Volksoper: Die Dubarry

September 4, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Babylon Berlin meets Wiener Walzerseligkeit

Endlich zur Mätresse des Königs aufgestiegen: Annette Dasch als Gräfin Dubarry und Harald Schmidt als Ludwig XV. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Kommt man nach der Pause zurück in den Saal, sitzen auf der Bühne bereits Oliver Liebl als Hauslehrer und Annette Dasch, die von diesem vom Arbeitermädchen Jeanne Beçu zur Gräfin Dubarry erzogen werden soll – allerdings nicht für den Hof des französischen Königs Ludwig XV., sondern laut Liebls Zungenschlag eindeutig für den kaiserlichen zu Wien. Da gibt’s freilich viel zu lachen bei diesem Zwischenspiel, wenn der Berlinerin vom Wiener Kaffeeunterricht erteilt wird,

wenn die „Piefkenesin“ an der Knödelfrage „Hauptspeis‘, Zuaspeis‘, Nachspeis‘?“ scheitert, das Hand-Ablecken ist gleich den Handkuss pervers findet, und sich schief lacht über die Anrede „Eiergnaden“. Liebls „Lecker is bei uns goar nix!“ wird von jenem Teil des Publikums mit einem Jauchzer begrüßt, der auch am Schluss für Jubel und Applaus sorgte, während der andere ob des Niveaus indigniert das Leading Team mit Buhrufen bedachte.

Das war sie also die Eröffnungspremiere der Direktion Lotte de Beer an der Volksoper, „Die Dubarry“, mit einem ZuschauerInnen-Unentschieden als Endstand, wobei an dieser Stelle von einem verheißungsvollen Start die Rede sein soll. Hausdebütant Regisseur Jan Philipp Gloger turnt bei seiner theatralen Recherche über die Weibsbilder toxischer Männlichkeit eine Rolle rückwärts, vom Heute in die 1930er-Jahre zum Ende des 19. Jahrhunderts zu Louis Quinze, was weniger mit der von dem betriebenen Beilegung des Habsburgisch-Französischen Gegensatzes zu tun hat, als mit der Zeitlinie, die der Operette eingeschrieben ist:

Der Aufführung des selten gespielten, weil doch ziemlich angestaubten Werks im Jahr 2022, der Originalfassung des österreichischen Komponisten Carl Millöcker anno 1879, der Neufassung vom Deutschen Theo Mackeben von 1931 und der Handlung rund ums Jahr 1769. Entstanden ist so eine frisch aufgebrühte Melange mit dem melodie-verliebten Charme der goldenen Operettenära in der Donaumetropole und einer schmissig-schnoddrigen Revue-Operette à la an der Spree, sozusagen ein Babylon Berlin meets Wiener Walzerseligkeit, eine Konfetti-Explosion voll Witz und Ironie fürs Genre, dessen Dekonstruktion zweifellos – aber durchaus mit dem gebotenen Respekt.

Und in der Titelpartie eine entfesselte Annette Dasch, die mit ihrer Stimme sowieso und ihrem Spiel begeistert, eine grandiose Komödiantin, die ihren Charakter aber auch in Tiefen gleiten lassen kann, wenn es gilt die antiquiert-anzüglichen Frauenfantasien der besseren Herren zu hinterfragen – wobei trotz Feminismus und Büstenhalter-Verbrennung die bittere Essenz des Abends ist, dass Emanzipation bis zum Anschlag immer noch nicht stattgefunden hat. In allen vier Teilen bleibt die Frau mehr oder minder (Sex-)Objekt des Mannes, das alles gut getarnt im Dreivierteltakt als „Weiblicher Reize Macht“.

Los geht’s im Jetzt: Die „Putzmacherinnen“ im Atelier Madame Labille dekorieren Schaufensterpuppen, schwatzen über die neueste Emma-Ausgabe und, dass sie lieber bei Cartier als bei Kik shoppen würden, die Dasch rauscht mit Timbre und Temperament heran. Noch ist sie die aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Jeanne Bécu, doch mit bester Freundin Margot, entzückend quirlig wie stets: Juliette Khalil, schmiedet sie größere Pläne. Die so rotzfrechen wie leichtlebigen Gören haben noch was vor: reiche Männer gegens eigene Elend aufreißen. Ergo raus aus dem Modesalon, rein ins Nachtleben, wo Marco Di Sapia als Graf Dubarry, Daniel Ohlenschläger, Oliver Liebl, Martin Enenkel und Wolfgang Gratschmaier ihr zynisches „Cherchez la femme“ anstimmen, Motto: Klug muss sie nicht sein, aber schön. „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“

Die Putzmacherinnen und die Blaublüter anno 2022, M.: Wolfgang Gratschmaier und Juliette Khalil. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Die Bohème-Romantik kann er sich einrahmen lassen: Annette Dasch und Lucian Krasznec als Maler René Lavallery. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

In den Berliner 1930ern, gestrandet als Sängerin im Bordell: Annette Dasch und Marco Di Sapia als Graf Dubarry. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Im k.u.k.-Reich Seiner Majestät: Martin Enenkel, Wolfgang Gratschmaier, Marco Di Sapia, Annette Dasch und Oliver Liebl. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Vor allem gefällt hier Wolfgang Gratschmaier als Marquis de Brissac, ein in die Jahre gekommener schlitzohriger Don Juan, dessen Ähnlichkeit mit einem bekannten Wiener Rechtsanwalt rein zufällig ist. Gemeinsam mit Khalil wird er in zahlreichen Bravourszenen ein akklamiertes Buffo-Paar abgeben. Margot wird nämlich die Geliebte des alten Gockels und hat sich in den Kopf gesetzt, sich von ihm die Schauspielerei finanzieren zu lassen.

Zwischen kleinen Gags, kurzem Augenzwinkern und dem Schießen von Selfies darf derweil Lucian Krasznec als Kunstmaler René Lavallery seine Schellackstimme strahlen lassen. Es stand hier schon in der Rezension zum „Bettelstudent“ (www.mottingers-meinung.at/?p=19470), dass da einer ziemlich nah an den großen Adolf Dallapozza heranreicht, ein Eindruck, der sich bei seinem Schmachten um Jeanne wiederholt. In ihren Szenen sind Dasch und Krasznec musikalisch als das dramatische Liebespaar der Operette ausgewiesen, auch wenn ihn Besitzgier und häusliche Gewalt fehlleiten und die wichtigste Frage an die Geliebte ist, was sie denn vorhabe zu kochen. Bühnenbildner Christof Hetzer setzt Renés Bohème-Stube in einen blattgoldenen Bilderrahmen, in den –  einmal rausgestiegenJeanne kein Zurück mehr findet.

Denn die Dasch wirft den Würfel mit den zahlreichen Spielflächen selbst immer wieder händisch an, dreht die eigene Geschichte weiter, die Zeituhr zurück in die 1930er-Jahre, wo sie als Sängerin mit Künstlerinnennamen Manon in einem anrüchigen Etablissement auftritt. Alles atmet hier die Exzellenz der Dekadenz, als erneut Marco Di Sapia als eiskalt-eleganter, sinistrer Graf Dubarry erscheint, um der desillusionierten Jeanne, die er sofort als solche erkennt, ein unmoralisches Angebot zu machen: Um sein politisches Ränkeschmieden in Versailles voranzutreiben, will er sie als Gräfin Dubarry zur Mätresse des Königs machen. Schließlich habe sie nicht nur den Körper, sondern auch den Geist, um in dieser monarchisierten Form der Prostitution zu reüssieren.

Und während Dasch in einer De-facto-Vergewaltigungsszene beim Roulettetisch „Ich schenk mein Herz nur dem allein, dem ich das Höchste könnte sein“ singt, zeigt Margot, wie’s mit dem „Der Mann denkt, aber die Frau lenkt“ richtig geht: Sie trotzt dem Marquis de Brissac Luxuslabel-Sackerl um Luxuslabel-Sackerl ab, singt ihm ein fröhliches „Wenn Verliebte bummeln gehen“, während der alte Bock dasteht wie ein Packesel.

Der König der Late-Night-Shows kündigt seinen Gast an: Harald Schmidt als Ludwig XV. Bild: © B. Pálffy/Volksoper Wien

Die Dubarry rockt Versaille: Gi­tar­re­ra Annette Dasch und Harald Schmidt. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Aus dem Schaf wird keine Schauspielerin: Juliette Khalil als Margot. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Am Ende steht die Guillotine: Daschs Dubarry wird zum Opfer der französischen Revolution. Bild: © B. Pálffy/Volksoper Wien

In der zweiten Hälfte der Aufführung findet man sich in Millöckers k.u.k.-Wien wieder, beim „Alles Walzer!“ mit weißroten Gala- und Husaren-Uniformen à la Ungarland. Nach wie vor bewegt sich die nunmehrige Gräfin Dubarry in einer Männerwelt – und gallig klingt der Dasch mit erhobener linker Faust dargebotenes „Ob man gefällt oder nicht gefällt“, von Kai Tietje mit krassen Dissonanzen und gehetztem Rhythmus dirigiert, derweil sich die Szenerie vom neuen Resident Lichtdesigner Alex Brok ins Teuflische, Albtraumhafte verändert.

Nicht nur die Herren liefern Großteils mehrere Rollen ab, die großartige Ulrike Steinsky wechselt von Couturière Madame Labille über Bordellbesitzerin Marianne Verrières bis zur Marschallin von Luxemburg von Chefinnen-Gekeife über Raucherlungen-Tonfall zu Paula-Wessely’schem Schönbrunner Näseln. Der Steinsky gelingt jedes dieser Kabinettstücke vom Feinsten, immer toller werden die Kapriolen, die sie macht, und auffällt, wie präzise und exquisit die „Nebenfiguren“ geführt sind.

Zu guter Letzt: Auftrittsapplaus für Harald Schmidt als Ludwig XV. im Epoche-gemäßen Justaucorps, Annette Dasch mit Cul de Paris, endlich der Moment, an dem sich Kostümbildnerin Sibylle Wallum austoben durfte. Und Volksopern-Debütant Schmidt macht gar nicht den Versuch majestätisch zu sein. Die Entertainerlegende spielt sich selbst als König der Late-Night-Shows (auch der echte Ludwig XV. verstand es, sich als le Bien-Aimé zu inszenieren), er „dirigiert“ das Orchester wie Helmut Zerlett und die ARD-Showband, stellt ganz Talkmaster seinem Volk als Gast die Dubarry vor – und dieser dann dumme Fragen, die sie mit einem „Glauben Sie nicht, dass das ziemlich erniedrigend ist?“ quittiert.

Worauf der absolutistische Herrscher übers Ancien Régime der Fernsehunterhaltung sich bis über beide Ohren verliebt. Ein Gag über einen Film, den Johnny Depp als ER/Ludwig XV. gerade in Frankreich dreht, darf auch nicht fehlen. Die neue Favoritin des Königs singt als „Gstanzl“ mit Gitarre noch einmal „Ich schenk mein Herz nur dem allein, dem ich das Höchste könnte sein“, bevor beim beliebten Schäferspiel alle in den Gassenhauer „Ja, so ist sie, die Dubarry, wer sie einst sah, vergisst sie nie“ einstimmen. „Das hisst das Regietheater die weiße Fahne, und ich spüre Originaltext in mir aufsteigen“, flachst Schmidt und schließt so den Kreis zum ersten Bild.

Satire as Satire can. Mit tausend und einer Idee lässt Jan Philipp Gloger die Operette einen g’feanzten Blick auf die eigene Beschaffenheit werfen. Charmant und sympathisch wie Lotte de Beer hat sich ihr neues Team schon mal in die Hälfte der Herzen hineingespielt. Also: Alles Friede, Freude, Eierkuchen, Eiergnaden? Mitnichten, denn Gloger, der in der Aufführung immer wieder auch auf die Täterin-Opfer-Brüche der Person Dubarry hinweist, erzählt ihre Geschichte anders als Millöcker und Mackeben zu Ende. In der Volksoper wird sie dazu mitten im Trubel des Hofballs von Schergen der französischen Revolution abgeführt, wird ihr die bombastische Perücke vom Kopf gerissen – und ab unter die Guillotine.

www.volksoper.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=dH0k4fzsV8Y           Harald Schmidt über König Ludwig XV.: www.youtube.com/watch?v=ejo1alus1RU

TV-TIPP: Heute Abend ist die gestrige Volksopern-Premiere von „Die Dubarry“ um 20.15 Uhr auf ORF III zu sehen.

4. 9. 2022

Sibylle Berg: Nerds retten die Welt

April 4, 2020 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Gefinkelte Fragen einer versierten Untergangsprophetin

„Haben Sie sich heute schon um die Welt gesorgt?“ – mit dieser Frage beginnt Sibylle Berg die 17 Gespräche, die sie mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt zum Akutzustand ebendieser geführt hat. Permanent mit News und deren Fakes, alternativen Wahrheiten und multistabilen Wahrnehmungen konfrontiert, die weder einzuordnen noch auszuwerten sind noch zu einem wie-auch-immer Handeln befähigen, versucht die Schriftstellerin sozusagen zum Erdkern vorzudringen.

Während der Arbeit an ihrem Roman „GRM“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34122)  sprach Sibylle Berg über zwei Jahre hinweg mit Expertinnen und Experten aus verschiedensten Disziplinen – mit Systembiologen, Neuropsychologen, Kognitionswissenschaftlern, Meeresökologen, Männlichkeits- Konflikt- und Gewaltforschern. Über einen Befund aus ihren Fachgebieten. Und über Ideen für eine Zukunft, die sich nicht wie ein Albtraum ausnimmt.

Was kommt nach der Demokratie? Warum lieben Diktatoren Krisen? Welche Folgen hat Femizid? Kann man als Frau religiös

und emanzipiert sein? Kann man alle Menschen zu Vegetariern machen? Wann wurde außerirdisches Leben entdeckt? Warum wissen wir so wenig über Nekrophile? Warum ist Coden ein Männerding? Was soll man gegen den aufkommenden Faschismus tun? Gegen schmelzende Gletscher? Gegen Überwachung? Gegen Gentrifizierung und die Verknappung des Wohnraums? Wie sich wehren gegen Parolen, die den Verstand beleidigen? Wie verhalten zu einer Politik des Spaltens, die gerade ein globales Erfolgsmodell zu sein scheint? Was bedeutet die digitale Revolution? Und gibt es eigentlich noch Hoffnung?

Berg stellt gute Fragen und bekommt noch bessere Antworten, und tatsächlich an keiner Stelle lässt die Tagesaktualität – #Corona – die Texte alt aussehen. Berg bricht die speziellen Kompetenzen ihrer Interviewpartner auf Normalverstand herunter. Frech und frei von der Leber weg redet sie mit Politologin Valerie M. Hudson über Geschlechterungleichgewicht, Misogynie als Folge monotheistischer Religionen, Gewalt gegen Frauen als eine Form von Terrorismus und Kinderkriegen ohne Spermien.

Mit Ingenieurin Odile Fillod ortet sie statt des sprichwörtlichen Penisneids eine männliche Angst vor der Klitoris, dieser reinen Dienerin „der sexuellen Lust von Frauen, ohne Beziehung zur Fortpflanzung und zu dem, was Männern Freude bereitet“, und durch die Entdeckung des G-Punktes die Zerstörung des „Zauberstab“-Mythos. Dass die beiden angesichts von der WHO geschätzten jährlich drei Millionen Genitalbeschneidungen an Mädchen den Kampfruf „Osez le clito! / Wagt euch an den Kitzler!“ ausgeben, ist ebenso sibyllen-systemimmanent, wie ihre Frage an die laut Selbstbeschreibung „ausgelaugte Optimistin“ Hudson, wie man zugleich Mormonin und Feministin sein könne.

Auch Bonmots à la „Das Aussterben der Menschheit ist ja auch kein Spektakel, dem man öfter beiwohnt“ sind typisch Berg. Die versierte Weltuntergangsprophetin erweist sich als gewohnt scharfsinnig, melancholisch bis pessimistisch – „Sorge ist mein zweiter Vorname“ –, kokett selbstverliebt und tendenziös sarkastisch. Und zeigen ihre Gegenüber dunkle Perspektiven und dystopische Situationen auf, fühlt sich die Berg in ihrem Lieblingsfeindbild, der neoliberalistischen Brave New World mehr als bestätigt. Dann erst ist ihr richtig wohl.

Bild: pixabay.com

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„Nerds retten die Welt“, und Sibylle Berg reiht sich selbst in diese Spezies, ist ein wilder Ritt auf einer genialen Achterbahn, die einem gleich dieser Jahrmarktsattraktion akademisch das Gehirn durchwirbelt. Besonders schön sind die Gespräche, in denen Berg vom Hundertsten ins Tausendste kommend einem das U mit dem X nicht vormacht, sondern verbindet. Das passiert etwa mit Robert Riener, seines Zeichens Spezialist für Sensomotorische Systeme, mit dem es von Robotik und virtueller Realität direttissima zu Terminator und Iron Man geht, mit Neurobiologe Iddo Magen beim Philosophieren über des Cannabis‘ Fluch und Segen, mit Dirk Helbing, er ist Professor für Computational Social Science, beim Herstellen eines Konnex‘ von Big-Data-Diktatur, Flüchtlings-„Krise“ und Konsumlethargie.

Und natürlich muss Berg mit Systemtheoretiker und Science-Slammer Lorenz Adlung über „die Abnahme der Intelligenz der Menschheit“ lästern. Persönliche Favoriten, Stichwort: Nerd, sind der Gedankenaustausch mit dem Meeresökologen und Tier- und Naturschutzaktivisten Carl Safina und mit Astrophysiker Abraham „Avi“ Loeb. Safina, weil er voll Empathie vom Kichern gekitzelter Ratten erzählt, weil er sich ärgern kann, dass so viele Menschen sich scheuen, Tieren Emotionen zuzusprechen, und weil er fordert, dass, wer Fleisch essen will, das Vieh doch selber schlachten soll.

Loeb, weil der Alien-Gläubige, der erwartet noch zu Lebzeiten beim ersten Kontakt mit Extraterrestriern dabei zu sein, beim Schwadronieren über Gott und den Kosmos den berühmten Breslower Rabbi Nachman zitiert: „Die ganze Welt ist lediglich ein sehr schmaler Steg, und das Entscheidende ist, keine Angst vor ihm zu haben.“ In diesem Sinne also. Ist dieses Buch eins für alle, die wissen wollen, ob wir noch zu retten sind.

Über die Autorin: Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 25 Theaterstücke, von denen zwei in Wien zu sehen waren, „Nach uns das All oder Das innere Team kennt keine Pause“ am Volkstheater (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33385) und „Hass-Triptychon – Wege aus der Krise“ bei den Wiener Festwochen (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33485), und 14 Romane, die in 34 Sprachen übersetzt wurden. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, unter anderem, den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor 2019 sowie den Thüringer Literaturpreis 2019, den Nestroypreis für das Beste Stück („Hass-Triptychon“) 2019, den Bertolt-Brecht-Preis 2020 und den Schweizer Grand Prix Literatur 2020. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch „GRM. Brainfuck“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34122).

Kiepenheuer & Witsch, Sibylle Berg: „Nerds retten die Welt“, Gespräche, 336 Seiten.

Video: www.youtube.com/watch?v=ITE5kBpcyw8

www.kiwi-verlag.de           www.sibylleberg.com

  1. 4. 2020

Theater zum Fürchten: Höllenangst

Januar 11, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zeitlebens im Joch der Lohnarbeit

Dies großartige Vater-Sohn-Gespann landet auf dem Weg nach Rom natürlich im nächsten Wirtshaus: Philipp Stix und Bernie Feit als Wendelin und Schuster Pfrim. Bild: Bettina Frenzel

In der verpflichtend vorgeschriebenen Zeitstrophe geht es diesmal allerdings darum, was die an Anspielungen alles nicht beinhalten muss, Rattenlyrik, Liederbuch, Ibiza, andere Einzelfälle, damit ein Theater „Haltung“ beweist. Und dann lässt Bruno Max kurz vor Schluss Peter Fuchs als Staatssekretär auftreten. Ein Publikumslachkrampf, gleicht der Schauspieler doch konstitutionstypisch, von Augenglas bis arrogantem Grinsen, jenem Ex-

Innenminister und Polizeipferdefreund, der erst gestern wieder im Nationalrat eine seiner Attacken ritt, – und ordnet auch noch eine diskrete Hausdurchsuchung beim Oberrichter an. Gestern also ging’s nicht nur in der Politik um Metternich, totale Macht und faule Kompromissler, das Theater zum Fürchten zeigte zum 25-Jahr-Jubiläum seines Bespielens der Scala die Wien-Premiere von „Höllenangst“. Der Prinzipal höchstselbst hat die Nestroy-Posse inszeniert und gemeinsam mit Marcus Ganser den Raum geschaffen, in dem das bewährte TzF-Ensemble nun agiert. Klar, kann’s bei Bruno Max beim höllischen Spaß nicht bleiben. Er macht die Komödie zur First Class Farce über Proletariat, Prekariat, Neopauperismus, dies wohl ganz im Sinne des Autors.

Jedoch versteht er es auch, dessen Charakteren etwas Karikaturhaftes anzuhaften. Anno 2020 und angesichts der verschwurbelten Handlung ist die Persiflage ein überaus legitimer Ansatz, das von den Zeitgenossen wegen zu viel Spiegelvorhaltung verhasste Nachmärz-Stück, das nach 100-jährigem Dornröschenschlaf 1948 in der Scala Wien – anderer Ort, ähnliche Progressivität – von Karl Paryla zu neuem Leben erweckt wurde, dem Bruno Max nun zwischen tragikomischer Schicksalsergebenheit und vollmundigem „Meuterei!“-Geschrei einen aktuellen Rock anlegt. Im Sinne von modern, aber nicht modisch zeigt er, wie die Freiheit ein paar Freiheiterln geopfert wird, das Volk längst nicht mehr in der Verfassung, die Einhaltung derselben zu fordern.

Johanna Rehm und Philipp Stix. Bild: Bettina Frenzel

Matthias Tuzar und Magdalena Hammer. Bild: Bettina Frenzel

Peter Fuchs und Leopold Selinger. Bild: Bettina Frenzel

Dort, wo bei Nestroy ein vermeintlicher Satanspakt die gesellschaftlichen Ketten bricht, ist beim TzF ein rahmendes Bild zu sehen. Am Anfang wie Ende stecken die Menschen tief im schwarzen Loch der Fabrik, erst Arbeitssklaven der ausbeuterischen „Strombergs gute Schuhe“-Firma, schließlich vom nunmehr Kapitalisten Reichthal – mit zwar amikalem Schulterklopfen – zurück ins Fließband-Joch der Lohnarbeit gedrückt. Mehr Brechtisches braucht Bruno Max nicht, die Verhältnisse, sie sind schon so, die grundschlechten Leut‘ schikanieren die armen Teufel und armen Narren – zwei davon Vater und Sohn Pfrim, Bernie Feit als permanent ang’flaschelter Flickschuster und Philipp Stix als mit seinen Dämonen ringender, von sich selbst gestellten Wünschen und Forderungen getriebener Wendelin.

Die beiden Darsteller in dieser supersympathischen, sehr amüsanten Aufführung die komödiantischen primi inter pares, vor allem Feit macht aus der Rolle ein versoffen-philosophisches Kabinettstück, das muss erst einmal einer bringen, wieder und wieder durch die Tür zu torkeln, und immer noch ist es lustig. Die TzF-„Höllenangst“ fährt ein ebensolches Tempo, gespielt wird zwischen Sarkasmus, Stunt und Slapstick, Bernie Feit die Pointenschleuder, der seine Umgebung statt mit dem Schusterhammer mit seinen Wuchtln weichklopft, Philipp Stix mit einer Umverteilungsansprache seinen Wendelin als sozialistischen Revolutionär deklarierend. Das Motto heißt: „The Floss“ tanzen und Outrieren bis der Arzt kommt, alle balancieren hier ständig am Rande des Nervenkasperls, aber ehrlich, wie sonst sollte die gegenwärtige Politburleske auf einer Bühne zu toppen sein?

Ein fabelhafter Fürst der Finsternis aka Oberrichter von Thurming ist Matthias Tuzar, virtuos in der Körpersprache, wenn er bei seinem Böser-Geist-Spiel schamlos übertreibt, was dem in Furcht und Schrecken versetzten Wendelin als einzigem nicht zu denken gibt, oder er als fickriger Verliebter die juridische Respektsperson sofort ablegt, sobald sein frisch angetrautes Eheweib ihre Rechte anmeldet. Tuzar turnt mit Bravour durch die wilde Jagd, auf die Bruno Max ihn schickt, TzF-Debütantin Magdalena Hammer ist seine heißblütige Baronesse Adele, die sich nach renitenten Kräften gegen das ihr vom garstigen Vormund bestimmte Novizinnen-Los wehrt.

Ein Jedermann’scher Herzgriff des vermeintlichen Teufels: Matthias Tuzar und Philipp Stix. Bild: Bettina Frenzel

Die vor Angst um ihr Leben bibbernden Pfrims: Sibylle Kos, Philipp Stix und Bernie Feit. Bild: Bettina Frenzel

Der flüchtige Freiherr von Reichthal bei den Pfrims: Sibylle Kos, Georg Kusztrich und Bernie Feit. Bild: Betina Frenzel

Fürs Schuhfabrikvolk bleibt sich’s unter jedem Regime gleich: Kusztrich, Rehm, Feit, Sibylle und Stix. Bild: Bettina Frenzel

Diesen Freiherr und Schuhfabrikanten von Stromberg gestaltet Leopold Selinger als sleeken, teflonbeschichteten Machthaber, sein Gehabe so gegelt wie sein Haar, und wie er da so im Führerbunker neben Peter Fuchs steht, ist jede Ähnlichkeit mit real existierenden Volksverdrehern, äh, -vertretern freilich rein zufällig. Mit Georg Kusztrich als flüchtigem Freiherr von Reichthal hat Selinger einen starken Widerpart. Sibylle Kos ist grandios als Pfrim-Ehefrau Eva, die dem Leibhaftigen im Herrgottswinkel zu entfliehen versucht. Johanna Rehm ist als Baronessen-Zofe Rosalie – in einem der wunderbaren Kostüme von Anna Pollack – ein hinreißend-sexy Kammerkätzchen, das in Windeseile vom Schnurren zum Krallen-Ausfahren wechseln kann.

Michael Werner, Leonhard Srajer, Philipp Schmidsberger und Valentin Ivanov runden als Fabriksmalocher, Gendarmen, Erscheinungen den Cast ab. Tuzars Thurming treibt Stixs Wendelin mit einem Jedermann’schen Herzgriff zum Äußersten, gemeinsam mit Feit-Pfrim begibt er sich auf Pilgerreise nach Rom, die mit dem was Wein betrifft pragmatischen Vater in der nächsten Wirtsstube endet. Alldieweil decken nicht Smartphone-Chats, sondern gute alte Briefe die Intrige Strombergs auf – Happy End einer tumultösen Geschichte! Den Teufel, der im Detail steckt, hat das Theater zum Fürchten mit dieser Arbeit spielfreudig bezwungen. Diese „Höllenangst“ ist mit ihrem gekonnten Mix aus Sozialkritik, Politsatire und Komödie ein Spektakel der Extraklasse.

www.theaterzumfuerchten.at

  1. 1. 2020

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck

Juli 22, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Definitiv keine Dystopie

„Das ist keine Dystopie“, richtet die Autorin ihren Lesern via Klappentext aus, und damit hat sie definitiv recht. Frau Berg, im Wortsinn eine Sibylle, mixt auch in ihrem aktuellen Roman „GRM. Brainfuck“ Fakt und Fiktion und jede verfügbare Verschwörungstheorie zu einem Cocktail so explosiv, wie den nach Wjatscheslaw Molotow benannten. Alles an „GRM“ ist too much, too loud, too exaggerated, ein Überforderungsbuch, das seine Motive in Endlosschleife wiederholt, und dabei die diesen innewohnende Realsatire als Sprachschmutz verschleudert.

Daher nämlich der Titel: „GRM“ klingt bei Ausruf nicht nur wie die verbitterte Entäußerung einer Comicfigur, sondern meint Grime, einen in Großbritannien erfundenen Musikstil zwischen HipHop und Dubstep, „wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben“, und dass der Begriff Crime leise mitgroovt, ist garantiert voll Absicht. Schauplatz der Handlung: erst fucking Rochdale, „ein Ort, den man ausstopfen und als Warnung in ein Museum stellen müsste“, später London. Die Protagonisten: vier vernachlässigte, verwahrloste Jugendliche. In Kürzestsätzen und Satzfragmenten, die Wortwahl markig, die Absätze und Enden gewählt willkürlich, stellt Sibylle Berg ihre Viererbande vor:

Die dunkelhäutige Don, klein, wütend, lesbisch, ohne Interesse daran, eine Ghetto-Frau zu werden; die asiatisch anmutende Hannah, mit der herausragendsten Eigenschaft Egozentrismus; die hochbegabte Karen, wegen eines Gendefekts Albino, und Autist Peter, dieser, so wird sich später herausstellen, von michelangelesker Schönheit. Berg taggt ihr sarkastisches Gegenwartsgraffiti wie den Teufel an die Wand, Unterschicht und untergehende Mittelschicht im Sozialbau, eine Generation der Abgehängten, die sich die Tristesse mittels ihrer High-Tech-„Endgeräte“ schönflimmert. Alles am Szenario der versierten Untergangsprophetin ist desolat, deformiert, trostlos – und so nah am Heute, dass man bitter auflachen muss.

Nun wird den Zweck- und Zwangsfreunden in weiterer Folge Unrecht getan. Väter in Ausweglosigkeit erhängen sich, Mütter prostituieren sich für ein reicheres Leben an der Seite eines russischen Unternehmers, Erziehungsberechtigte ertrinken in Aggression, Alkohol und Drogen. Was beispielsweise Hannah widerfährt, ist tatsächlich passiert. 2012 haben pakistanisch-stämmige Jungs in Rochdale Mädchen erst vergewaltigt, dann als deren Zuhälter an Freier verkauft. Als der letzte Erwachsene aus dem Blickfeld verschwindet, macht sich das Quartett auf nach London. Im Gepäck eine abzuarbeitende Todesliste ihrer Peiniger.

Dieses Handlungsgerüst umhüllt Berg mit einer neoliberalistischen Brave New World, in der sie von der Erschaffung der AI bis zur Manipulation des ZNS nichts, aber auch wirklich nichts auslässt, was es im 21. Jahrhundert bis dato an politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftspolitischen Auswüchsen aufs Korn zu nehmen gilt. „Zunehmend wurden die Länder des Westens von absurd albernen Diktatoren regiert“, heißt es da, während China längst – Verschwörungstheorie Nummer 569 – die Weltmärkte übernimmt, bis diese ein Eigenleben entwickeln wie Frankensteins Monster. Weder lässt Berg den Klimawandel aus, noch ein von einem sinistren Politiker geplantes Massensterben durch multiresistente Keime, noch die Gedanken eines Hirschs bei dessen Erschießung durch eine Jagdgesellschaft.

Bild: pixabay.com

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Und weil man sich grad so gut wälzt im apokalyptischen Sozialporno, serviert die Berg grenzgenialisch ein neues Feindbild – da „die große Umvolkung – der weiße Mensch, der durch den Araber ausgetauscht werden soll – nicht stattgefunden“ hat, stattdessen die Armen. Deren Slum-Gräueltaten nun medial ausgeschlachtet werden. „Die Verachtung der Kapitalisten gegenüber den Armen hatte sich institutionalisiert. Obdachlose, Arbeitslose, Arbeitsunfähige, Kranke, Schwache mussten akribische, nicht nachvollziehbare bürokratische Schwachsinns- anforderungen erfüllen, um einen Minimalbetrag zu erhalten, der ihre Lebensfunktionen aufrechterhielt. Der unverwertbare Teil der Gesellschaft konnte durch kleine Formfehler sämtliche Unterstützung verlieren …“

Der brave, kleine Mann hingegen wird mit einem Chip am Handgelenk versehen, wahlweise auch mit Bodycam, ein totaler Überwachungsapparat mit einem belohnenden Punktesystem: „Der Kunde blickte in eine Kamera. Das Gesicht wurde an die Datenbank übermittelt, in Sekundenbruchteilen ein Chip mit den Daten des Betreffenden geladen. Geräte-IDs, biometrische Passangaben, Konten, Adresse, Krankheitsakte, Strafregister, sexuelle Vorlieben, Freundeskreis, Familie, soziale Auffälligkeiten, Vorstrafen.“ Der Untertitel „Brainfuck“ ist der Name einer real existierenden, esoterischen Programmiersprache, die all dies ermöglichen soll.

Mit einer Brutalität hart an der Grenze des Erträglichen, jede Bemerkung eine berserkerte Pointe, alle zusammen ein schwer zu überlebendes Flächenbombardement, erweitert Berg ihre Anfangsvier um Dutzende Figuren, ein vulgärer Menschenzoo, von der Hackergruppe „Die Freunde“ bis zum mysteriösen Ma Wie, von MI5 Piet bis zur künstlichen Intelligenz Ex2279, vom Rich Kid Thome, dieser nicht nur in sexuellen Belangen pervers, siehe: Säurebad für die Stiefmutter, bis zu seinem Vater, der das Amt des Premierministers anstrebt. Später wird klar werden, welche IT-Maschine hier alle steuert.

Alldieweil aber betrachten die Kinder erstaunt die Begeisterung der Menschen für ihre (geistige) Beschränkung: „Menschen mit verschlissener Kleidung, schlechten Zähnen, aufgedunsenen Gesichtern, von Alkohol gezeichnetem Blick tanzten geradezu ausgelassen in die Nacht. Sie hatten wieder einen Glauben an ihre Regierung. Einen Stolz auf ihr Land, Stolz, Brite zu sein. Stolz, Teil eines weltweiten Reiches zu sein.“

Den Hacker-„Freunden“ gelingt es schlussendlich tatsächlich, das staatliche Überwachungssystem zu outen, und das ist der letzte traurige Höhepunkt in „Grime“. Die Leute können sich plötzlich auf den öffentlichen Bildschirmen sehen und dazu die auf ihren Chips gespeicherten Informationen lesen. Die Demokratie enttarnt sich als Fake, der neue Regierungschef agiert via Avatar. Doch, was Wunder?, statt Empörung und Aufstand freut sich jeder Geoutete über seine 15 minutes of fame in den Social Media. Womit der Begriff SM eine völlig neue Bedeutung bekommt. Und Sibylle Berg einen Roman erschaffen hat, der mit großem Zorn auf den Status Quo die Klassenfrage stellt. Ein Roman, der sein „Fuck it!“ mit einem „Kümmert euch umeinander!“ verbindet. Wie sich die Bilder gleichen. Schließlich könnte Europa bald flächendeckend so aussehen, wie die Sibylle es gesehen hat.

Über die Autorin: Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 25 Theaterstücke, von denen zwei vergangene Saison in Wien zu sehen waren: „Nach uns das All oder Das innere Team kennt keine Pause“ am Volkstheater (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33385) und „Hass-Triptychon – Wege aus der Krise“ bei den Wiener Festwochen (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33485), 14 Romane und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg fungierte als Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, unter anderem den Wolfgang-Koeppen-Preis (2008), den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (2016), den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2019) sowie den Thüringer Literaturpreis (2019).

Kiepenheuer & Witsch, Sibylle Berg: „GRM. Brainfuck“, Roman, 640 Seiten.

Video: www.youtube.com/watch?time_continue=157&v=gaZo0Kd_9kI

www.kiwi-verlag.de           www.sibylleberg.com

  1. 7. 2019

Wiener Festwochen: Hass-Triptychon

Mai 26, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Abgefucktes Altarbild mit aggressiver Troll-Truppe

Bruno Cathomas (re.) und seine Trolle Jonas Grunder-Culeman, Johannes Meier, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian und Çiğdem Teke. Bild: © Judith Buss

Wenn Aufregerregisseur Ersan Mondtag einen Text von Aufregerautorin Sibylle Berg inszeniert, darf man sich schon Besonderes erwarten, etwas schräg, schrill, Schreiendes, und tatsächlich – diesbezüglich enttäuschte der Berliner Theatermacher, der vergangenes Jahr bei den Wiener Festwochen die Gemüter mit seiner außergewöhnlichen Ratten-„Orestie“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=29002) beunruhigte, auch heuer nicht.

Am Volkstheater, ein Haus, um dessen Leitung in der Nachfolge Anna Badoras sich Mondtag übrigens beworben hat, brachte er Bergs „Hass-Triptychon – Wege aus der Krise“ zur Uraufführung, und malt deren düsteres Sittengemälde mit den ihm eigenen opulenten Farben aus. Wofür ihm Bühnenbildnerin Nina Peller eine Riege Pappmaché-Häuser hingestellt hat, die immer gleiche Fassadenprojektion eine gespenstische Ruine, und damit’s entsprechend spooky bleibt, darf sich manch Zuschauer vor seinem Sitznachbar gruseln – an die zwanzig Skelette, die im Schwarzlicht vor sich hinglimmen, die Bildungsschicht bis auf die Knochen verwest, denn Berg, berühmt-berüchtigte Sibylle grotesk-dystopischer Gesellschaftsprophezeiungen, siehe ihr aktueller Roman „GRM“, siehe ihr derzeit im Volx/Margareten zu sehendes Stück „Nach uns das All“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=33385), führt das Publikum in eine Prekariatswelt, eine Stadt an einem Autobahnzubringer, deren Bewohner die sogenannten Wohlstandsverlierer – und außerdem: Trolle sind.

Mit buntem Aufwärtshaar, Spitzohren und mitunter von Kostümbildnerin Teresa Vergho zum Muskelberg ausgepolstert. Auftritt Benny Claessens als „Hassmaster“, der im weißen Mantel und mit weißer Langhaarperücke aus einem Kanaldeckel kriecht und sich eine Zigarette anraucht. Auf den Zuruf der Souffleuse, dies doch bitte nur hinterm Eisernen Vorhang zu tun, antwortet er mit einem symbolbrechtigen Einreißen der „vierten Wand“. Er singt ein Liedchen, ist die Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater doch dank der Musik von Beni Brachtel, der Berg-Gedichte vertonte, als Anti/Musical ausgewiesen, er hüpft herum und skandiert dabei: „Theater – Realität – Theater – Realität“. Dies nicht der einzige Verweis auf Künstlichkeit, Mondtag, lässt sich interpretieren, befördert die Trolle zurück in ihre Onlineforen, wo sich die Hater hinter Nicknames verstecken, wenn sie ihre Aggressionen virtuell aufbauen.

Bild: © Judith Buss

Bild: © Judith Buss

Bald nämlich entpuppt sich die Truppe als Häufchen Hoffnungsloser, von der „Alkoholikerin der Herzen“ über den auftrainierten Content-Produzenten, vom Schwulen, der von „Teilzeitscheißjobs“ leben muss, über Digitalisierungs- und Outsourcingopfer zum desillusionierten Jugendlichen zum drogenrauschigen Kotzbrocken – und sie alle erzählen in aberwitzig zynischen Schimpftiraden von Missgunst, Ressentiments, Zorn und Zerstörungswut. Bruno Cathomas, Jonas Grunder-Culeman, Johannes Meier, Abak Safaei-Rad, Aram Tafreshian und Çiğdem Teke gestalten diese Trollarmee. Die Schau ist aber Benny Claessens, sein vulgäres Spiel bildet den Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung, wenn er, nur einen knappen Slip am silberglitzernden Körper, tanzt und sich lasziv räkelt, ein Herr über den Überrest der Menschheit.

Benny Claessens als weißer Hassmaster im Troll-Land. Bild: © Judith Buss

Ihnen allen gemein ist die Lethargie und die Langeweile des Sonntags, dies der erste Flügel dieses abgefuckten Altarbildes, und so wächst die Sehnsucht nach einem Montag, der Erlösung in Form von klar strukturierter Erwerbsarbeit bringen soll. Doch kaum ist der Montag im zweiten Flügel angebrochen, sehnt man sich bereits wieder nach dem Wochenende, also den Blick auf den dritten und letzten gerichtet, in dem der Hassmaster endlich zu den Waffen ruft.

Damit man real ausleben kann, was bisher nur im Internet möglich war. „Mit jedem Tag werden wir wütender“, lässt dieser Chor der Abgehängten wissen, während er sich vom digitalen Störfaktor zur veritablen Gefahr entwickelt. Das kann Sibylle Berg: Gegenwartsdiagnosen abliefern, die so fatalistisch wie treffsicher sind, und Ersan Mondtag liefert ihr die messerscharfen Bilder dazu.

www.festwochen.at

26. 5. 2019