner im kalifornischen Hinterpfuiteufel anno Tobak. Na, das interessiert einen dringend. Tut es. Der Regisseur wischt vorgefasste Meinungen aus dem Handgelenk beiseite, es ist ihm ja Programm, jede Präjudikation aus den Köpfen zu fegen.

Das Theater zum Fürchten zeigt Bruno Max‘ Bühnenfassung der 1937er-Novelle nun in der Wiener Scala. Und es ist nicht so, dass man nicht jeden Moment erwartet hätte, den Kojoten heulen zu hören. Das zusammen mit Marcus Ganser entwickelte Bühnenbild und die Kostüme von Alexandra Fitzinger sind, sagen wir, naturalistisch. Das ist schön anzuschauen, dieser Bretterverschlag vor wechselnd Sonnenauf- und -untergang überm weiten Weizenfeld, der sich flugs in ein enges Mannschaftsquartier verwandeln lässt, die erdigen Männer in Jeanslatzhosen und mit verfledderten Strohhüten, die Frau im sexygirlie Neckholderkleidchen, der Sound eine weinende Slide Gitarre, und es schreit laut: Salinas here we come. Alles einsteigen für die Zeitreise.

Aber dann ist da 2015. Und Bruno Max erzählt eine Geschichte von Menschen, die nicht wissen, wohin sie gehören dürfen. Erzählt davon, wie prekäre Arbeitsverhältnisse Menschen verwildern lassen. Erzählt von einem Kampf um Selbstbestimmung in einem System moderner Sklaverei und hält gleichzeitig ein Plädoyer für Chancengleichheit. Und nicht erst, wenn Candy sagt, dass jeder einen Platz brauche, wo er leben und von niemandem mehr vertrieben werden kann, ist man angekommen. Über dem Abend liegt als Grundstimmung Grauschleier, es ist klar, dass hier nichts Gutes passieren wird, und Bruno Max dreht sachte, aber ständig an der Gewaltschraube. Das Spiel nimmt mehr und mehr Fahrt auf, bis zur befürchteten Eskalation. Im ersten Satz dieses Kammerspiels ist sein Ende festgeschrieben. Und nie zuvor kam es einem so vor, dass hier drei Mal Kain und Abel abgehandelt werden: George und Lennie, Slim und Curley, Carlson und Candy – ungleiche Brüder, die nicht mit und nicht ohne einander können. Die auf perverse Weise füreinander eben jener Platz sind, wo man hingehört. Vor allem Lennie, mit dem’s kein Leben ist, aber ohne den der Lebenswille fehlt.

Irgendwie hat man das anders in Erinnerung, vom Lesen und von Lon Chaney junior, der außer Lennie bevorzugt ein „Vom Menschen geschaffenes Monster“ (1941) und den Wolfsmensch spielte, kaltherziger, hartleibiger. In der Scala leben Arbeiter jenseits der Armutsgrenze ihren persönlichen amerikanischen Albtraum, Sehnsüchtler sind sie, die ihren Hoffnungen hinterherhinken, die sich in ihrer Einsamkeit wie zum Selbstschutz einigeln, denn wer keine Gefühle zeigt, wer Pessimist aus Passion ist, kann nicht mehr enttäuscht werden. Ein Ausflug ins Land der verlorenen Seelen.

Und dann ist da Paul Basonga. Man darf wohl jemanden, der erst dieses Jahr die Bühnenreifeprüfung ablegte, noch ein großes Talent nennen. Dieser österreichischafrikanische Bühnensturm www.paul-basonga.com ist ein überzeugender Lennie. Er geht die Figur anrührend ehrlich an; es ist immerhin kein leichtes, einen geistig Stehengebliebenen unpeinlich über die Rampe zu bringen, aber Basonga gelingt das. Die Statur stimmt, Riesenbaby mit Gigantenkraft, doch es stimmen auch Ausdruck und Sprache. Da ist einer, der keinen Ärger will, aber ständig welchen macht, und deshalb welchen kriegt. Sein Andersgeratensein flößt Lennie mindestens so viel Angst ein wie den anderen, und dennoch lässt Basonga in jeder Minute seines Spiels erkennen, dass in diesem freundlichen Kind eine Urgewalt schlummert, die es nicht beherrschen kann. Als hätte der Christengott bei seiner Geburt kurz weggeschaut. Stark die Schlussszene, in der Stephen Kings Blaze durchschimmert. In seinem einzigen lichten Moment spricht Lennie als die tote Tante Clara. Wie er in diesem Zwiegespräch das Mondgesicht zur Fratze verzerrt, da verwandelt sich „dumm“ doch noch in „verrückt“.

Philipp Stix ist dazu ein fabelhafter George, gesprächig, aber grummelig, ein besorgter Ersatzvater, und es wird auch in seiner Darstellung Basongas Qualität deutlich, weil man sich, selber schon ärgerlich, fragt, woher dieser George die Engelsgeduld mit diesem Idioten nimmt. Stix stellt glaubhaft den guten Menschen dar, dem keiner glaubt, dass er so gut sein kann. Er quält seinen George dem unvermeidlichen Stückende entgegen, und weil unlängst ein Schauspieler meinte, man solle ruhig sagen, wenn man Tränen in den Augen gehabt habe, weil Schauspieler das brauchen, weil sie von Zuschaueremotionen leben, also bitte, ja … Den Rest gibt einem dann Franz Robert Ceeh als erbarmungswürdiger Candy, die verlorenste aller Seelen, der zerbrochenste aller Träume, der mit echtem (!) Hund auftritt, wo man doch weiß, wie das ausgehen wird. Der Hund ist übrigens kein großes Talent, er wedelt erwartungsvoll dem Carlson entgegen, den Michael Werner nicht als Widerling, sondern als desillusionierten Realisten gestaltet. Roman Binder ist ein verständnisvoller Vorarbeiter Slim. Sebastian Blechinger gibt Juniorchef und Boxchampion Curley wie frisch von der Ponderosa, ein eifersüchtiger Hampelmann, und gerade deshalb so gefährlich; Blechinger könnte das „Weil vom Vater zum Sandsack degeneriert, drischt er auf die ihm Untergebenen ein“ dieses Leichtgewichts stärker auslegen. Melanie Flicker ist als Curleys Frau mehr als die namenlose nuttige Nemesis. Zwar ist klar, warum ihr blond onduliertes Pelzköpfchen zum Streicheln verführt, doch scheint sie weniger Verführerin, als wie alle anderen auf der Suche nach menschlicher Nähe und Wärme. Eine insgesamt gelungene Ensembleleistung in einer sehenswerten Inszenierung.

Bleibt die Feststellung, dass John Steinbeck, Chronist des Arbeiterelends und Gegner der Rassentrennung, zeitgemäßer gar nicht sein könnte, weil die vom Autor geschilderte Situation sich in den Zeiten wieder- und wiederholt. Bleibt ein Theatermacher wie Bruno Max, der nicht aufhört, mit dem Finger auf die eingeschränkte Lern- und Merkfähigkeit der Gesellschaft zu zeigen. Bleibt ein Theaterabend, der darauf hinweist, dass wir mitmenschliche Entwicklungen wie Sympathie für die Schwächeren und (sozial)partnerschaftliche Errungenschaften nicht plötzlich über Bord des Profitgierbootes werfen sollten. Denn die Welt hat sich seit 1937 schon gedreht, vorwärts, vorwärts, nicht zurück.

www.theaterzumfuerchten.at

www.theaterscala.at

Wien, 4. 11. 2015