Spencer: Kristen Stewart brilliert als Lady Diana

Januar 13, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Befreiungsschlag am Weihnachtstag

Kristen Stewart als Lady Diana. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Die Kamera von Claire Mathon starrt auf grau-vereiste Wiesen. Aus der Stille schwillt der Sound an. Militärjeeps brettern auf ein Herrenhaus zu, in den Militärkisten statt Waffen Lebensmittel. Cut. Nun kurvt ein Porsche deutlich verwirrt durch ebendiese Landschaft. Bei einem Imbiss wird angehalten. Bewehrt mit ihrem Chanel-Täschchen tritt sie ein. Die scheuen Blicke zur Seite, das verlegene Lächeln, die schüchterne, nichtsdestotrotz

standesbewusste Art sich zu präsentieren – doch, das ist sie, Lady Diana – oder besser gesagt Kristen Stewart, die für den Film „Spencer“, der am 13. Jänner in die Kinos kommt, in diese Rolle schlüpfte. Rolle, man wird es sehen, in vielerlei Hinsicht, und Stewart, gewesener Twilight-Star und zuletzt grandios als Jean Seberg, brilliert auch als Königin der Herzen. Man kann die Wandlungsfähigkeit der US-Schauspielerin nur bewundern. Das Jahr ist 1991, also weiter weg von der Traumhochzeit als zum Schockmoment, an dem Di in einem Tunnel unter Paris aus einem gecrashten Mercedes geborgen wurde. Und die Anmerkung mit den Militärjeeps ergibt sich, weil der chilenische Regisseur Pablo Larraín seinen Film wie einen D-Day inszeniert hat.

Ein letztes Gefecht auf der Queen Gut Sandringham, wohin Ma’am die gesamte königliche Familie zum Weihnachtsfest befohlen hat, auch die eigentlich von Charles bereits getrenntlebende Diana. Und vorsorglich den Kriegsveteranen Major Alistair Gregory, Timothy Spall mit dem Flair gestrenger Fürsorge, der ein Argusauge sowohl auf Paparazzi als auch auf die für gewöhnlich entgleisende Prinzessin haben soll. Er wird sie dennoch nicht verhindern können, die Panik- und bulimischen Kotzattacken, die Tagalbträume, die Fluchtversuche, die Geistererscheinungen der Seelenverwandten Anne Boleyn.

„Ich weiß absolut nicht, wo ich bin“, haucht Stewart im Imbiss einen Satz mit Symbolcharakter. Ihre Verlorenheit ist Teil einer Selbstinszenierung, pathetisch und subversiv – eine aufgeschobene, verdrängte Rückkehr in die Gefilde ihres Vaters. Nach elf Gängen und sieben Outfit-Wechseln weiß sie immerhin, wohin sie will. Weg. Larraín hat intensiv recherchiert, das muss man sich angesichts der skurrilen Traditionen rund um Elizabeth II. immer wieder klar machen. Im bitterkalten Schloss, denn die Royals setzen auf Decken statt Heizung, steht eine Sitzwaage, auf der sich alle wiegen lassen müssen, da nur, wer über die Feiertage drei Pfund zugenommen hat, beweist, dass ihm das Fest gefallen hat.

Prinz Albert führte dies einst als Scherz ein, die Queen machte daraus blutigen Ernst – und eine unlösbare Aufgabe für Diana. Larraín zeigt eine vor Nervosität und Unwohlsein vibrierende Prinzessin, Stewart spielt die Diana verzweifelt zynisch und mit Mühe ihren Zorn unterdrückend, jeder Augenaufschlag, jeder Seufzer ist eine Anklage gegen die liebe Familie. „Verärgerst du sie gern?“, fragt Jack Nielen als Prinz William an einer Stelle. „Ja, schrecklich gern“, antwortet sie. Es ist dies einer der Momente des Films, die darauf hindeuten, wie Diana den damals 9-jährigen William mit ihren psychischen Problemen überfrachtet, daneben Harry, der mehr mitkriegt, als die beiden denken.

Drei Tage gilt es in royaler Geiselhaft zu überstehen. In einer großartigen Szene, dem Wenn-Blicke-töten-könnten-Weihnachtsdinner, wird die festliche Tafel zum Gefechtsstand. Kein Wort fällt. Diana wird von der Vision mitgerissen, sie reiße sich die Perlenkette vom Hals, hat doch Charles Camilla exakt die gleiche geschenkt, und fresse die Perlen mit der Suppe in sich hinein. Derlei Surreales durchbricht die Handlung immer wieder. Diana tanzt durch Paläste, Diana in der Ruine ihres Elternhauses als glückliches Kind. Die alte Jacke ihres Vaters hat die Queen einer Vogelscheuche zugedacht. Diana nimmt sie ab und mit.

Diana im Kinderzimmer von „William“ Jack Nielen und „Harry“ Freddie Spry. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Letzter Versuch einer Aussprache mit „Charles“ Jack Farthing. Bild: © Frederic Batier, Polyfilm

Sean Harris will Diana als Küchenchef Darren mit Leckerbissen zum Essen verführen. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Timothy Spall ist grandios als väterlich-strenger Major Alistar Gregory. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Mit ihrer Kammerzofe und Vertrauten „Maggie“ Sally Hawkins. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Die liebe Familie: vorne Elizabeth Berrington als Prinzessin Anne, Stella Gonet als Queen und die österreichische Schauspielerin Lore Stefanek als Queen Mum. Bild: © Pablo Larraín, Polyfilm

Lieblosigkeiten im goldenen Käfig. Royales Mobbing. Und totale Überwachung. Die sieben Garderoben sind fein säuberlich nach ihrem Verwendungszweck beschriftet, als Diana für den Kirchgang eine nicht dafür vorgesehene wählt, steht der ganze Haushalt Kopf. Die Nachricht vom textilen Ungehorsam wird sogar an Charles herangetragen. Jeder Fauxpas wird protokolliert. Dann, vor der Kirche, jene Lady Di die die Medien manipuliert, für ihre Zwecke nutzt (das diesbezüglich legendäre BBC-Interview soll ja durch Lug und Trug zustande gekommen sein) und gleichzeitig das ihr verpasste Image verabscheut. Für die Royals ist der Presse Bevorzugung Dianas ein frivoles Vergehen.

Die Kamera jedenfalls kann sich an Kristen Stewarts Gesicht nicht sattsehen, und diese verkörpert Dianas physische wie psychische Fragilität perfekt, mit gehetztem Blick, immerzu rennend, durch Korridore und Nebelwände mit verkrampft hochgezogenen Schultern, in der Speisekammer gierig Süßspeisen in sich hineinstopfend, dann das Hochwürgen. Bemerkenswert ist, dass Larraín die Royals, angetreten von Prinz Philip bis Sarah Ferguson, zu Statisten, zu stummen Dienern seiner Sache macht. Schweigen ist bekanntermaßen die erste Tugend der königlichen Familie.

Lediglich Stella Gonet als Queen sind ein paar Worte gegönnt und selbstverständlich hat Jack Farthing als Charles seine Szenen. Farthing spielt den Thronfolger mit indignierter Distanz. Verständnis findet Diana bei ihren besorgten Vertrauten. Larraín nimmt sich ausführlich Zeit für Dianas Gespräche mit dem Personal: Sean Harris als Küchenchef Darren, der besondere Leckerbissen für seine Prinzessin zubereitet, die er zum Essen verführen will. Sally Hawkins ganz wunderbar als Kammerzofe Maggie, die außer fürs Ankleiden für seelischen Rückhalt und ermutigenden Zuspruch zuständig ist. Einer der schönsten Momente des Films ist, wenn die beiden wie Freundinnen über den Strand spazieren. Schließlich Timothy Spall anrührend, väterlich und liebevoll-streng als Major Alistair Gregory, der Aufpasser, dem sein Observationsobjekt mehr und mehr ans Herz wächst. „I watch so that others do not see“, sagt er.

„Spencer“ ist eine Studie königlicher Klaustrophobie, das Psychogramm einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Kristen Stewart hat sich Dianas kokett-ikonische Posen zu eigen gemacht. Ihre geheimnisvolle Aura und ihre magnetische Ausstrahlung führen die Schauspielerin in darstellerisch neue, lichte Höhen. Kurz gefasst: Die Oscarnominierung winkt! Der große britische Film-Szenenbildner Guy Hendrix Dyas, die renommierte Kostümbildner Jacqueline Durran und die fabelhafte Arbeit der Maskenbilderin Wakana Yoshihara tun ein Übriges, damit die Atmosphäre stimmt. „Spencer“ erreicht die emotionale Extravaganz eines erstklassigen Melodramas und ist zugleich eine historische Fantasie, eine politische Fabel und eine schwarze Sittenkomödie.

Am Ende – Achtung: Spoiler! – vergattert Charles sehr zum Unmut Dianas Sohn William zur Fasanenjagd. Sie wird wie aus dem Nichts auftauchen, die Vögel verscheuchen, damit vor dem Abschuss retten und ihre beiden Söhne in den Porsche verfrachten. Nächster Stopp: ein Fast-Food-Lokal. Sie bestellt beim Drive-In und als sie nach dem Namen gefragt wird, verwendet sie ihren Mädchennamen: „Spencer!“

www.spencer-themovie.com

13. 1.  2022

Rund um die Burg 2020: Das Literaturfestival geht online

April 30, 2020 in Buch, Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Stars wie T. C. Boyle und Stewart O’Nan lesen live

T. C. Boyle, © echo medienhaus

Das #Corona-Virus und seine bekannten Auswirkungen hat auch vor dem traditionsreichen Literaturfestival „Rund um die Burg“ nicht Halt gemacht. Dennoch findet das Lesefest auch dieses Jahr statt – und zwar online. Mit wie gehabt zahlreichen nationalen und internationalen Stars der Literaturszene geht der 24-Stunden-Lesemarathon heuer am 8. Mai eben über die virtuelle Bühne.

Nicht weniger als 45 Autoren – und damit mehr als doppelt so viele wie in den vergangenen Jahren – lesen ab 10 Uhr auf rundumdieburg.at aus ihren Werken. Und das nicht nur am Veranstaltungstag: Alle Beiträge können auch danach noch gestreamt werden.

Mit dabei sind Superstars wie T. C. Boyle, dessen Zuschaltung aus Santa Barbara, Kalifornien, um Mitternacht Ortszeit läuft, Rafik Schami mit „Vom Überlisten“ um 11 Uhr, Stewart O’Nan, dessen Lesung aus Pittsburgh aus „Henry Himself“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=37172) ab 13.20 Uhr läuft, Hilary Mantel aus dem Süden Englands, die ab 16 Uhr den Abschluss ihrer Cromwell-Trilogie „The Mirror and the Light“ vorstellt (Rezension Band I „Wölfe“: www.mottingers-meinung.at/?p=153, Rezension Band II „Falken“: www.mottingers-meinung.at/?p=2951), John Stralecky, der um 20 Uhr aus seinem Bestseller „Auszeit im Café am Ende der Welt“ liest, und Raoul Schrott um 0.40 Uhr mit „Eine Geschichte des Windes“.

Monika Helfer, © echo medienhaus

Rafik Schami, © echo medienhaus

Stewart O´Nan, © echo medienhaus

Eröffnet wird mit Fernseh-Legende Hugo Portisch, der ab 10 Uhr in seiner Wohnung aus seiner Autobiographie „Aufregend war es immer“ vorträgt. Michael Köhlmeier erzählt zuhause in Hohenems ab 21 Uhr seine beliebten Märchen (Rezension „Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle“: www.mottingers-meinung.at/?p=30974) und spätnachts ab 0.20 Uhr liest Monika Helfer, deren Roman „Oskar und Lilli“ von Arash T. Riahi unter dem Titel „Ein bisschen bleiben wir noch“ verfilmt wurde und eigentlich bereits im Kino sein sollte www.einbisschenbleibenwirnoch.at, aus ihrem jüngsten Werk „Die Bagage“.

Lesen werden außerdem Georg Biron, Erika Pluhar, „Superheldin“ Lisz Hirn, Stefan Slupetzky aus „Bummabunga“, Steirerkrimi-Autorin Claudia Rossbacher, Tex Rubinowitz www.mottingers-meinung.at/?p=33292, Gerhard Nechyba Liobelsberger aus „Alles Geld der Welt“, Eva Rossmann, Joesi Prokopetz, ORF-Wetter-Moderatorin Eser Akaba aus „Sie sprechen ja Deutsch!“, Chris Lohner sowie the one and only Erich Schleyer.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=l2Y0Z0uSnpg           rundumdieburg.at

30. 4. 2020

Hilary Mantel, © echo medienhaus

Raoul Schrott, © echo medienhaus

Michael Köhlmeyer, © echo medienhaus

John Strelecky, © echo medienhaus

Stewart O’Nan: Henry persönlich

Dezember 28, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Wie Liebe mit den Jahren wächst

Diese Überschrift bezieht sich nicht nur auf die Protagonisten in Stewart O’Nans aktuellem Roman, sondern auch auf die Leser desselben. Emily und Henry Maxwell sind Fans des Pittsburgher Autors nämlich bestens bekannt. In „Abschied von Chautauqua“ lud Emily die gesamte Familie ein letztes Mal ins zum Verkauf stehende Sommerhaus, in „Emily, allein“ ist sie achtzig und bereits seit Jahren verwitwet, und führt ein, wenn nicht vom Selbststress gebeuteltes, ruhiges Leben – in erster Linie mit ihrem mit ihr alt gewordenen Hund Rufus.

Nun hat O’Nan die Zeit zurückgedreht und endlich Henry ein Buch gewidmet, das heißt: natürlich nicht ausschließlich ihm. Emily ist da, und Rufus gerade mal vier Jahre alt, und zwischen den Buchdeckeln wechseln die Jahreszeiten vom für Kinder wie Enkelkinder unvermeidlichen Urlaub am See zum ebenfalls unabwendbaren Thanksgiving-Get-Together zu Weihnachten. 75 wird Henry auf diesen Seiten, ein mit viel Puderzucker bestreuter Zitronenkuchen macht ihn so glücklich, dass es ihn mit Wohlwollen für alles und jeden erfüllt, doch sein Hausarzt ist kürzlich im gleichen Alter gestorben. Da denkt er auch an sein Herz und sein Ende.

O’Nan verfasst seine Texte mit feinster Feder, kein Alltagsdetail scheint ihm zu banal, zu unwichtig, als dass er es nicht mit zarten Strichen festhalten würde, ob der Garten gewässert wird oder Sandwiches gemacht werden. Die Washington Post schrieb einmal, O‘Nan sei offenbar unfähig, auch nur eine falsche Zeile zu Papier zu bringen, und tatsächlich gelingt ihm, aus seinen Betrachtungen eines Rentnerdaseins samt dessen Routinebeflissenheit ein Sittenbild des – nicht nur in den USA, und ab der Pension umso mehr – ökonomisch gefährdeten Mittelstands zu entwerfen. Ihm genügt sein beschaulicher Platz an der Furt, um die Tiefe des Menschseins auszuloten.

Henry und Emily, das sind 50 Jahre Ehe, er der Besonnene, Pflichtbewusste, Pragmatische, sie, die in ihren besten Momenten freimütig zugibt, „schon immer eine Plage gewesen zu sein“, temperamentvoll, unberechenbar, aufbrausend. Dass er sie mit seiner Jonglage der knapper werdenden Finanzmittel nicht aufbringen will, ist verständlich, doch ihr Nichtwissen wird „Emily, allein“ beinah zum Verhängnis. Diskussionen, denn Streit gibt es keinen, erledigen sich so: „… noch immer musste er den männlichen Drang unterdrücken, ihr zu erklären, wie die Welt funktionierte. Zugleich würde sie eine allzu schnelle Zustimmung als Beschwichtigung ansehen, ein noch schlimmeres Vergehen, und so entschied er sich, wie so oft in Angelegenheiten von geringer Bedeutung, für die ungefährlichste Reaktion und schwieg. ,Und?‘, fragte sie. ,Hast du gar keine Meinung?‘“

Eine andere Beschreibung an anderer Stelle, anlässlich der Thanksgiving-Vorbereitungen: „,Sag mir, was ich tun kann‘, sagte er, ein Angebot, das sie mit einem herablassenden Blick von sich abprallen ließ, als hätte er einen Scherz gemacht.“ Ein durchschnittliches Paar und seine unauffälligen Biografien, beobachtet in der Gleichförmigkeit seiner Tage, nichts geschieht, doch dauernd passiert etwas, das alles ist logischerweise nicht halsbrecherisch ereignisreich, aber so wahrhaftig, so liebevoll, so von Herzen innig, dass man zum eigenen Schatz sagen möchte, wie die zwei, so wollen wir werden. Er liebt und begehrt sie, wenn auch zweiteres nicht mehr ganz so zügellos, sie liebt und sorgt sich um ihren großen Schweiger. Früher oder später ohne einander zu sein, steht als melancholische Gewissheit im Raum, aber man will nicht zu viele Gedanken daran verschwenden, außer jeder für sich den einen, dass man das Vorrecht haben möge, als erster zu gehen.

Mit seinem typischen, wohldosiert semiresignativen Witz, mit Respekt und spürbarer Zuneigung nähert sich O‘Nan jenen Charakteren, die ihn seit fast zwei Jahrzehnten begleiten. Henrys kettenrauchende, chaotische, niemals verheiratet gewesene Schwester Arlene – hier für Emily noch ein blassrotes Tuch, werden sich die beiden Frauen über die Bände zu einer Zweckfreundschaft zusammenraufen; die erwachsenen Kinder, der gemütvolle, ein wenig tapsige Kenny, dessen Ehefrau – Lisa aus besserem Hause – Emily versnobt findet, die alkoholkranke und in „Henry persönlich“ erst vor ihrer Scheidung stehende Sorgentochter Margaret, die je zwei und zwei erziehungsdeformierten, ergo verhaltensoriginellen Enkelkinder – alles Leute wie du und ich und die von nebenan.

Bild: pixabay.com

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Die Besuchsszene mit der Flugverspätung, also verzögertem Abendessen, also verärgerter Emily ist einem von früher bekannt, neu sind diesmal Henrys, und nur seine, Erinnerungen an erfüllte und unerfüllte Sehnsüchte. An den Vater, der als Henry in den Krieg ziehen musste, ihm, zu keiner Umarmung, zu keinem Kuss fähig, nur die Hand schütteln konnte. An bestialisch zu Tode gekommene Kameraden. An seine erste und einzige Liebe vor Emily, Sloan, „eine Whitney“ – im Sinne von begütert, die ihm Angst machte und ihn erregte: „Er hatte noch nie einen schwarzen BH gesehen und war schockiert“, steht da, bevor sie sein Bettgestell zertrümmern.

Derart macht O’Nan „Henry persönlich“ auch zu einer Reise in die USA der 1950er-Jahre, er verflicht Vergangenheit, Vergänglichkeit und die Art Lebenslust, die keine Frage des Alters ist, zum elegant ziselierten Porträt eines Mannes, der an den Wehwehchen seines maroden Hauses in Permanenz herumbastelt, die seinen aber verschweigt, damit Emily ihn nicht mit medizinischen Zeitungsartikeln verrückt macht, dessen Zufluchtsorte der Golfplatz und der Baumarkt sind, ein Pittsburgh Steelers- und Pirates-Aficionado, der für den Kirchenbasar das sammelt, was Emily wieder auspackt, weil sie es nicht weggeben will, während sie sich leichterhand von den Tischdeko-Trauben von Henrys Mutter trennt, und der es selbstverständlich als seine Aufgabe ansieht, bei Wind und Wetter mit Rufus Gassi zu gehen.

Auch Emilys und Henrys lakonisch humorvolle Gespräche mit dem Hund klingen dem Tierbesitzer authentisch, Rufus, der von seinem Platz aus ein Unmutsknarzen von sich gibt, wenn Emily im Bett zu lange liest, vor dessen Pinkelattacken Henry vergeblich seinen Rasen zu schützen versucht, der eheliche Umarmungen wie ein Ringrichter, der eine unfaire Umklammerung aufbrechen muss, auseinander drängt, und der in „Emily, allein“ ohne deren Hilfe nicht mehr ins Auto einsteigen wird können. „Rufus schlief auf dem Kaminvorleger, und [Enkelin] Ellas Hand lag auf seinem Bach. Vom Feuer und von einem Schluck Scotch gewärmt, dachte Henry: Das hier.“

Es sind diese Sätze, an die man sich beim Lesen verschenkt, an diese trotz aller Probleme und mitunter durchaus auftretenden Misstöne in Liebe verbundene Familie. Und immer, immer denkt man, ja, genau so ist es, O’Nan im Erzählen so präzise und unprätentiös wie seine Figur Henry. Das Buch endet, wie schön, am Neujahrsmorgen und den dazugehörigen Vorsätzen. Mit Rufus unterwegs auf der üblichen Runde, entdeckt Henry, eigentlich zuerst der Hund, ein Rudel Hirsche in der schneefreien Mulde unter einem Baum. „Während er verzückt mit Rufus dastand, wusste er nur, dass er etwas Seltsames und Sakrales wie die Vision eines Heiligen erlebte, und war dankbar, überwältigt von seinem Glück … Als er durch die strahlend helle, perfekte Welt nach Hause stapfte, konnte er es kaum erwarten, Emily davon zu erzählen.“

Über den Autor: Stewart O’Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Heute lebt er wieder in Pittsburgh. Für seinen Erstlingsroman „Engel im Schnee“ erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Zuletzt veröffentlichte er „Die Chance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=10235), „Westlich des Sunset“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=20041) und „Stadt der Geheimnisse“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=30273).

Rowohlt, Stewart O’Nan: „Henry persönlich“, Roman, 480 Seiten. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel.

www.rowohlt.de           stewart-onan.com

  1. 12. 2019

Kasino des Burgtheaters: Sechs Tanzstunden in sechs Wochen

Mai 16, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zwei supersympathische Dancing Stars

Tango mit Pasión: Andrea Eckert und Markus Meyer. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Was sich Regisseurin Martina Gredler und Kostümbildnerin Lejla Ganic an Outfits für Markus Meyer ausgedacht haben, ist für sich genommen schon eine Show. Vom goldglitzernden Matador-Jäckchen über eine weiße Fantasieuniform mit Sisi-Enten-Shirt bis zu Jeanshotpants mit „Stars ans Stripes“-Leggins, so angetan wirbelt Meyer als Tanzlehrer Michael Minetti ins Leben der pensionierten Lehrerin Lily Harrison.

Andrea Eckert, die am Burgtheater in der Andrea-Breth-Inszenierung von „Die Ratten“ eine großartige Frau Knobbe gibt (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=32521), spielt nun in dieser Kasino-Produktion die – zumindest anfangs – spaßgebremste Schülerin, die sich über den exaltierten Kerl, der da in ihrer Tür steht, nur erstaunen kann. Und während sie noch seinen verqueren Humor und seine sozialen Groschenweisheiten für gewöhnungsbedürftig hält, kippt er schon ins Unflätige, muss „die alte Schachtel“ aber letztlich um diesen Job anflehen, weil weit und breit kein anderer in Aussicht ist …

Ein Tüll-Traum für den Walzer: Andrea Eckert. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Der exaltierte Michael: Markus Meyer. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Mit dem tragikomischen Feel-Good-Stück „Sechs Tanzstunden in sechs Wochen“ des US-Dramatikers Richard Alfieri geht Burg-Herrin Karin Bergmann ins Finale ihrer Direktionszeit. Dass die ansonsten aufs Experiment zugeschnittene Spielfläche auch als Parkett für leichte Theaterkost taugt, ist vor allem den supersympathischen Darstellern zu danken, Markus Meyer in Jugendjahren Turniertänzer, Andrea Eckert seit dem Alter von fünf „Tänzerin aus Leidenschaft“, die an Spielfreude mit Verve für ihre Figuren alles geben. Es ist im Stück nicht anders, als bei den Original-Dancing-Stars: Zwei verlorene Seelen zicken um die Wette, kommen sich beim Ankeifen menschlich aber durchaus näher.

Man will sich dem anderen gegenüber anders zeigen, als es tatsächlich ist, doch – von diesem Spannungsbogen profitiert das Ganze – nach und nach fallen die Masken, werden Schicksale enthüllt, kommen die kleineren Flunkereien und die größeren Unwahrheiten ans Licht. Mit jeder Trainingsstunde offenbaren die beiden mehr von sich, etwa, dass Lily gar keinen Tanzkurs, aber Gesellschaft braucht, um ihr zu viel an Zeit zu füllen, oder, dass Michael nicht nur am Broadway gescheitert ist, sondern in New York auch seine große Liebe Charly begraben musste. Bald ist es zwischen dem Schwulen und der Witwe ein gespielter Witz, wer die größere Bitch ist, und derart holen sich die Hitzköpfe gegenseitig aus den Schneckenhäusern der selbstgewählten Isolation.

Autor Alfieri versteht es in bester amerikanischer Well-made-Play-Manier die Themen Alter, Einsamkeit und Tod in Screwball-Pointen zu verpacken. Eine Krebskrise noch schnell, dann sind Lily und Michael BFF – Best Friends Forever. Neben Eckert und Meyer brilliert noch ein dritter Akteur, das schmissige Salonorchester, bestehend aus Lenny Dickson, Andreas Radovan, Emily Stewart sowie Alexander und Konstantin Wladigeroff, das swingen und rocken und grooven vom Feinsten kann. Bühnenbildnerin Sophie Lux deutet das Seniorenparadies Florida mit einem luftig-kühlen Luxusappartement an, in dem die Eckert in mal sexy, mal eleganten Kleidern die Frustration, auch Wut, ihrer Lily mit viel Elan ausstattet, was den Konfrontationen mit Meyers Michael natürlich Pepp gibt. Dieser gibt nicht nur in den Choreografien von Daniela Mühlbauer Vollgas, sondern auch im Komödiantischen.

Aus zickigen Tanzpartnern werden beste Freunde fürs Leben: Andrea Eckert und Markus Meyer. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Als Lehrer glaubt er an die ganzheitliche Methode, weswegen er beim Tango „spanish“ lispelt und beim Walzer ins „Gnä’ Frau“ verfällt. Er schwoft und springinkerlt und kommt er durch die Tür, sind ihm die Lacher des Publikums schon sicher. Auch bei der spitzen Bemerkung, Lily schwärmt von einem früheren Wien-Besuch und den liebenswerten Leuten dort, die Österreicher seien ja bekanntlich stets ein anschlussfreudiges Völkchen gewesen …

„Sechs Tanzstunden in sechs Wochen“ im Kasino ist einfach rundum entzückend. „Wie beim Sex kommt alles auf die Ausführung an“, sagt Lily übers Tanzen an einer Stelle. Diesbezüglich ist an diesem Abend alles gelungen. TIPP: „Let’s Dance“ – zum Ende jeder Vorstellung lädt die Band das Publikum in den Ballroom, von denen jeder ein besonderes Motto hat: Am 31. Mai „Love and Peace and Dance“, am 1. Juni „Dance the Savoy“, am 11. Juni „Kasino Night Fever“ und am 16. Juni „Kasino Royal“. Ab 23 Uhr steht dann DJane Colette am Mischpult.

www.burgtheater.at

  1. 5. 2019

Stewart O’Nan: Stadt der Geheimnisse

November 1, 2018 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Nation, aus dem Terror geboren

Während dieser Tage wegen stockender Friedensverhandlungen die Palästinenser-Führung einmal mehr beschloss, Israel die Anerkennung als Staat zu entziehen, berichtet Stewart O’Nan in seinem aktuellen Buch „Stadt der Geheimnisse“ von der Stunde Null vor dessen Gründung. Auf 224 Seiten macht der US-Schriftsteller vor allem eines deutlich: das Gelobte Land ist aus dem Terror geboren. Hagana, Irgun und die Lochamei Cherut Jisrael alias Stern-Bande, „die Verteidigung“, die „Nationale Militärorganisation“ und die „Kämpfer für die Freiheit Israels“, bekriegen die britische Mandatsherrschaft, wo sie sie zu fassen kriegen. Vom Irgun-Anführer und späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin stammt auch das einleitende Zitat: „Der Engel des Vergessens ist ein gesegnetes Wesen.“

Dieses Himmelsgeschöpf hat Protagonist Brand nie gesehen. Er ist, was Gott betrifft, „einer, der nicht wusste, wie man fragt“. Brand ist lettischer Jude, als solcher interniert erst von den Nazis, dann von den Russen, seine gesamte Familie im Holocaust ermordet. 1947 gelangt er nach Jerusalem, und wird mit gefälschten Papieren als „Jossi“ Taxifahrer – im Auftrag der zionistischen Untergrundkämpfer.

Tagsüber fährt er Touristen zu den Besichtigungsstätten ihrer Pilgerreise, nächtens die Terroristen. So beginnt O’Nans düsterer Roman noir über einen persönlichen, wie einen politischen Kampf um Unabhängigkeit – und die Sehnsucht nach dem Erlöschen von Erinnerungen. Alle aber stehen hier am „offenen Grab der Vergangenheit“, und mit einer Szene über die Willkür und Gewalt britischer Soldaten bei einer Verkehrskontrolle, zieht einen der Autor sofort in Bann und mitten hinein in die Atmosphäre der Stadt.

„Die Stadt war ein aus Symbolen zusammengesetztes Puzzle, ein Durcheinander aus Alt und Neu, aus Panzerwagen und Eseln in den Straßen, aus Beduinen und Bankiers“, formuliert O’Nan. Gefahr flirrt in der Luft, während der seelisch Kriegsversehrte von den Schuldgefühlen des Überlebthabenden und von Bildern erlebter Gräueltaten heimgesucht wird, Bildern von „nackten Toten, die wie Schweinekadaver aufeinandergeschichtet waren“, und vom „Kameraden Koppelmann“, der von einem KZ-Aufseher totgetreten worden war. Einmal, da ist Brand vom bloßen Chauffeur bei Einsätzen längst zum Mitattentäter avanciert, denkt er betroffen, er belle die Drohungen und Befehle an die Geiseln im verabscheuungswürdig vertrauten Tonfall dieses Peinigers.

Für „Eretz Israel“ wird ein E-Werk in die Luft gejagt, ein Zug mit Lohngeldern überfallen, ein Major entführt – was gründlich schief geht. Brand ist nur ein kleiner Fisch, in den tieferen Sinn der Aktionen ist er nie eingeweiht, die großen Zusammenhänge erfährt er nach den Anschlägen aus dem Radio, von der „Stimme des kämpfenden Zion“. Dann ist er zwar stolz, dabei gewesen zu sein, aber anders als seine Mitstreiter in der Zelle, der sleeke Anführer Asher, der hinter seiner Brille blinzelnde Lipschitz, die undurchsichtigen, unzertrennlichen Fein und Yellin, der charismatische Gideon, „weigerte er sich, wahrscheinlich, weil er Häftling gewesen war, Hinrichtungen als Waffe zu akzeptieren“. Neben den Männern kommen zwei Frauenfiguren vor – wie es sich für einen Spionagekrimi gehört, eine „geheimnisvolle Blonde“, und Eva, eine Prostituierte mit einer geheimnisumwitterten Narbe im Gesicht, zu der Brand eine komplizierte Beziehung unterhält.

Sie wird sich als involviert, wenn nicht sogar ausführendes Organ, beim Bombenanschlag auf das King David Hotel herausstellen, eine von O’Nan vorgenommene Zeitverschiebung, fand dieses von der Irgun verübte Attentat tatsächlich doch schon am 22. Juli 1946 statt, und während sich für Brand und damit den Leser allmählich entschlüsselt, wer aller zur Organisation gehört, Vermieterin, Lebensmittelhändler, sein Taxiunternehmer-Chef, gibt es innerhalb der Zelle Verhaftungen. Und plötzlich wird ein Verräter gesucht, und es gibt ein Mordopfer mit symbolträchtig herausgeschnittener Zunge …

Bild: pixabay.com

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„Die Stadt der Geheimnisse“ ist eine kompakte, schlicht und umstandslos erzählte Geschichte. O’Nans Schilderungen der Vorgänge hinter den Mauern der Jerusalemer Altstadt sehen durchs geistige Auge wie ein Schwarzweißfilm aus, als wäre dies hier ein literarischen Pendant zu Orson Welles‘ berühmten „Dritten Mann“. Als Subtext ist mitzulesen, wie Weltpolitik in einem Land gemacht wird, in dessen Bewohnern wie Besuchern die ganze Welt zusammenkommt. Der Konflikt, der das Buch in Gang setzt und den Rahmen zur Handlung bildet, das Gesetz, das Brand zum Illegalen macht, ist die jüdische Immigration in Palästina. Beziehungsweise deren Verhinderung durch die Briten, die sich weigerten weitere Visa auszustellen, und deren Blockade der Alija-Bet-Schiffe zur humanen Katastrophe führte. Gerade erst den Lagern entkommene Menschen wurden unter anderem auf Zypern zwangsinterniert.

Antiheld Brands Verlorenheit, der moralische Zwiespalt, in dem er wegen der Anschläge steckt, seine Unsicherheit, wo er stehen muss, soll, kann, verstärkt sich, je mehr der Krieg zu einem der Gesten wird: „Die offizielle Reaktion war ein Tanz der Propaganda. Die Jüdische Vertretung verurteilte die Irgun als Terrortruppe. Begin warf den Briten vor, dass sie nicht auf ihre Warnung gehört hätten, das Hotel evakuieren zu lassen. Die Briten behaupteten, sie hätten keine Warnung erhalten. Für Brand spielte es keine Rolle. Er hatte die Nase voll vom Krieg.“

Auf die Frage „Wie konnte man töten und sich immer noch gerecht nennen?“, diese bis heute, und das das Aktuelle an Stewart O’Nans historischem Roman, zwischen den im – auf die britische Mandatszeit zurückreichenden – Streit liegenden Lagern Israels und Palästinas ungeklärt, findet Brand schließlich für sich eine Antwort. Nicht länger Soldat sein, und auch nicht mehr Häftling, sondern frei. Denn die Mächtigen, so O’Nans Schluss, müssen immer bedenken, dass die Menschen eines wollen – Frieden …

Über den Autor: Stewart O’Nan wurde 1961 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Heute lebt er wieder in Pittsburgh. Für seinen Erstlingsroman „Engel im Schnee“ erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Auch für seine letzten beiden Romane „Die Chance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=10235) und „Westlich des Sunset“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=20041) wurde er von der Kritik gefeiert und eroberte sich in Österreich eine große Leserschaft.

Rowohlt, Stewart O‘Nan: „Stadt der Geheimnisse“, Roman, 224 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Gunkel.

stewart-onan.com

www.rowohlt.de

  1. 10. 2018