Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen
Januar 26, 2018 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Eine fantastisch gruselige Erzählung
Knapp vor seinem neuen Erfolgsroman „Tyll“ erschien von Daniel Kehlmann das schmale Bändchen „Du hättest gehen sollen“, eine im doppelten Wortsinn fantastische Erzählung, mitreißend spannend und von hohem Gruselfaktor. Vorliegt dem Leser ein Notizbuch, ein Ich berichtet darin über die seltsamen Geschehnisse in einem Ferienhaus in den Bergen.
Dorthin hat sich ein Ehepaar samt Kind, man hat die besten Verliebtheitszeiten schon hinter sich, zurückgezogen, weil er – das Ich – an einem Drehbuch arbeitet. Heißt: An der hanebüchenen Fortsetzung von etwas, das schon beim ersten Mal banal war, wie Fernsehen eben so ist. Die Frau, Schauspielerin, lässt es ihm gegenüber an Verachtung nicht fehlen, so erzählt das Ich die Lovestory seiner Figuren parallel zur eigenen Ehegeschichte.
Bald wird klar, dass mit dem Haus etwas nicht stimmt. Immer mehr Gänge, immer mehr Zimmer tun sich auf, Türen führen ins Nichts, „… wir hatten das Wohnzimmer verlassen, aber die Tür, durch die wir gegangen waren, hatte uns wieder ins Wohnzimmer geführt …“
Es gibt Albträume von einer erschreckenden Frau, deren Foto neben der Waschmaschine hängt, leere Fenster, wo ein Spiegelbild sein sollte. Der Gemischtwarenhändler im Dorf fragt: „Schon was passiert?“, eine seiner Kundinnen rät: „Geht schnell weg!“ Im Kinderzimmer ereignet sich scheinbar Grauenhaftes: „… als ich den Flur entlang zum Wohnzimmer ging, hörte ich die Stimme wieder, und sie sprach Worte, fremd und alt, ein Flüstern halb, halb ein Seufzen, und als ich das Zimmer erreichte und auf dem Bildschirm eine große Gestalt sah, die sich über Esthers Bett beugte, war mir, als bliebe mein Herz stehen. Dann erst sah ich, dass ich das war.“

Bild: pixabay.com

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Ebenso wie der Verdacht, dass seine Frau fremd geht, erhärtet sich im Ich-Erzähler auch jener, dass er das Haus nicht mehr verlassen kann. Er bleibt in den vier Wänden wie eingekerkert. „Geh weg“ steht auch in seinem Notizbuch, obwohl er sich nicht daran erinnern kann, es hineingeschrieben zu haben. Und dann das: „Vorhin war ein Mann im Zimmer. Er sah nicht gefährlich aus, eher müde … Ich konnte es nicht gut erkennen, weil er nicht auf dem Fußboden stand, sondern an der Decke, und er sah auf mich herunter, als wollte er um Hilfe bitten …“
„Du hättest gehen sollen“ ist eine raffinierte, abgründige Schauergeschichte. Halb Familiendrama, halb Geisterstory. Und unbedingt für eine Verfilmung geeignet. Des Rätsels Lösung ist, es gibt mehr Dimensionen als die Schulweisheit sich träumen lässt, und Raum und Zeit fordern ihren Tribut. Mehr und mehr wird das Geschriebene zu Halbsätzen, bis … letzten Seiten des Notizbuches bleiben leer …
Über den Autor: Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Sein Roman „Die Vermessung der Welt“ ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden. Zurzeit unterrichtet er an der New York University und ist Fellow am Cullman Center for Writers and Scholars der New York Public Library.
Rowohlt, Daniel Kehlmann: „Du hättest gehen sollen“, Erzählung, 96 Seiten
- 1. 2018