Monsieur Claude und sein großes Fest

Juli 26, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Trilogie der Toleranz-Witzchen

Oh, wie schön ist Frankreich: Claude (Christian Clavier) zeigt den Multikulti-Schwiegereltern in stolzer Gastgeberlaune die Sehenswürdigkeiten. Bild: © Filmladen Filmverleih

Aller guten Dinge sind … Was vor acht Jahren als bissige französische Komödie begann, darf sich ab 21. Juli stolz eine Trilogie nennen: Die Monsieur-Claude-Reihe. 2014 war’s, als Claude Verneuil in „Monsieur Claude und seine Töchter“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=10247) erstmals die Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil ihn – nach einem Araber, einem Juden und einem Chinesen – die jüngste Tochter nun zum Schwiegerpapa eines Afrikaners machte. Dieser ein Christ. Immerhin.

„Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?“ (dt.: Was haben wir dem lieben Gott getan?) war denn auch der Originaltitel, gefolgt 2019 von „Monsieur Claude 2“. Nun kommt mit „Monsieur Claude und sein großes Fest“ der Hattrick des Humorkrachers, der ebendiesen ausschließlich aus den Differenzen von Menschen verschiedenster Kulturen destilliert, einem Lächerlich-Machen von Klischees und Vorurteilen, wie’s auch das Rezept der berühmten Asterix-Hefte ist – in die Rolle des gallischen Kriegers war Christian Clavier schon geschlüpft, bevor er als Grantscherm der Grande Nation die Funken sprühen ließ.

Clavier als erzkonservativer, erzkatholischer Monsieur Claude, ein Spießbürger, wie er im Buche steht, nach außen mit weltmännischem Getue, in Wahrheit engstirnig. Und an keiner Stelle vermittelt Regisseur und Drehbuchautor Philippe de Chauveron die Illusion, dass so einer von seiner Voreingenommenheit je geheilt werden könne. Man tut Clavier nicht zu viel der Ehre an, wenn man behauptet, er hätte Monsieur Claude mehr und mehr zu einer molièresken Figur entwickelt.

Sage nun niemand etwas von wegen Aufguss. Die Filme ziehen ihren Zauber aus dem Charme der Darstellerinnen und Darsteller, die einem längst ans Herz gewachsen sind, samt dem des idyllischen Loire-Städtchens Chinon, dazu die wie am Schnürchen ablaufenden Gags, und immer noch ertappt man sich schmunzelnd dabei, das eine oder andere Ressentiment auch schon gehegt zu haben. Wer ist frei von Schuld? In „Monsieur Claude 3“ keiner. Die Tenor des dritten Teils lautet nämlich: Denken in rassistischen Kategorien ist kein Privileg der Weißen.

Man erinnere sich: Um seinen Schwiegersöhnen inklusive seiner Töchter das Auswandern in ihre „Ursprungsländer“ und seiner Frau Marie – liebreizend wie eh und je: Chantal Lauby – viel Herzeleid zu ersparen, brachte Monsieur Claude die Viererbande in Chinon unter: Chao (Frédéric Chau) wurde der neue Bankdirektor, Rachid (Medi Sadoun) eröffnete eine Anwaltskanzlei, für Charles (Noom Diawara) fand sich ein Engagement am Stadttheater – David (Ary Abittan) mit seinen hirnverbrannten Geschäftsideen ist sowieso nicht zu helfen.

Pascal N’Zonzi, Bing Yin, Christian Clavier, Daniel Russo und Abbes Zahmani. Bild: © Filmladen Filmverleih

Farida Ouchani, Nanou Garcia, Li Heling, Chantal Lauby und Salimata Kamate. Bild: © Filmladen Filmverleih

Élodie Fontan, Émilie Caen, Alice David und Frédérique Bel. Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Noom Diawara, Ary Abittan, Medi Sadoun und Frédéric Chau. Bild: © Neue Visionen Filmverleih

Nun aber begegnet Claude der Verwandtschaft auf Schritt und Tritt. Er fühlt sich zwischen Shabbat-Feiern, Grillfesten, Theaterpremieren und Ségolènes Vernissagen hin und her geworfen, die Dauerdepressive hat sich aufs Malen von Schlachthausgemälden verlegt. Charles als schwarzer Jesus scheint ihm ebenso widersinnig, wie ein Gartenkrieg zwischen David und Rachid, des einen Apfelbaum macht des anderen Petersilie platt, Rachid: „Wir sind nicht in Palästina! Hier hast du nichts zu annektieren!“ Nur, dass es in der Ehe von Ségolène und Chao kriselt, hält ihn aufrecht, wittert Claude doch seine Chance, das Töchterchen mit dem deutschen Kunstsammler Helmut Schäfer (Jochen Hägele) zu verkuppeln, den er für den perfekten Schwiegersohn hält.

Andernorts hat man andere Pläne. Bei Verneuils steht der 40. Hochzeitstag ins Haus, und Isabelle (Frédérique Bel), Ségolène (Émilie Caen), Laure (Élodie Fontan) und Odile (neu: die aparte Alice David statt Julia Piaton) wollen das Rubin-Jubiläum mit der ganzen, wirklich der ganzen Familie feiern. Ein Auftrag an die Ehemänner, ihre Eltern nach Chinon zu befördern. Weshalb sich alsbald André Koffi (Pascal N’Zonzi) nebst Gemahlin Madeleine (Salimata Kamate) im schmucken Häuschen einfinden, und war die Konfrontation der beiden Papas schon bisher der Clou, treiben es die Kombattanten mit ihren Toleranz-Witzchen jetzt endgültig auf die Spitze.

Diese Auseinandersetzung nur geschlagen von jener Claudes mit Chaos Vater Dhong Ling (Bing Yin). In einer launigen Rückblende erfährt man, dass die Verneuils beim Peking-Besuch aus Versehen bei einem anderen Ehepaar gelandet sind – zunächst ohne das zu merken. Vater Dhongs Retourkutsche für Claude ist nun bei jeder Gelegenheit ein „Entschuldigung, wer sind Sie? Ihr Weiße seht für uns alle gleich aus.“ Mutter Xhu Ling (Li Helin) hat ihr Alkoholproblem von zu Hause mitgebracht. Davids Eltern Isaac und Sarah Benichou (Daniel Russo und Nanou Garcia) liegen im Dauerclinch wegen eines Brotes – nicht fragen, anschauen.

Die Toleranz-Geplagten: Chantal Lauby und Christian Clavier. Bild: © Filmladen Filmverleih

Besuch aus Afrika: Noom Diawara, Pascal N’Zonzi und Salimata Kamate. Bild: © Filmladen Filmverleih

Christian Clavier, Alice David und Chantal Lauby. Bild: © Filmladen Filmverleih

Wölkchen am Liebeshimmel: Frédéric Chau und Émilie Caen. Bild: © Filmladen Filmverleih

Rachids Mutter Moktaria Benassem (Farida Ouchani) erduldet mehr oder minder still leidend Ehemann Mohamed (Abbes Zahmani), der sich – © Rachid – für den „arabischen Kurt Cobain“ hält, und der, da Schwiegertochter Isabelle ihm einen Gig versprochen hat, die alte Punk-Rock-Band zusammentrommelt. Tatsächlich ist es der krönende Abschluss des Films, wenn Abbes Zahmani, Back Vocals Medi Sadoun, auf dem Fest seinen Song „Sang pour Sang“ singt. Die Versöhnung eines Vaters mit dem Sohn, dessen Geburt er bislang für das Ende seiner Musikerkarriere verantwortlich machte.

Viel mehr brauchten sich die Macher für „Monsieur Claude 3“ nicht auszudenken, es reicht, diese Überfülle an Charakteren aufeinanderprallen zu lassen, um gutgemachtes Mainstream-Kino zu präsentieren, wobei Philippe de Chauveron das Kunststück gelingt, all seinen fast zwanzig Schauspielerinnen und Schauspielern Platz zur Entfaltung zu geben. Was das supersympathische Ensemble mit geballter komödiantischer Power und viel Spiellaune auch zu nutzen weiß.

Klar, dass der israelische Ex-Militär mit dem algerischen Altrocker ein Problem hat, oder der Ivorer dem Chinesen misstraut, weil sich Dhong lange Zeit taub fürs Französische stellt. Einzig die Frauen sind hier völlig vorurteilsfrei, und da sie durch die Bank die Hosen anhaben, macht man sich schließlich auf zu geschlechtergetrennten zweiten Polterabenden, an denen beiden Gruppen die gleiche Demütigung zuteilwird: Altersdiskriminierung.

Vive la différence! Auch „Monsieur Claude und sein großes Fest“ verjuxt Vorurteile mehr, als dass er sie vorführt und entlarvt. Doch die überspitze Stereotypisierung von allen und jedem bewirkt, dass sich das Gerede von „uns“ und „denen“ wie von selbst ad absurdum führt, bis sich aus der Kakophonie der Stimmen der einende gute Ton erhebt: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen …

monsieurclaude.de

20. 7. 2022

Houchang Allahyari: Goli Jan. Ich darf kein Mädchen sein

September 8, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Neuer Spielfilm und Retrospektive zum 80. Geburtstag

Fatima Amiri als Goli Jan. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Nach seinen Dokumentarfilmen „Rote Rüben in Teheran“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=21727) und „Die Liebenden von Balutschistan“ kehrte Houchang Allahyari in den Iran zurück, um einen Spielfilm zu drehen, dem es an Aktualität wahrlich nicht mangelt. Geschildert wird die Geschichte von Goli Jan, einer jungen Frau, die – nachdem ihr Vater von den Taliban ermordet wurde und ihr Onkel sie an einen alten Mann zwangsverheiraten will –

gemeinsam mit dem Fahrradboten Jawad aus Afghanistan in den Iran flieht und sich als Junge verkleiden muss, um nicht aufzufallen. Stets in Angst vor der Rache des mächtigen Onkels, begegnen die beiden neben verschlagenen auch hilfsbereiten Zeitgenossen, die sie bei sich aufnehmen und ihnen die Chance für einen Neuanfang eröffnen. Der Film, der am 9. September im Metro Kinokulturhaus Premiere hat, ist eine mit sparsamen Mitteln hergestellte, aber umso persönlichere Auseinandersetzung mit den Themen weibliche Selbstbestimmung, männliche Dominanz, Solidarität, grenzübergreifende Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe, mit einem Wort: ein echter Allahyari, und dies zu Zeiten da „Afghanistan“ vielen ein Reizwort ist.

Das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit Allahyari-Sohn Tom Dariusz und der künstlerischen Leiterin des diverCITYLAB Asli Kişlal (www.divercitylab.at). Begleitet wird die Premiere von einer Retrospektive zum 80. Geburtstag von Houchang Allahyari. Und so beginnt die Story. Mit einer beklemmenden Stille über Ruinen, voller Staub über brachliegendem Land, und kein Lebensraum nirgendwo. Flüchtende Kinder, allesamt männlich, springen auf einen Pickup, von den – vor den jüngsten Entwicklungen – geschätzt drei Millionen illegaler afghanischer Flüchtlinge im Iran sind zahlreiche unbegleitete zwischen zehn und achtzehn Jahren. Lieferant Jawad fährt mit dem Fahrrad durch ein Geisterdorf, „keiner weiß noch, wer gegen wen kämpft“, sagt er, und sieht Goli Jans Vater Gashem mit den beiden Dorfcapos im Streit um die Wasserrechte für die Felder.

Die sind an der Macht. Ich habe mich arrangiert, um zu überleben“, wird ihn sein älterer, wohlhabender Bruder später schelten, doch da wird schon Gashems Leichnam nach Hause getragen. Die Dorfobersten, an denen Allahyari die brutale Willkürherrschaft der Taliban festmacht, deren Tyrannisieren der eigenen Leute, sind wieder dabei Jungen „einzusammeln“. Auch Jawad steht auf ihrer Liste, der schmiedet Pläne für die Flucht in den Iran. Der vor Begierde sabbernde Onkel will Gashems Witwe „aus Mitleid“ heiraten, „wenn ihr arbeiten geht, bringt ihr Schande über mich“, und auch Goli Jan an den Ehemann bringen.

Der betagte Bräutigam hat schließlich schon bezahlt, er reist an. Mit einem Schaf, ein paar Plastikblumen und seiner ersten Frau zur Begutachtung der alsbald zweiten. Es ist die Szene, in der Goli Jan mit dem Brennstoff, mit dem sie Feuer unterm Teekessel machen soll, sich selbst entzünden will, der ihre Mutter bewegt, das Mädchen Jawad anzuvertrauen. Verkleidet als „Cousin Assad“, verstaut im Kofferraum eines Schleppers.

„Die Handlung basiert auf wahren Begebenheiten. Flüchtlinge aus Afghanistan haben sie mir bei den Dreharbeiten von meinem Dokumentarfilm ,Rote Rüben in Teheran‘ erzählt“, erklärt Houchang Allahyari im Gespräch. Seine Protagonistinnen und Protagonisten hat der Filmemacher vor Ort gecastet: „Es sind alles Laien, außer der Darstellerin der Mutter von Goli Jan, Halimeh Nassim Amiri. Sie ist Radiosprecherin in einem afghanischen Sender in Iran, hat großes Interesse an Film und Kunst, und zeigte von Anfang an Verständnis für das Projekt. Ihre Tochter Fatima übernahm die Rolle von Goli Jan, obwohl das für afghanische Frauen verboten ist, und durch sie und ihre Mutter habe ich den Darsteller von Jawad, Nemat Amiri, gefunden.“

Derart entstand ein großartig empathischer, eindringlicher Film, Allahyaris erster im Iran gedrehter Spielfilm, freilich ohne offizielle Erlaubnis, doch mit Hilfe von Regisseur Babak Behdad, der sich um Drehgenehmigungen „für sich selber“ kümmerte und das Drehbuch in einen stimmigen afghanischen Dialekt übersetzte, und Allahyaris wie stets warmherziger Blick aufs Ensemble wird diesmal noch durch dessen Authentizität aufgewertet.

Halimeh Nassim Amiri (re.) . Bild: © Allahyari Filmproduktion

Mutter und Tochter. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Mit Nemat Amiri als Jawad. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Nemat Amiri und Fatima Amiri. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Allahyari: „Es gab zwar ein fertiges Drehbuch, aber ich habe es an Fatima und Nemat angeglichen. Wir mussten auch darauf Rücksicht nehmen, dass Fatima während der Dreharbeiten der Schule nicht fernbleiben konnte. Sie legt großen Wert auf Bildung, Nemat weniger. ,Wenn du schon keine Bücher liest, dann schau Fernsehen, damit du etwas lernst‘, hat sie zu ihm gesagt. Der Satz ist nun im Film. Es ist sehr viel von ihr eingeflossen, vor allem der Mut und die Kraft, mit denen sie sich Schwierigkeiten stellt.“

Über weite Strecken ist „Goli Jan“ ein Roadmovie. In langen, langsamen Einstellungen hält der in seiner Heimat hochgehandelte Kameramann Reza Teymouri die karge Landschaft fest, Einöde und Einheimische, Gesichter, in die sich ihr Schicksal eingegraben hat, ohne jemals in die Lokalkolorit-Falle zu tappen. Und je näher Goli Jan und Jawad Richtung Teheran kommen, umso mehr bangt man um eine Love Story zwischen den beiden (Spoiler: Man wird nicht enttäuscht werden und doch Houchang Allahyari das Ende seines Films niemals verzeihen).

Die Betreiberin einer Pension, auch dieser Kurzauftritt ein scharf gezeichneter Charakter, verdient sich ein Zubrot als Schmugglerin von Illegalen in die Hauptstadt, wo Jawad und „Assad“ Arbeit am Bau finden. Anrührend ist das, wie Gentleman Jawad die ihm Schutzbefohlene vorm gemeinsamen Waschen mit anderen Arbeitern rettet. „Es duschen immer zwei Mann, um Wasser zu sparen“, bescheidet ihm der anlassige Landsmann Vahid, der die Scharade längst durchschaut hat. In ihrer Not wendet sich Goli Jan an die Frau des Bauunternehmers, Neda Urudji und Mehdi Urudji als die guten Menschen von Teheran, die ihr einen Job als Hausmädchen gibt und sie für die Schule anmeldet.

Es kommt der Moment, da Jawad beinah schon den Arm um Goli Jan legt, sie prahlt mit ihrem Englischunterricht, er sagt den einzigen Satz, den er kann: I love you. Doch Vahid hat die jungen Liebenden an den tobenden Onkel verraten – und der rückt samt Gefolge an … Denkt man, mit welch großen Gesten und Tränendrück-Gefühlen an ein solches Thema herangegangen hätte werden können, beeindruckt Allahyaris Schlichtheit umso mehr. Reza Teymouri hat durchgehend mit Handkamera gearbeitet und „unbewegte Einstellungen nur mit einem Polster stabilisiert“, so Allahyari. „Goli Jan“ ist sein sanfter Appell, mitsammen daran mitzuwirken, dass Happy Endings möglich sind.

Doch apropos: Houchang Allahyari leistet sich einen Cameo-Auftritt als mehr oder minder er selbst, der in einem von Mehdis Häusern eine Wohnung bezieht. Als Goli Jan und Jawad als Putztrupp erscheinen und den Herrn Doktor nach dem Paradies Österreich fragen, kann der ihnen nur bedingt Hoffnungen machen. Wenn der Filmemacher über Rassismus, Ressentiments gegenüber Flüchtlingen, Ausländerfeindlichkeit und sein eigenes „Fremd-Sein“ referiert, ist das wie eine verbale Ohrfeige für die heimischen Verhältnisse (Allahyaris anderer Sohn Kurosch ist Obmann des Vereins Purple Sheep: www.purplesheep.at). Dennoch wird sich das Paar von der strapaziösen und gefährlichen Reise nicht abhalten lassen, wie zum Schluss ein Telefonat in Wien beweist …

„Goli Jan – Ich darf kein Mädchen sein“ ist dazu angetan, die via Medien gefilterten Nachrichten neu zu bewerten und den Begriff „Afghanistan“ neu zu denken. Nicht nur die radikalen Islamisten, ein gesuchter Terrorist als Innenminister, ein ehemaliger Guantanamo-Häftling als Chef des Geheimdienstes und die Scharia machen dieses Land aus, sondern auch die Zehntausenden, die stillschweigend leiden und dulden, weil Widerstand ohne Hilfe von außen zwecklos ist. Es sind Frauen, Männer, Alte und Kinder, die – um Shakespeare zu bemühen – wie wir bluten, wenn man sie sticht. Höchste Hochachtung vor den Frauen, die dieser Tage unter Lebensgefahr in Kabul für ihre Rechte demonstrieren!

Abschlussfrage an Houchang Allahyari: Wird „Goli-Jan – Ich darf kein Mädchen sein“ auch im Iran im Kino laufen?Nein, das ist in diesen Zeiten nicht möglich, da vor allem die Schauspielerinnen sehr gefährdet wären. Sie könnten von ihrer Familie verstoßen, sogar ermordet werden, da sie in ihren Augen Schande über sie bringen.“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=Ij802VaOyU4          www.filmarchiv.at

Retrospektive

Anlässlich des Kinostarts von „Goli Jan“ und des 80. Geburtstags von Houchang Allahyari präsentiert das Filmarchiv Austria eine Auswahl seiner Arbeiten. Im Metro Kinokulturhaus wird eine umfangreiche Retrospektive parallel zum Kinostart von „Goli Jan“ anlaufen. Sie beginnt am 16.9. um 19 Uhr mit „Der letzte Tanz“ in Anwesenheit von Houchang Allahyari. Preview „Seven Stories about Love“ am Sa, 18.9. um 19 Uhr, anschließend um 21 Uhr noch „Rote Rüben in Teheran“ in Anwesenheit von Houchang Allahyari.

Geboren in Absurdistan, A 1999. Bild @ Houchang Allahyari Filmproduktion / Filmarchiv Austria

Die verrückte Welt der Ute Bock, A 2010. Bild @ Houchang Allahyari Filmproduktion / Filmarchiv Austria

Rote Rüben in Teheran, A 2016. Houchang Allahyari (M.) Bild: @ Houchang Allahyari Filmproduktion

I love Vienna, A 1991. Bild @ Houchang Allahyari Filmproduktion / Filmarchiv Austria

Fleischwolf + Der mit dem gelben Pullover (17.9., 18 Uhr + 30.9., 19 Uhr)
Rote Rüben in Teheran (18.9., 21 Uhr + 24.9., 18 Uhr), Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=21727

I love Vienna (19.9., 19 Uhr + 26.9., 19 Uhr)
Höhenangst (19.9., 21 Uhr + 28.9., 18 Uhr)
Geboren in Absurdistan (20.9., 19 Uhr + 5.10., 20 Uhr)
Die verrückte Welt der Ute Bock (20.9., 21 Uhr + 7.10., 18 Uhr), Interview mit Houchang Allahyari: www.mottingers-meinung.at/?p=31182

Das persische Krokodil + I like to be in America + The Mozart Minute (22.9., 18 Uhr + 4.10., 20 Uhr)
Pasolini inszeniert seinen Tod + Die Wahrheit + Trotz alldem (29.9., 19 Uhr + 13.10., 18 Uhr)
Der Gast (24.9., 19 Uhr + 1.10., 21 Uhr)
Rocco (23.9., 19 Uhr)
Robert Tarantino (27.9., 19 Uhr), Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=5512

Mehr Infos: www.mottingers-meinung.at/?p=44455           www.filmarchiv.at

  1. 9. 2021

Burgtheater online live: Die Maschine in mir (Version 1.0)

Januar 3, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zum Glück wird’s nicht Maertens Last Tape gewesen sein

Michael Maertens als Mark O’Connell mit Tim Cannons Unterarm-Implantat. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Wie man sich online und dennoch live ein Theater machen kann, haben bis dato Nesterval mit ihren Kreisky-Performances (Rezensionen: www.mottingers-meinung.at/?p=42764, www.mottingers-meinung.at/?p=39561) deutlich gemacht. Nun ist das Burgtheater dran, das im Kasino Michael Maertens auf die Bretter schickt, mit der Produktion „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ des britisch-irischen Regie-Duos Dead Centre aka Ben Kidd und Bush Moukarzel.

Das mit dem „Auf die Bretter Schicken“ ist durchaus ein Bonmot betreffs des gezeigten Projekts. Auf niemand Geringeren als Shakespeare berufen sich Dead Centre im Gespräch, der Dänenprinz II.2: „Thine evermore most dear lady, whilst / this machine is to him, Hamlet“, ein Brief an Ophelia, eine Metapher des Menschen/-herz als Maschine.

Die sich Heiner Müller für sein Intellektstück zu eigen gemacht hat, und darum geht‘s auch hier: Intellekt vs Intelligenz vs Künstliche Intelligenz. Michael Maertens, nein, er tritt nicht auf, er erscheint auf dem Bildschirm. Ein „Hallo! Schön, dass sie da sind“ ans Publikum, ein „Es ist alles andere als ideal, wie wir uns hier begegnen“. Und ab geht es in die Untiefen des Live-Streamings, dieser Light-Variante des interaktiven Theaters, war doch die/der angemeldete Zuschauerin/Zuschauer vorab veranlasst, drei kurze Videos von sich aufzunehmen, drei Mal 30 Sekunden so tun als ob, dies der Inbegriff des Theaters, nun sieht man sich als eines der Gesichter auf einem der 100 iPads, mit denen Maertens „interagiert“.

Letzte Reihe? Frechheit! Da kann sich das Pressebüro warm anziehen! Ach was, es ist ja einerlei, vorm heimischen Bildschirm sitzt man sowieso erste Reihe fußfrei … Was die kommenden 50 Minuten leider nicht verhandelt, da kann einem der Maertens noch so treuherzig-tief in die Augen schauen, sondern lediglich zu diesem vorgetragen wird, ist das Thema Transhumanismus. „Man hört oft, dass das Theater ein sterbendes Medium sei und ich glaube, das stimmt auch – es ist das Sterbe-Medium, ein Ort, an dem wir gemeinsam in Echtzeit sterben“, sagt Maertens und freut sich darauf, dies die kommende Dreiviertelstunde via #Covid-Connection gemeinsam zu tun.

Der Sinn des Lebens, der Sinn des Todes, der Sinn dieses Abends? Dead Centre haben Mark O’Connells Bestseller „Unsterblich sein“ hergenommen, für den der Dubliner Autor das Uncanny Valley bereiste, um mit Tech-Millionären und angehenden Cyborgs die Digital Future dessen zu besprechen, was derzeit noch Fleisch und Dysfunktionalität ist. Dead Centres Denkansatz versteht sich, die Pandemie hat ein Körperproblem, genau genommen ist dieser mittlerweile Biohazard. Warum also keine Version 1.0 von sich hochladen? Mit einer Maschine verschmelzen, der Geist ohne den vor sich hin verrottenden Körper.

Wer Hörgerät oder Herzschrittmacher hat, sagt Maertens, sei ohnedies auf dem besten Weg zur Bionik-Person. Eingespieltes Gelächter im Kasino, weil wir ein solches schließlich aufgezeichnet haben. Wir sind die Roboter, daraus hätte sich eine Menge machen lassen, wird es aber nicht. „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ ist Vortrag, nicht Vorspiel einer gar nicht so weit entfernten Zukunft. Ein Erklärstück. Frontalunterricht. Michael Maertens ist sein Ich-Selbst und zeitgleich Mark O’Connells Alter Ego, der per Tablet milde auf seinen Darsteller blickt. So viel zur virtuellen und zur realen Existenz, und tatsächlich ist dies der spannendste und spaßigste Teil der Aufführung:

Bild: Marcella Ruiz Cruz

Bild: Marcella Ruiz Cruz

Maertens im Zwiegespräch mit O’Connell, der sein Mängel-Wesen über den ihn verkörpernden Schauspieler upgraden will. Jedoch: Christoph Waltz und Michael Fassbender, dieser als „Alien“-David sogar Androiden-kundig, blieben unerreichbar, also schlug das Burgtheater einen anderen Michael vor. „Scheiße, wer soll das denn sein?“, fragten sich beide Beteiligte über den jeweils anderen, bis einen „Bibi und Tina“-Exkurs später die Sache klar war. Der Charakterprofiler wird keine Figur hochladen, kein „O’Connell“ werden und sich in diesem Prozess verlieren.

Darüber hätte sich Diskurs gelohnt. Avatare, Humanoide, Hybride, Anthropomorphismus. Stattdessen wird die Liste all derer abgearbeitet, die der Autor bei seinen Recherchen getroffen hat. Tim Cannon, selbsternannter Cyborg und Kämpfer gegen körperliche Imperfektion – mittels Implantate, die er sich unter die Haut näht, beispielsweise eines, das seine Temperatur misst und nach dieser die Heizung reguliert. Maertens rezitiert Yeats‘ „Sailing to Byzantium“:Once out of nature I shall never take / My bodily form from any natural thing, / But such a form as Grecian goldsmiths make / Of hammered gold and gold enameling …“

Zum Gilgamesh-Epos wird er auch noch kommen, und zu Google-Mastermind Ray Kurzweils Whole Brain Emulation, der Kopf längst in den Datenclouds – Mindfiling machen wir schließlich bereits täglich in den Social Media. Sich schon mal selbst gegoogelt? Ist man, wer man meint? Fragt Maertens, allein in einem Theatersaal voller Technik, das Lockdown-stille Publikum. Sind Sie noch da? Sie könnten alle eingeschlafen sein! Auch dazu hat man ein Video gemacht. O‘Connells plärrendes Baby will Maertens nun „ausmachen“, der Bildschirm fällt und kriegt einen Sprung, daheim der Kater ob des unerwarteten Lärms einen Schreck.

Mit O’Connell (re.). Bild: Marcella Ruiz Cruz

Bild: Marcella Ruiz Cruz

Ein Live-Chat, seitlich rechts, wird eingeschaltet. Zur Absicherung vor der Einsamkeit. Zum Turing-Test. Keine Bange, wir sind echt, wir antworten menschlich auf Erkundigungen nach unserem Ende, freie Vorstellungskraft und schwache Rechenkünste, und Arcade Fire singen den Selbstabschaffungssong „My Body Is A Cage“. Beim Futuristen und Alcor-Boss Max More werden jetzt schon Körper kyrogenisiert, heißt: tiefgefroren, die Köpfe davor abgetrennt, Geistes-Gespenster im Sci-Fi-Limbus, 181 „Patienten“, die auf die Auferstehung in einer Brave New World warten. „Jesus!“, wie die Amerikaner nun ausrufen würden. Ein bisschen muss man an den eigenen, auf dem Tablet servierten Kopf denken.

Und apropos, Johannes und Salome: Es ist eine biblische Sünde, dass Dead Centre Michael Maertens nun erklären lassen, nur Männer hätten diesen Tick vom ewigen Leben. Martine und Bina Rothblatt und ihre Theorie der Transferred Consciousness, Natasha Vita-More von der technospirituellen Organisation Humanity+, Nadia Magnenat Thalmann von der Nanyang Technological University Singapur, Ayanna Howard von der Georgia Tech University, schon einmal von diesen Frauen gehört?

Auf Metaebene kann keiner applaudieren. Der so ambitioniert wie verloren wirkende Maertens wischt sich, in dieser Versuchsanordnung seines Spielvermögens beraubt, durch die Chat-Nachrichten. Maertens, der im Geflimmer um ihn stets die Contenance wahrt. Maertens, den auf seinem Parforceritt durch Futureland aber auch die Zweifel quälen, „ob er nicht schon zu viel gespielt habe“, und ist es doppelbödig bei dieser Art der Präsentation trotz aller Uhrzeit-Ansagen Zweifel an einer wie-auch-immer „Echtheit“ des Ganzen anzumerken?

Was einen an der zwischen philosophischer Reflexion und kritischer Auseinandersetzung unschlüssigen „Maschine in mir“ am meisten auffällt, ist das, was fehlt: Ein Theaterabend unplugged. Ein Schauspieler, eine Schauspielerin, Figuren, die leben, weil sie Wirkung erzeugen. Keine Daten-Sätze, ein Humanismus ohne Trans-, Geisteswesen samt Körper, ein Charakterdarsteller-Dasein. Das ist der Code. Das ist der beste „Technotrick“ der Bühne. Bis ein solcher wieder möglich ist, gilt es Quarantäne-Streams wie „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ ihren Achtungserfolg für Innovation zu gönnen. Dies wird nicht Maertens Last Tape gewesen sein, so ist mit Leib und Seele zu wünschen.

Teaser: vimeo.com/494125633           www.youtube.com/watch?v=-GaD-Fqs5G4           Dead Centre im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=HP5PmE0qVGU           www.deadcentre.org           www.burgtheater.at

TIPPS: Maria Arlamovsky: Robolove            Technisches Museum Wien: Künstliche Intelligenz?

  1. 1. 2021

Rabenhof – Nina Proll: Kann denn Liebe Sünde sein?

Februar 4, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Kein Blattl vorm Mund genommen

Tschicks are a Girl’s Best Friend: Nina Proll mit den Bandkollegen Herb Berger, dee Linde und Christian Frank. Bild: © Rita Newman / Rabenhof

Tschicks sind also dieses Girl’s Best Friend. „Rauchen Sie, trinken Sie und lassen Sie uns morgen bereuen“, sagt Nina Proll zum Publikum und zündet sich genüsslich eine Zigarette an, und als die Musiker ihre Pausenbrote auspacken: „Esst’s ruhig, das stört mich gar nicht, wenn ich rauch‘!“ „Kann denn Liebe Sünde sein?“ hat die Schauspielerin und Sängerin ihr aktuell im Rabenhof zu sehendes Programm genannt. Eine ironische Betitelung, inspiriert vom Philosophen

Robert Pfaller und dessen Thesen über Interpassivität, Lustvermeidung und den Verlust der Fähigkeit, individuelle Interessen adäquat wahrzunehmen – Merksatz: Aus Verzicht auf Lust wird die Lust auf Verzicht. Dem vorzubeugen stellt sich die Proll auf die Bühne, als eine einzige Provokation, wenn sie’s wagt mit spitzer Zunge über die Erbsünde zu lästern, als Erlösungsmodell Sex vorschlägt oder Emanzipation übers Hinterstübchen der Herren einsinkern lässt. Ganz schön gewitzt weiblich ist das alles. Im Marilyn-Monroe-Outfit Zarah Leander zu singen, das muss sich eine erst trauen, Nazi-Sirene gegen Hollywood’s Siren auszuspielen, aber so weit wurde vermutlich nicht gedacht, sondern mehr in Kategorien aufregend bis aufreizend.

Proll gibt ihrem Publikum an diesem Abend kalt-warm. Ob sie nun die Frage abhandelt, ob ein Orgasmus-Fake ein feministischer Akt oder die Folge toxischer Männlichkeit ist, #MeToo – mit dem Ergebnis Facebook-Shitstorm – als Kollektivsudern verspottet, oder knapp kommentiert: „Wenn dem Gudenus die schwarzen Fußnägel der Oligarchin aufgefallen wären, wären jetzt nicht die Grünen im Parlament“. Da rollt’s bei der Premiere dem einen oder anderen die selbigen auf, man stolpert selber über einen Proll’schen Anti-p.c.-Scherz, aber welcher das war, ist bereits vergessen, weil: sich über Satire-Pointen aufzupudeln stellt einen nur ins Spaßbefreiten-Eck.

Mit der wichtigsten Message geht man ohnedies d’accord: Nina Proll will in den Öffis weiterhin ihr Weckerl essen, wo kommen wir denn da hin? und warum werden nicht Schweißachsel, Mundgeruch und lärmendes Handy-Gelaber verboten? Die polarisierende Philanthropin nimmt sich kein Blatt vor den Mund, die kann sich nicht nur mit Worten wehren, sondern auch ärgerlich mit dem Fuß aufstampfen. „Schlechtes Aussehen ist schlimmer als schlechtes Benehmen“, feixt sie, und diesmal ist der Gag glasklar, stimmt die Singer-und neuerdings-Songwriterin doch danach das von ihr und Christian Frank geschriebene Chanson „Ich bin was ganz Besonderes“ an.

Bild: © Rita Newman / Rabenhof

Bild: © Rita Newman / Rabenhof

Bild: © Rita Newman / Rabenhof

Musikchef und Klaviervirtuose Frank begleitet mit Klarinettist und Saxophonist Herb Berger und dee Linde Nina Proll durch die Songs, dee Linde, zuständig für Cello, Bass und Backgroundgesang die eigentliche Sensation bei diesem Auftritt mit bodenständigem Aplomb. Dass die Chemie im Quartett aber so was von stimmt, macht noch den liederlichsten Sager liebenswert. Und apropos, Lieder: Proll interpretiert völlig neu und vollkommen anders. Die Highlights aus den 21: Tom Jones‘ „Sexbomb“ und Beyoncés „Single Ladies“, zu dem Proll unter die Zuschauer spaziert. Von Britney Spears gibt’s ein eingedeutschtes „Ooops, es ist schon wieder passiert“, von Herbert Grönemeyer „Alkohol“, Madonnas „Material Girl“ darf in dem Dress selbstverständlich nicht fehlen.

Auf Gerhard Bronners „Meine Freiheit, Deine Freiheit“ folgt Proll/Franks „Willkommen in der Demokratie“, Lady Gagas „Bad Romance“ in einer bombastlosen und daher prickelnderen Version muss als Zugabe noch einmal ran. Nina Proll ist vor allem eines – authentisch. Wie sie sich mit selbstbewusstem Lächeln gar nicht sooo ernst nimmt, wie sie mit amüsiertem Augenzwinkern ihre „Aufreger“ produziert, das muss man der Streitlustigen lassen, ist sympathisch. Die Februar-Vorstellungen sind ausverkauft; Karten gibt es derzeit für den 23./24. Mai.

Nina Proll – „Ich bin was ganz Besonderes“: www.youtube.com/watch?v=v8mKQQNgRXQ

www.rabenhoftheater.com

15. 1. 2020

mumok – Heimrad Bäcker: es kann sein, dass man uns nicht töten wird und uns erlauben wird, zu leben

September 29, 2019 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Fotografien gegen das Vergessen

Heimrad Bäcker: Wehrmachtsmitglied umgeben von einer Gruppe Kindern, 1933-34. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Ab den 1960er-Jahren – lange bevor die Erinnerung an NS-Verbrechen in Österreich eine kollektive Prägung erfuhr – entstanden Heimrad Bäckers Fotografien auf dem Areal der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen. Es handelt sich dabei um eine umfangreiche fotografische Dokumentation des zunächst verlassenen, später anders genutzten Areals: die Bestandsaufnahme eines Ortes in mehr als 14.000 Fotografien.

Bäcker, dessen dichterisches und verlegerisches Werk zu den herausragenden Leistungen der österreichischen Literatur nach 1945 zählt, verstand Mauthausen und Gusen als Gedächtnisorte im Sinne des französischen Historikers Pierre Nora. Dieser hatte den Begriff „lieux de mémoire“ geprägt, um damit Orte zu bezeichnen, an denen sich das kollektive Gedächtnis kristallisiert. So wird Erinnerungskultur und historisch motivierte Identitätsstiftung ermöglicht.

Dabei ging es Bäcker im Gegensatz zu Nora nicht vorrangig um nationale Anliegen, sondern um die Verantwortung für ein Wissen und dessen Aufarbeitung. Seit 2015 befindet sich der fotografische Nachlass von Heimrad Bäcker als Schenkung seines Stiefsohns Michael Merighi im mumok. Es handelt sich dabei um ein Konvolut, das Zeugnis von einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Ort und der ihm impliziten nationalsozialistischen Massenvernichtung ablegt. Im Rahmen der Ausstellung „es kann sein, dass man uns nicht töten wird und uns erlauben wird, zu leben“, zu sehen ab 27. September, wird eine Auswahl von etwa 140 Fotografien, Notizen, Textarbeiten und Fundstücken gezeigt. Auf den Fotografien sind brachliegende Anlagen zu sehen, die von Pflanzen überwuchert sind, oder aber bewusst einer anderen Verwendung zugeführt worden waren. Es sind oft ähnliche Motive, die graduelle Unterschiede in der Nachbearbeitung aufweisen und häufig seriell montiert sind.

Heimrad Bäcker: Jourhaus des KZ Gusen-Mauthausen (Zustand 1945-1993), 1975. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Heimrad Bäcker: Seziertisch Mauthausen, undatiert. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Heimrad Bäcker: „Todesstiege“ zum Steinbruch Wiener Graben des KZ Mauthausen, 1970-75. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merigh

Heimrad Bäcker: Hinrichtungsraum Berlin-Plötzensee, undatiert. Bild: © mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Schenkung Michael Merighi

Die Bilder und Texte geben einen Einblick in die Herangehensweise Bäckers und können parallel zu seinen Textarbeiten „nachschrift“ aus dem Jahr 1986 und „nachschrift 2“ aus dem Jahr 1997 begriffen werden, die als „Erkenntnisarbeit zur Genese und Struktur des Holocaust“  eine Aufklärung über Nationalsozialismus und Schoah anstrebt. Es handelt sich dabei um eine Zitatensammlung aus der Perspektive von Täterinnen und Tätern, Opfern, Angeklagten und Klägerinnen und Klägern, die mit den Mitteln von Text und Sprache ein Narrativ der Vernichtung erstellt. Ausschnitte aus „nachschrift“ sind in der Ausstellung in einem von Bäcker selbst gesprochenen Text zu hören. Bäcker hatte in Zusammenhang mit der „nachschrift“ von einer „möglichkeit zur konkretion“ gesprochen.

Das vorgefundene Textmaterial weist eine gewisse Parallele zu seiner fotografischen Spurensuche auf und erschließt ebenfalls Fundstücke: Gegenstände, die er auf dem Areal gesammelt hatte, seien es kleine Nägel oder größere Holz- oder Betonfragmente. Bäcker suchte nach einer Form der Narration, die auf überprüfbaren Dokumenten basiert. Er verzichtet auf „einfälle und phantastik“, wie er es nannte, um in seinen Texten und Fotografien die Orte Mauthausen und Gusen gegen das Vergessen in Stellung zu bringen

Der Präsentation des Werks von Heimrad Bäcker werden im mumok zwei Arbeiten zeitgenössischer Künstler zur Seite gestellt: In der Sound-Arbeit „Ein mörderischer Lärm“ von Tatiana Lecomte berichtet der Zeitzeuge Jean-Jacques Boijentin, unterstützt vom professionellen Geräuschemacher Julien Baissat, vom unerträglichen Lärm in den Arbeitsstollen des Konzentrationslagers Gusen, verursacht durch die schweren Maschinen, die im Stollen zum Einsatz kamen. Rainer Iglars Fotostrecke „Mauthausen 1974“, die er als zwölfjähriges Schulkind bei einer Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager angefertigt und als erwachsener Mann wiedergefunden hat, zeigt das Zusammentreffen der persönlichen Geschichte des Fotografen und der Geschichte des Ortes: „Der Ort ist markiert, es ist kein unschuldiger Ort.“

 

www.mumok.at

25. 9. 2019