Teatrul Naţional Radu Stanca Sibiu zeigt Thomas Perle

Oktober 24, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

 „LIVE“: Digitales Theater zum Zustand Europas

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

„Identitätshinterfragung und mediale Manipulation“ nennt der in Wien lebende rumäniendeutsche Autor Thomas Perle (Rezension seines Stücks „mutterseele“: www.mottingers-meinung.at/?p=24193, „karpatenflecken“ wird im Dezember am Burgtheater zu sehen sein), „Identitäts- hinterfragung und mediale Manipulation“ also nennt Perle die Grundideen seines aktuellen Projektes „LIVE“.

Wie manifestiert sich Wahrheit im Internet? Wie funktioniert ebendort die Beeinflussung? Perle lässt in seinem Text die Grenzen zwischen der viel beschworenen neuen Realität und der Fiktion verschwimmen – und hat mit Bobi Pricop am Teatrul Naţional Radu Stanca im rumänischen Sibiu einen Regisseur gefunden, der es ihm gleichtut. „LIVE“ ist ein Medienhybrid, ein Theaterstück von cineastischer Ästhetik, konzipiert für den digitalen Raum. Fünf Episoden, in denen aktuelle europäische soziologische Themen beleuchtet werden, ein Abend, der auf der Bühne für eine begrenzte Anzahl von Zuschauern stattfindet und gleichzeitig per Online-System einem Publikum im Netz zugänglich gemacht wird.

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

Womit man auch von Österreich aus dabei sein kann. Gespielt wird in deutscher und rumänischer Sprache, mit den jeweils gegenteiligen und englischsprachigen Untertiteln. Die Schauspielerinnen und Schauspieler Johanna Adam, Yannick Becker, Emőke Boldizsár, Daniel Bucher, Anca Cipariu, Fabiola Petri, Daniel Plier, Valentin Späth und Ali Deac erzählen in den fünf Szenen Geschichten, die in enger Verbindung mit ihren persönlichen stehen. „Die in der Show beschriebenen Charaktere und Situationen spiegeln die Gedanken und Anliegen des gesamten Teams wider“, so Bobi Pricop über sein Work-in-Progress.

Und so ist man dabei, wenn eine aufgelöste Spielplatzmutti durch die nächtlichen Straßen irrt. Ihre Tochter wäre von einem Jungen belästigt worden, aber das sei doch kein Grund, dass dessen Mutter ihn bei Beschwerde so verprügle. Die zugeschalteten Kommentare reichen vom empörten „Leute, was passiert da mit uns?“ bis zum „Verkaufe Kinderbettwäsche“ … und Bildstörung … Beim einem Online-Spiel wird sich über Grenzen hinweggesetzt, nicht nur Landes-, sondern auch die von „Kill ihn! Schick‘ mir Kristalle! Benutze den Schild!“ Bis die Kombattanten im virtuellen Raum ihr wahres Ich erkennen, und eine zarte Love Story beginnt.

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

#Corona-Theater im besten Sinne ist es, was hier geboten wird, in rotes Licht getauchte Kamerafahrten zeigen eine auf vier Kojen unterteilte Bühne, in denen je ein Darsteller, eine Darstellerin samt Technik-Team sitzt. Bei perfektem physical distancing wird per Laptop und Handy interagiert. „Ausgehend von unserer Frage nach Identität in der Krise kam die wirkliche Krise in Form der noch andauernden Pandemie“, kommentiert Perle das Gezeigte.

Eindrücklich ist derart ein Online-Bewerbungsgespräch, Fabiola Petri  und Daniel Plier, in dem sich eine multilinguale, rumänische IT-Spezialistin bei einem offenbar deutschen Jobvermittler vorstellt. Der der hochqualifizierten Frau mit überheblichen Sätzen wie „Es ist nichts Schlimmes daran, das Berufsfeld zu wechseln“ oder „Das sind nun einmal die Stellen für Menschen aus Ihrem Land“ Arbeit als Erntehelferin oder in der Pflege anbietet. Eine Diskussion, die sie „erschöpft, leer und sich wertlos fühlend“ beendet.

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

Oder jenes Handy-Telefonat eines deutschen Chirurgen, Ali Deac, mit einer in Rumänien lebenden Mutter, ihr Sohn sei am Arbeitsplatz verunfallt und schwerstverletzt und sie müsse 900 € für die Kosten seiner medizinischen Behandlung überweisen. Lange lässt die Frau mit den schreckgeweiteten Augen auf sich einreden, bis sie fragt: „Und das ist kein Betrug …?“ Deutlicher und un/menschlicher als an diesen beiden Beispielen lässt sich das West-Ost-Gefälle innerhalb der EU, dieses seit 2007 unveränderte Zentrum-Peripherie-Modell kaum erklären.

Dies sei, sagt Pricop, eine Zeit „in der alles möglich und glaubwürdig ist, solange es gelingt, eine emotionale Verbindung zu unseren Schwachstellen, Veranlagungen oder Erwartungen herzustellen“. Und lässt das Ganze mit einer sarkastisch-heiteren Episode enden: Schauspieler Daniel Bucher als Journalist von „Guerilla Investigation“ auf der Suche nach jenem schwulen Priester, dem man in einem geheimen Kloster einem Folter-Exorzismus unterzogen haben soll.

LIVE: Screenshot / Teatrul Naţional Radu Stanca

Eine Schnitzeljagd mit jeder Menge Anrainer-Befragung, Bildern eines Mercedes fahrenden Klerus‘, neue Kirchen, kaputte Straßen, Schafe inmitten von Solarpaneelen und des Reporters Erkenntnis: „Um ehrlich zu sein, habe ich mir Rumänien ganz anders vorgestellt …“ Herrlich!

www.tnrs.ro/home

24. 10. 2020

Wiener Festwochen: Oameni obişnuiţi / Gewöhnliche Menschen

Juni 1, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein etwas langatmiges Antikorruptionskabarett

Die Whistleblowerin und ihre Widersacher: Marius Turdeanu, Ioan Paraschiv, Mariana Mihu, Florin Coşuleţ und Ofelia Popii. Bild: Sebastian Marcovici

Die Whistleblowerin und ihre Widersacher: Marius Turdeanu, Ioan Paraschiv, Mariana Mihu, Florin Coşuleţ und Ofelia Popii. Bild: Sebastian Marcovici

Die rumänische Regisseurin Gianina Cărbunariu und das Teatrul National Radu Stanca Sibiu zeigen bei den Wiener Festwochen ihre Arbeit „Oameni obişnuiţi / Gewöhnliche Menschen“. Whistleblower aus Großbritannien, Italien und Rumänien wurden für diese Produktion befragt, nicht Medienstars wie Snowden oder Assange, sondern Alltagshelden, in Workshops mit einem ersten Publikum der Text erarbeitet.

Doch was nun im Theater Akzent zu sehen ist, hat die theatrale Relevanz der PULS4-Show „Bist du deppert!“. In seinen besten Momenten wirkt der Abend wie ein etwas langatmig geratenes Antikorruptionskabarett. Was umso mehr schmerzt, als man Cărbunariu als „das Enfant terrible, den aufstrebenden Regiestar des rumänischen Theaters“ vorschussbelorbeerte.

Hier aber präsentiert sie zwei Stunden lang more of the same, zwar ein Psychogramm von Whistleblowern, aber deren Story ist eben immer die selbe: Aufdeckung, Verrat, Mobbing, Entlassung, schwere Erkrankung bis hin zu Krebs. Es ist, als würden einem all diese Don Quijotes von der Bühne herunter zuraunen: Freundchen, wenn du je in so eine Situation kommst, lass‘ bloß die Finger davon, Idealismus zahlt sich nicht aus. Dieser Eindruck relativiert sich erst, als in Videozuspielungen die tatsächlichen „Nestbeschmutzer und Kollegenschweine“ zu Wort kommen, starke Persönlichkeiten, die über ihr Nicht-Anders-Können angesichts der entdeckten Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten berichten, und die nach all ihren negativen Erfahrungen sicher und selbstbewusst in die Kamera sagen, jederzeit würden sie’s wieder so tun. Sie sind ihre besten Anwälte, und eigentlich hätte man lieber sie in einer Filmdoku als dieses Dokutheater gesehen. An dem fraglich bleibt, ob es überhaupt seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, wollte Cărbunariu doch den Fakt zur Fiktion überhöhen.

Dass ihr derlei nicht gelungen ist, ist auch der von ihr gewählten Spielweise geschuldet. Die Schauspieler agieren kaum miteinander, sondern adressieren lieber das Publikum. Die Zuschauer werden stellvertretend für die Mitspieler angesprochen, als bräuchte es einen Dritten um die Dialoge auszuführen, sie werden einbezogen, verschwörerisch um ihre Meinung befragt, doch weil da nichts zurückkommt, bleibt diese Art der Kommunikation eine Einbahnstraße. Und dass die Bühnenwand von Mihai Păcurar, ähnlich der von Anja Rabes in Jossi Wielers „Rechnitz“, alle Stückln spielen kann, ist allein nicht abendfüllend. So bleibt’s bei einer Aneinanderreihung gesagter Unsäglichkeiten; Cărbunariu lässt ihre Informationsveranstaltung zum Thema Whistleblowing auf keinen Kulminationspunkt zusteuern, und wie wichtig es auch sein mag, all diesen couragierten Aufdeckern Gehör zu schenken, die Skandale von Altenpflege bis Autobahnbau, von Spitalswesen bis origineller Spesenabrechnung sind soweit bekannt.

Es wird kein Gedanke dazu ausgeführt, weitergeführt, und auch jüngste Entwicklungen, wie etwa eine aufgrund von LuxLeaks erst Mitte April beschlossene neue EU-Richtlinie für den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, sind nicht eingearbeitet. Das ist schade, muss einem Theatermacher, der sich einem derart aktuellen Gegenstand widmet, doch klar sein, dass sein Werk work in progress ist.

Dana Taloş kämpft als Eileen Chubb um das Wohl von Demenzkranken. Bild: Sebastian Marcovici

Dana Taloş kämpft als Eileen Chubb um das Wohl von Demenzkranken. Bild: Sebastian Marcovici

Ständig unter Beobachtung - vom Aufdecker zum Mobbingopfer: Ioan Paraschiv und Ofelia Popii. Bild: Sebastian Marcovici

Ständig unter Beobachtung: Ioan Paraschiv und Ofelia Popii. Bild: Sebastian Marcovici

Im Gedächtnis bleiben von dieser Aufführung zwei Namen: Eileen Chubb – und ihr Bühnen-Alter-Ego Dana Taloş, die den systematischen Missbrauch von Demenzkranken in einem Pflegeheim aufdeckte. Sie sei eher der verschreckte, stille Typ gewesen, sagt sie von sich selbst, nun kämpft sie als Politaktivistin an vorderster Front für die Rechte von Whistleblowern. Und Ian Foxley, dargestellt von Schauspieler Ioan Paraschiv. Der Ex-Militär lehnte sich gegen die mächtigen Airbus Industries auf, indem er unheilige Verquickungen zwischen dem britischen Verteidigungsministerium und dem saudischen Königshaus bloßlegte. Seine Flucht aus Riad ist tatsächlich filmreif, doch sein Prozess läuft nach sechs Jahren immer noch …

Video: www.youtube.com/watch?v=7ZvB5yuDfjc

www.festwochen.at

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Città del Vaticano: www.mottingers-meinung.at/?p=20120

Die Passagierin: www.mottingers-meinung.at/?p=20085

Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen: www.mottingers-meinung.at/?p=19870

Wien, 1. 6. 2016