Wiener Festwochen: Три сестры / Drei Schwestern
Mai 29, 2016 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Gottes in Nowosibirsk vergessene Kinder

Andrej, zwei Schwestern und Anfissa: Ilja Musyko, Irina Kriwonos, Elena Drinewskaja und Darja Jemeljanowa. Bild: Frol Podlesny
Timofej Kuljabin und sein Teatr Krasnyi Fackel aus Nowosibirsk zeigen bei den Wiener Festwochen Tschechows „Drei Schwestern“ in russischer Gebärdensprache. Im Vorfeld erklärte der Intendant und Regisseur, es sei ihm daran gelegen, seine Arbeit mit den „uralten Konventionen der Tschechow-Inszenierungen“ kontrastieren zu lassen.
Der von Schauspielerstimmen quasi bis zum Gehtnichtmehr abgenudelte Text solle via Überzeilen in den Köpfen der Zuschauer neu entstehen – denken statt zuhören sei angesagt. Was nun im Museumsquartier zu sehen ist, ist allerdings keine Neuerfindung des Theaters, nicht einmal eine neue Theaterform, sondern eine ziemlich angestaubte plus eingelernter Gestikulation. Die Inszenierung ist langatmig, langweilig und, was beinah das Schlimmste ist, noch nicht einmal verschmockt.
Für ein Publikum, das den russischen Bildungskanon so oft gesungen hat, dass er ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist, mag das Ganze noch irgendwie eine Möglichkeit sein. Allen anderen würde bei einer Aufführung, die allein aufs Schauen ausgelegt ist, durch das von Kuljabin sogar verordnete Mitlesen des Textes genau dieses genommen. Dabei hat Kuljabin jede Tschechow-Silbe ausinszeniert, mit vier Stunden fünfzehn und drei Pausen sieht man die „Drei Schwestern“ sozusagen in Echtzeit, samt Randfiguren an deren Existenz man sich nicht einmal mehr erinnern konnte, doch geht freilich ohne die Sprache die Lakonie, der Sarkasmus, der Witz der Tschechow’schen Worte verschütt. In Wien wurde diese Saison schon eine Arbeit in Gebärdensprache gezeigt, und die Trainerin, die diese mit den Darstellern einübte, meinte im Gespräch, die Gebärde eigne sich nicht für Zwischentöne, für Stichelei oder Spott, sie sei immer wahrhaftig und nie geschätzig. Das ist in diesem Fall ein Problem, ein großes Problem.
Umso mehr, als es der Nowosibisker Truppe nicht gelingt, Sprache durch Körpersprache zu ersetzen, heißt: das zu gestalten, zu verkörpern, sich einzuverleiben, was zu sagen oder eben auch nicht laut auszusprechen ihnen genommen wurde. Sie hinken im Ausdruck den gebotenen darstellerischen Mitteln hinterher, einzig Denis Frank schaffte es aus dem Kulygin einen Charakter zu formen, zwar den bekannten gutmütig-peinlichen, aber immerhin. Und auch Andrej Tschernych als Tschebutykin bemüht sich um Konturen. Der Rest ist farblos und mit der Schaffung einer rhythmischen Geräuschkulisse beschäftigt, einer Kakophonie aus Highheels-Gestöckel, Thrillerpfeife, Fingergetrommel und Klappern mit ein paar Schachfiguren. Bilder, die daraus Seelenzustände beschreiben, gibt es zu wenige. Das Schönste ist ein Brummkreisel, ein Geschenk zu Irinas Namenstag, dessen Vibrationen auf dem Tisch der Gesellschaft wie zum Klang einer fremden Welt werden.

Die Tischgesellschaft unterhält sich in russischer Gebärdensprache. Bild: Frol Podlesny

Doch einzig Denis Frank als Kulygin gestaltet aus seiner Figur einen Charakter. Bild: Frol Podlesny
Nun sind der Interpretation natürlich Tür und Tor geöffnet, wenn Kuljabin eine Intelligenzija zeigt, die in der kulturellen Dumpfheit der Provinz stumm in der Erstarrung verharrt. Schließlich sollte er ob seiner „Tannhäuser“-Inszenierung vor etwa einem Jahr wegen Gotteslästerung angeklagt werden. Der Metropolit von Nowosibirsk berief sich dabei auf das wegen des Pussy-Riot-Punkgebets verabschiedete Blasphemie-Gesetz. Jetzt zeigt der Theatermacher Theater mundtot gemacht. Einzig Sergej Nowikow als Ferapont hat eine Stimme, der im Original gegenüber allen Beschwerden schwerhörige Amtsdiener, der neue Sowjet-Mensch, dessen Zeit längst gekommen ist und schon wieder kommt. Und doch erschließt sich auch an dieser Logik nicht, warum Natascha nichts zu sagen hat; alles in allem stellt sich die Sinnfrage. Kuljabins „Drei Schwestern“ sind ein Planspiel in einem von Schminktisch bis Standuhr genauestens definierten Puppenhaus, aufs Durchdeklinieren seiner Figuren hat der Regisseur nicht so viel Sorgfalt verwandt. Aber „Verfremdung“ als Selbst-Zweck, die Gebärde eingesetzt als l‘art pour l’art, das ist einfach ein bisschen zu wenig.
Video: www.youtube.com/watch?v=eeqCspD4gv4
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Wien, 29. 5. 2016