Das Off Theater zoomt: Reenachting Jakob Levy Moreno
April 18, 2021 in Tipps
VON MICHAELA MOTTINGER
Die „Entdeckung“ der interaktiven Mockumentary

Hitler und Stalin spielen „Hamlet“: Isabella Jeschke und Ernst Kurt Weigel. Bild: Günter Macho
Da kein Ende des Kultur-Lockdowns abzusehen ist, will das Off Theater mit seiner Inszenierung „Die grauenvolle Entdeckung des Jakob Levy Moreno“ nun eine andere Richtung im Bereich des virtuellen Theaters einschlagen. Ernst Kurt Weigel und sein Team haben das Stück in die interaktive Mockumentary „REENACTING Jakob Levy Moreno“ verwandelt, zu erleben am 23. und 24. April um 20 Uhr auf Zoom: #werdeteinteildavon
Wer Teil der Gruppe sein oder auch nur zuschauen möchte, kann sich via zoom@off-theater.at anmelden. Nicht vergessen, das gewünschte Datum anzugeben. Welche Gruppe? Dazu mehr in der Rezension der Bühnenpremiere vom vergangenen Oktober:
In Gruppentherapie mit Hitler und Stalin
Ein Podium als Shakespearebühne, an jeder Ecke ein Ausläufer, und mit Drahtkrone thront Kajetan Dick umringt von zwei Elevinnen. Nun erhebt er sich, lädt das ringsum sitzende Publikum zum warming-up auf eine Reise ein, alle aufstehen!, auch die anwesende Kulturstadträtin macht da mit, bei den „Körperübungen im Kosmos“. Bis schließlich alle wohlbehalten im Off Theater ankommen. In dessen White Box hat Ernst Kurt Weigel sein Gedankenspiel „Die grauenvolle Entdeckung des Jakob Levy Moreno“, gezeigt von das.bernhard.ensemble und orgAnic reVolt, zur Uraufführung gebracht.
Kajetan Dick fungiert als ebendieser Moreno, und wer glaubt, der Genialisch-Manische outriere sich mit seinem Mentalcoach-Sprech in erleuchtete Höhen, staunt als am Ende Moreno im beschwörerischen O-Ton vom Band läuft. „Am I nothing or am I God?“ raunt er sein „Sein oder Nichtsein“. Dies die Frage, deren grauenhafte Antworten der Abend aufwirft.
Die Vita von Jakob Levy Moreno lässt sich durchaus als extravagant beschreiben: Aus einer rumänischen Familie sephardischer Juden stammend, studierte er in Wien Medizin und entwickelte schon in jungen Jahren ein großes soziologisches Interesse, das ihn zur Arbeit mit Sträflingen, Prostituierten und im Flüchtlingslager Mitterndorf brachte. Moreno war Begründer der Soziometrie und der Gruppenpsychotherapie. Seine Faszination fürs Stegreiftheater veranlasste ihn, selbst damit zu experimentieren: ohne Regie und in selbstkreierten Raumbühnen. Das war damals revolutionär.

Ganz nah am raunenden O-Ton: Kajetan Dick ist brillant als Jakob Levy Moreno. Bild: Günter Macho

Hitler schlicht durchs „Burgtor“: Isabella Jeschke mit Desi Bonato und Leonie Wahl. Bild: Günter Macho

Josef Stalin erforscht seine Gefühle: Ernst Kurt Weigel und Tänzerin Desi Bonato. Bild: Günter Macho

Foltertanz der Massenmörder: „Hitler“ Isabella Jeschke und „Stalin“ Ernst Kurt Weigel. Bild: Günter Macho
Doch der aufkeimende Antisemitismus der 1920er-Jahre hieß ihn Wien für immer zu verlassen. In New York entwickelte Moreno schließlich seine Methode des Psychodramas, dies heut‘ allgegenwärtige gruppendynamische Rollenspiel: Sage uns, was dich quält und was du für dich gewinnen möchtest! – und Weigel führt die 25 Zuschauer/Probanden nun mitten in die Aktionsphase einer solchen Therapiesitzung. Gemeinsam wird man zur Experimentiertruppe von Morenos Theater der Spontaneität, „wunderbar, großartig“ feuert Theatermacher Moreno-Dick die Anwesenden an.
„Das Schauspiel sei die Schlinge, die uns in das Gewissen bringe“, rezitiert er Hamlet. Denn der soll gegeben werden. Es ist das Jahr 1913, Devi Saha hat die White Box in einen wunderbaren Jahrhundertwendesalon verwandelt, und aus dem Publikum meldet sich Adolf Hitler, um den Dänenprinzen zu spielen. Dies Zusammentreffen der Kunstkniff von Ernst Kurt Weigel. Dass sich der erfolglose Kunstmaler in jenem Jahr in Wien aufhielt, ist historisch verbrieft, ebenso wie Josef Stalin. Weigel als untergetauchter russischer Revolutionär lässt seine Figur auf die anderen beiden „Ausnahmepersönlichkeiten“ der Stadt prallen.
Und wieder einmal begeistert, wie bühnenpräsent Isabella Jeschke ist. Mit Bärtchen-Punkt und in breitem Braunauer Dialekt gestaltet sie den Architektur-Demagogen, nunmehr Morenos „Prinz Adolf“, ihr expressives Spiel, dieser mal blindwütige, mal übereifrig Morenos Anweisungen folgende Schreihals, in hibbelig-verrenktem Gleichschritt zuckend – da ist ein Körper bereits schwer beschäftigt mit „Mein Kampf“.
Die ausdrucksstarke Choreografie, sie im doppelten Sinne eine körperliche Gewalt, hat Leonie Wahl entwickelt, deren famoses Tanz.Schau.Spiel „This is what happened in the Telephone Booth“ Mitte November im Off Theater wiederaufgenommen wird (Rezension von der mittlerweile in einen Live-Stream umgewandelten Produktion: www.mottingers-meinung.at/?p=45762). Sie und Tänzerin Desi Bonato agieren als allerlei seelische Aggregatzustände. Tobt Hitler über die Asymmetrie der Hofburg, rechts Erhabenheit, links nichts, grün, Wildwuchs (Zuschauergelächter!), machen sie ihm mit Armen und Beinen das Burgtor.

Gruppendynamik in der schweißtreibenden Therapiesitzung: Bonato, Weigel, Dick, Wahl und Jeschke. Bild: Günter Macho
Bonato performt vor Stalin sein Gefühl, die Frau verloren und den Sohn verlassen zu haben, und es ist ein ziemlich durcheinander gewirbeltes. Wie Wahl und Bonato den Dirigenten der Todesbürokratien im Takt folgen, ihre Gebärden-Sprache, mit der sie von Mitläufertum, Ekel und Ohnmacht erzählen, ist große Kunst. Andere Gruppenmitglieder werden ins Spiel miteinbezogen, Kajetan Dick fischt sich seine Gottfried Semper von den Stühlen, im #Corvid19-Abstand lernen die Geister unter Anleitung den richtigen Stegreif-Tonfall fürs gespenstische
„Bau‘ mir die Hofburg fertig …“ das.bernhard.ensemble würde sich selbst nicht gerecht, gäbe es nicht einen tagesaktuellen Weigel’schen Exkurs, der kohleschmutzige Stählerne über einen Kapitalismus, der Moria buchstäblich ersaufen lässt, eine Schmährede auf die zaudernde Hamlet-Gesellschaft, eine Anpreisung einer Alle-Menschen-sind-gleich-Gemeinschaft ohne Privateigentum. Da sind’s bis zum Großen Terror noch mehr als 20 Jahre hin, für Morenos Improvisation hat sich Stalin als Claudius gemeldet, der nach anfänglicher Sympathie für den Stiefsohn bei 3.3 endet: I like him not.
Dies die stärkste Szene von Isabella Jeschke und Ernst Kurt Weigel. Hitler entartet sein Leinensackerl zur Gefangenenkapuze, die „Krüppelhand“, das „unwerte Leben“ Stalin muss den Boden wischen, eine perfide Umarmung, ein Foltertanz, bis man sich rechts und links als Führerstatue aufbaut. Stampfend, keuchend, zum monströsen Sound von b.fleischmann die Masse, und ein über seine grauenvolle Entdeckung entsetzt die Augen aufreißender Jakob Levy Moreno.
„Die grauenvolle Entdeckung des Jakob Levy Moreno“ umfängt einen mit einem Sog, dem man sich unmöglich entziehen kann. Ein starkes Stück!, ist das. Die Geschichte lehrt, die dramatische Geste kann das Böse nicht besiegen, weil es sie sich aneignet, die Geschichte lehrt, für den Horror gibt’s kein Heilmittel. Hätte eine frühe Psychotherapie der späteren Massenmörder fürs 20. Jahrhundert das Schlimmste verhindert? Ernst Kurt Weigel probiert’s. Seien Sie dabei … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=42043
Anmeldung: zoom@off-theater.at www.off-theater.at Trailer: vimeo.com/467135177 www.facebook.com/watch?v=141845411159860
18. 4. 2021