Theater in der Josefstadt: Der Kirschgarten

Dezember 6, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Crossdresser Charlotta entblößt sich für die Gesellschaft

Champagnerlaune beim Kofferauspacken: Gioia Osthoff, Sona MacDonald, Alma Hasun, Silvia Meisterle und Alexander Absenger. Bild: Astrid Knie

Es ist der Moment, in dem Charlotta Iwanowna beschließt zum Gaudium ihres Publikums einen Quick Change vorzuführen. Ein Kleidchen fliegt, noch eines, ein drittes, Anjas Pariser Gouvernante war schließlich früher Zirkus- künstlerin. Doch dann merkt sie nicht, dass die nächste schon ihre letzte Hülle ist, und nackt steht sie da, ungewollt geoutet, Schauspieler Alexander Absenger als Crossdresser – la dame est un homme, das Entblößen ihrer Unentschiedenheit, dieses Gefühl, in etwas Falsches

geboren worden zu sein, gleichsam ein Symbol für eine ganze Gesellschaft. Die Tschechow-Menschen, antriebsarm und das in Anmut, nie eins mit sich selbst, nie am richtigen Ort oder dort dabei, das Richtige zu tun, eine lyrische Melancholie ihr Überlebenselexier, bevölkern dessen „Kirschgarten“ diesmal im Theater in der Josefstadt. Regisseurin Amélie Niermeyer zeigt mit dieser Inszenierung ihre erste Schauspielarbeit in der Stadt, und ihr gelingt es, wiewohl oder gerade weil ihre Interpretation nicht zwanghaft aktuell oder mit Krampf innovativ ist, diese zartbittere Komödie auf einen wunderbaren Weg zu bringen. Zwei pausenlose Stunden lang hält Niermeyer die Balance zwischen exzentrisch und erdenschwer, zwischen Euphorie und Elegie.

Sie verweigert sich dem den Tschechow’schen Sittenbildern oft unterschobenen Ennui, stattdessen folgen, durch- und überkreuzen sich die Szenen Schlag auf Schlag. Allein schon die sich beständig drehende Bühne lässt keinen Stillstand aufkommen, und im Gewirr der Stimmen, im Gewusel der Gestalten, die das Gut der Ranjewskaja in Beschlag genommen haben, entfaltet sich die Komik aus der Absurdität von mehr als einem Dutzend Mitbewohnern auf engstem Raum, allesamt fahrig in ihrer Festgefahrenheit, die nie mit-, sondern meist aneinander vorbeireden, deren Unfähigkeit ihre Emotionen zu artikulieren sowie ihrem Unvermögen, einem Gegenüber zuzuhören.

Wie Niermeyer das Josefstadt-Ensemble anleitet, seine Figuren zu diesen im eigenen Saft schmorenden Geschöpfen zu entwickeln, kann’s gar nicht anders sein, als dass einem die Charaktere ans Herz wachsen. Einer davon Singer-Songwriter Ian Fisher, der sich in der Dachkammer einquartiert hat, und mit seinen Balladen Gemütszustände und Gestimmtheiten per Gitarrensound ausgestaltet. Ein anderer, der Sehensmehrwert des Abends, der große Otto Schenk als Firs, sein alter Diener von anrührender Würde und zugleich augenzwinkernder Verschmitztheit, das Bühnenwunder, das mit 89 Jahren diese neue Rolle mit der ihm eigenen Verve nimmt.

Ljubow will nichts hören: Sona MacDonald und Raphael von Bargen, hi: Robert Joseph Bartl. Bild: Astrid Knie

Gut verkauft: Alexander Absenger, Sona MacDonald, Gioia Osthoff und Silvia Meisterle. Bild: Astrid Knie

Alma Hasun als Dienstmädchen Dunjascha und der Doyen des Theaters, Otto Schenk. Bild: Astrid Knie

Umringt von seinem Theaterkindern und -kindeskindern ist es schlicht, denn so spielt der Schenk, schön, wie er ob des aus Frankreich importierten freizügigen Savoir-vivre verdattert dreinschaut, wenn ihn Alma Hasuns Dienstmädchen Dunjascha lasziv antanzt oder die aufreizende Charlotta mit ihm flirtet. Alle Aufmerksamkeit auf beiden Seiten der Rampe gehört allein ihm, erzählt Schenks Firs seine Anekdoten aus anno Schnee, mit unsicheren Schritten trippelt er durchs Geschehen, und ist doch sicher, was zu geschehen hat. Ein Haus-Herr, der weiß, wann der Tisch für die gnädige Frau zu decken ist, und Obacht gibt, dass die eigentliche Herrin ihren Mantel nicht vergisst. Unfassbar und der Augenblick bitterster Traurigkeit, dass am Ende er vergessen wird.

Für all das hat Stefanie Seitz ein wandloses Landhaus entworfen, das Setting, die Fifties-Kostüme von Annelies Vanlaere, ist retrochic, in der Küchenzeile steht ein Küchenmixer und das, was man früher mal einen Campingfernseher nannte. Vom Kirschgarten sind zum Schluss nur die Kettensägen zu vernehmen. Man püriert grüne Smoothies, speibt in die Abwasch, man musiziert, duscht sich den Landmief vom Leib. Igor Karbus als so heißblütiger wie tollpatschiger Kontorist Semjon Pantelejewitsch fingiert einen Pistolenschuss und bleibt drehbühnenrundenlang unbeachtet liegen. Gioia Osthoff als Ranjewskaja-Tochter Anja wird seinem Liebeswerben trotz Suizidbluff nicht nachgeben, während deren Adoptivtochter, Silvia Meisterle als bereits Richtung Verbitterung alternde Warja, nach einem Antrag aus dem Munde des Lopachin schmachtet.

Es gehört zu den bemerkenswertesten Stellen der Textfassung von Elisabeth Plessen, wenn diese Warja sagt, sie als Frau könne doch schlecht um des Mannes Hand an-, und alle kurz und für ein lapidares „Wieso nicht? Mach doch!“ innehalten. Aussichtsreicher bahnt sich die Affäre von Dunjascha und Diener Jascha an, Claudius von Stolzmann als spitzbübischer Gigolo, der den Damen gern seinen splitternackten Body präsentiert, und sein gewinnbringendes Wesen eben wegen eines solchen auch bei der Hausfrau in sexy Stellung bringt. Er würde sich seine Chancen schon ervögeln, wenn sie ihn ließe, und so wie zwischen diesen beiden verwischt Niermeyer generell die Standesgrenzen. Sympathisch ist das, wie sie die sozialen Schichten aushebelt, in Glitzerfähnchen und Sneakers haben hier alle dieselbe Klasse.

Raphael von Bargen, Otto Schenk, Götz Schulte, Alma Hasun und Claudius von Stolzmann. Bild: Astrid Knie

Zug an der Zigarette: Otto Schenk und die aufreizende „Charlotta“ von Alexander Absenger. Bild: Astrid Knie

Richtig abrocken: Igor Karbus und Silvia Meisterle, hinten: Claudius von Stolzmann. Bild: Astrid Knie

Robert Joseph Bartl, Sona MacDonald, Alma Hasun, Ian Fisher und Gioia Osthoff. Bild: Astrid Knie

Stolzmann ist eine Sternsekunde mit Schenk geschenkt. „Du fällst mir auf die Nerven, Opa. Krepier‘ doch endlich!“, herrscht sein Jascha den Firs an, doch der streichelt ihm über die Wange, versöhnlich, nachsichtig, die Jugend halt … Und während Robert Joseph Bartl als Nachbar Simeonow-Pischtschik ein lästiger, psychopharmaka-benebelter Schnorrer ist, und Götz Schulte als Ljubows aristokratisch-poetischer, allerdings „in den 80igern“ hängengebliebener Bruder Leonid nicht zu Wort gelassen wird, entwirft Niermeyer mit dem Trofimow einen modernen Fridays-for-Future-Typ: Nikolaus Barton zwischen Traditionalismus und Turbokapitalismus als sozusagen dritter Gang, ein Idealist, der Zukunft gestalten will, offen, tolerant, demokratisch, als Ökofuzzi im Strickpullover jedoch allen auf die Nerven geht – mit seinen Reden von „Wir müssen uns verändern und verzichten!“ aber dennoch zum Reibebaum des Realisten Lopachin wird.

Womit die Rede also auf das Gegensatz-Paar der Aufführung kommt, Sona MacDonald als Ljubow Andrejewna Ranjewskaja und Raphael von Bargen als Lopachin, sie eine fiebrig in ihrem Lebenschaos flirrende, weltfremde Luftschlossbewohnerin, er ein neoliberal orientierter Pragmatiker, der die Datschen, die er bauen will sehr heutig „Summer-Getaways“ und die Ranjewskaja „ökonömisch anämisch“ nennt. Von Bargen überzeugt auf ganzer Linie als dieser durch seinen Grips Emporgestiegene, der verzweifelt am Treiben der Sich-Treiben-Lassenden, deren champagner-verkaterter Geistesträgheit seine Ideen viel zu viel Tatendrang aufdrängen. Von Bargens Lopachin ist einer, der denen helfen will, denen nicht mehr zu helfen ist. Als der Störenfried den Kirschgarten schlussendlich ersteigert hat, muss er die Angst vor der eigenen Courage in Alkohol ertränken. Wieder aufgefordert um die Warja zu freien, fällt ihm nichts ein, als sie in unternehmerischer Erregung in den Hals zu beißen.

Fazit: So stark wie in diesem „Kirschgarten“ sind selbst die Josefstädter nicht alle Tage zu sehen. Amélie Niermeyer hat mit behutsamer Hand fein ziselierte Figuren erschaffen; sie kennt keine kleinen Rollen, jedes Schicksal wird von ihr bis zum Grund für sein Verhalten ausgelotet. Ein Regieglück, das vor allem Alexander Absenger als mutmaßlich ins Prekariat abrutschende Außenseiterexistenz Charlotta für sich zu nutzen weiß, aber auch Claudius von Stolzmann oder Nikolaus Barton. Zum Abgang der illustren Gesellschaft schließlich bläst von Bargen ins Saxophon, so irre kakophonisch, dass es sogar die Motorsägen übertönt. Als könne sein Free-Jazz-Splatter die von ihm initiierte Zeitenwende wettmachen.

Videos: www.youtube.com/watch?v=rbNjOjnekt8          www.youtube.com/watch?v=qCneSmT6TtU&t=30s           www.josefstadt.org

  1. 12. 2019

Otto Schenk in „Liebe möglicherweise“

November 29, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die vielfältigen Verirrungen des Herzens

Otto Schenk. Bild: © WEGA-Film

Otto Schenk mit Norman Hacker. Bild: © WEGA-Film

Eine Handvoll Großstadtgesichter beobachtet Regisseur Michael Kreihsl in seinem jüngsten Film, der am 2. Dezember in den heimischen Kinos anläuft. Das Ensemble ist erlesen, reicht von Otto Schenk und Gerti Drassl bis Christine Ostermayer und Devid Striesow, ihre Geschichten greifen ineinander, erzählen vom Wollen und Nichtkönnen oder längst Aufgegeben haben.

„Liebe möglicherweise“, man weiß es nicht, und bevor man sich eine Antwort zurecht zimmern kann, kommt Kreihsl zu einem Ende. Das ist weder happy noch besonders unhappy. Es ist einfach. So wie das Leben. Stolpern, aufstehen, wieder stolpern, behutsamer aufstehen. Behutsam ist auch die Art, in der Kreihsl seine Protagonisten porträtiert, wie auf Zehenspitzen folgt er ihren Geschichten. Ein zarter, stiller, anrührender Film ist so entstanden, in Episoden erzählt er vom Bedürfnis des Menschen nach Nähe, von der Sehnsucht nach einem Sich-Fallenlassen-Können, von Liebe, die immer auch Selbst-/Verletzung ist – und dies alles durch alle Altersstufen.

Es beginnt mit Devid Striesow als Michael, der sich in die Freundin seines Freundes Roland, gespielt von Norman Hacker, verliebt. Sie beginnen eine Affäre, bei der sie es schafft, sich auf das Körperliche zu konzentrieren. Die Distanz, unter der der Mann hier leidet, macht andernorts seiner Ehefrau zu schaffen. Silke Bodenbender spielt diese Monika, eine Ärztin, auf deren Operationstisch ein Bub landet, der vor ein Auto gelaufen ist. Dessen verzweifelte Mutter im Wartesaal, Gerti Drassl wie immer ganz großartig, wird von einem Fremden getröstet – und man wird noch erfahren, warum der sich so um sie annimmt. Indes sieht man Michael, der seine alte Tante in einer geriatrischen Einrichtung besucht, nichts wünscht sich die mehr, als bei ihrer Familie sein zu können, doch der Wunsch wird ihr als „zu umständlich“ verwehrt. Rolands Vater wiederum lebt noch in seiner Wohnung. Das heißt, seit dem Tod seiner Frau versucht er immer wieder erfolglos, sich das Leben zu nehmen, bis …

Francis Okpata und Gerti Drassl. Bild: © WEGA-Film

Francis Okpata und Gerti Drassl. Bild: © WEGA-Film

Devid Striesow und Christine Ostermayer. Bild: © WEGA-Film

Devid Striesow und Christine Ostermayer. Bild: © WEGA-Film

Es sind Christine Ostermayer und Otto Schenk, die in diesen Rollen am meisten unter die Haut gehen. Als eine Generation, die der nächsten abverlangt, woran sie selber gescheitert ist. Kreihls berichtet schonungslos authentisch vom Analphabetismus der Gefühle. Wie ein Wissenschaftler die Petrischale umkreist Kreihsl sein Thema. Sein in großer Wahrhaftigkeit verfasstes Drehbuch und die unverstellte Darstellung seines Ensembles lassen dem Zuschauer Raum sich den Figuren zu nähern und sich in dem einen oder anderen vielleicht sogar selbst zu finden. Ein durchaus schmerzhafter Prozess, der durchaus sehr gewollt erscheint. Aufs Glück warten, ist wie auf den Tod warten, sagt eine der Figuren. Daraus sollte man Schlüsse ziehen. Um sich daran hochzuziehen, wenn’s irgendwann heißt: Liebe möglicherweise?

liebemoeglicherweise.at

Wien, 29. 11. 2016

Theater in der Josefstadt: Liebelei

September 5, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Melancholie im September

Eva Mayer (Mizi), Florian Teichtmeister (Fritz), Matthias Franz Stein (Theodor),  Alma Hasun (Christine) Bild: Erich Reismann

Eva Mayer (Mizi), Florian Teichtmeister (Fritz), Matthias Franz Stein (Theodor), Alma Hasun (Christine)
Bild: Erich Reismann

Das Theater in der Josefstadt eröffnet die neue Saison mit Schnitzlers „Liebelei“ in der Regie von Alexandra Liedtke. Schnitzlers Jugend-Sünde (davor ist nur „Anatol“ von Bedeutung) erzählt die Geschichte von zwei nicht eben unbetuchten Studenten und Reserveoffizieren, Theodor und Fritz, die sich mit zwei süßen Vorstadtmädln eine geile Zeit machen wollen. Theodor und Mizi (Eva Mayer) nehmen’s locker. Christine ernst. Problem nur: Fritz hat eine Affäre mit einer verheirateten Frau – und deren Mann steht plötzlich in seiner Tür … Im zeitlos-zeitgemäßen Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt zeigt Liedtke eine Inszenierung der Andeutungen. Wie es ihre Art ist, hat sie den Stoff fein ziseliert, leise Gesten mit laut schreienden Blicken vermischt – und versteckt sich doch zu sehr hinter Schnitzlers Konversationston. Den beherrschen die Josefstädter natürlich aufs Beste. Generation um Generation um Generation. Aber das kann doch anno 2014 nicht alles sein – nur um Missverständnisse zu vermeiden: womit hier keine Zwangmodernisierung verlangt ist!

Florian Teichtmeister spielt das Ende (Duell, Tod) von Anfang an mit. Er beherrscht die große Kunst, es das Publikum spüren und mitleiden zu lassen, wie’s bei seiner Figur unter der charmanten Oberfläche brodelt. Leichenblass geistert er durch die Szenerie, kakophonisch Klavier spielend, ein manisch-melancholischer Geheimnisträger, der zwischen dem „Kind“ und der „Dämonin“ steht. Überhaupt hätte man Fritzens Beschreibung Christins, da ja Striche gemacht wurden, überdenken können. So klingt das nach Yorkshire Terrier: anhänglich, brav, nur die treuen Augen fehlen noch. Alma Hasun, die wunderbare Schauspielerin, hat diesem Klischee im ersten Teil zu entsprechen. Auch, wenn Fritz einmal schon zwischen ihren Schenkeln ist, Hosenträger und Blüschen fallen, eine Hetz‘ hat hier keiner. Nur Fritz ist gehetzt. Freud‘ kommt keine auf, nur Freudianisches. Die beiden somnambulen sich durch den ersten Teil bis zum Ennui, was die Fallhöhe für Teil zwei auf einen Albtraumsturz aus dem Bett mildert. Da dreht Christin‘ dafür dann auf: kniezerschmetternd, weil sie jeden Mann um ebendieselben fassen muss – warum eigentlich? ich persönlich schmettere mich in Verzweiflung lieber aufs Sofa – und hysterisch. Kishons „Es war die Lerche“ kommt einem in den Sinn oder Max Böhms Spruch: „Die eine Hälfte des Lebens fragt die Mutter: Wo gehst du hin?, die andere die Ehefrau: Wo kommst du her?“. Wo sie Fritz „Liebelei“ statt Liebe vorwirft, ist sie von einer Inbesitznahme, die weniger mit Liebe als mit Obsession zu tun hat. Vielleicht ist Fritz im kühlen Grab ja besser dran …

Die Erfreulichkeit des Abends ist Matthias Franz Stein, der sich als springteuferlhafter Spielleiter ausgibt und, als es um die Frage von Leben und Ableben geht, der einzige Realist weit und breit ist. Klar ist er ein Filou, aber gleichzeitig ein Warner vor dieser schwarzsamtig gewandeten Sirene, die nur Unglück bringen wird und es auch tut. Eine fabelhafte Leistung. Und andererseits ein Verlust: Wenn man schon eine großartige Darstellerin wie Therese Lohner im Team hat, hätte man sie zur Verdeutlichung von Fritzens Zwiespalt zwei, drei Mal als sein Begierdegespenst, für die anderen unsichtbar, über die Bühne „spuken“ lassen können. Auch wenn das Schnitzler nirgends aufgeschrieben hat, hätte es mehr Dramatik gehabt, als ein parfümiertes Billet. So gibt die Lohner als Strumpfwirkersgattin, die  Binderin, eine einwandfreie Giftspritze. Schön von Liedtke herausgearbeitet auch der Moment mit dem gehörnten Ehemann, Alexander Strobele, der auf  Teichtmeisters zweimaliges „Ich stehe zur Verfügung!“  keine Antwort gibt, trotzdem beide in ein Duell treiben muss, das keiner will. Konvention kennt keine Gnade.

Bleibt Otto Schenk als Christins Vater Hans Weiring. Natürlich legt er den Violinspieler am Josefstädter Theater verschmitzt-schenkisch an. Doch der Alte hat mehr in einem Finger (auch wenn man das Deuteln mit diesem kennt und – der eine mehr, der andere weniger – liebt), als die anderen im ganzen Arm. Jede Silbe sitzt, wenn er glaubt, an seiner Tochter gut machen zu können, was er an seiner veraltjungfert verstorbenen Schwester versäumt hat, jeder Ton passt, wenn er versucht Christins Unglück handzuhaben, ihr zur Seite zu stehen – und doch versagen muss. Da schafft er ergreifende Momente.

Liedtkes „Liebelei“ ist eine hochwertige, herzblutvolle Arbeit, der ein bissl die Boshaftigkeit fehlt, der Abgrund, die durchtriebene Triebhaftigkeit. Dabei müsst‘ sie’s doch schon wissen, dass wir nicht lieb sind, wir Wiener.

www.josefstadt.org

Interview: www.mottingers-meinung.at/florian-teichtmeister-und-alma-hasun-in/

Wien, 5. 9. 2014

Florian Teichtmeister und Alma Hasun in …

September 3, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

„Liebelei“ am Theater in der Josefstadt

Alma Hasun (Christine), Florian Teichtmeister (Fritz Lobheimer) Bild: © Erich Reismann

Alma Hasun (Christine), Florian Teichtmeister (Fritz Lobheimer)
Bild: © Erich Reismann

Die Eröffnungspremiere der Saison (4. September) in der Josefstadt widmet sich dem vor 120 Jahren entstandenen Werk von Arthur Schnitzler, mit dem er 1895 seinen Durchbruch als Dramatiker erlebte. Nach wie vor zählt „Liebelei“, die tragische Geschichte um Christine, die erfahren muss, dass ihr Geliebter Fritz wegen einer anderen Frau im Duell starb, zu den bekanntesten Stücken Schnitzlers. Das darin entworfene Gesellschaftsporträt ist durchaus ein kritisches. Mit psychologischer Finesse zeigt Schnitzler eine Gesellschaft, hinter deren ehrenwerter Fassade sich Gefühlsarmut verbirgt. Alexandra Liedtke, die mit ihrem Josefstadt-Debüt „Blackbird“ einen sensationellen Erfolg feierte, inszeniert zum dritten Mal an der Josefstadt; mit Alma Hasun als Christine, Florian Teichtmeister als Fritz, Matthias Franz Stein, Eva Mayer, Therese Lohner, Alexander Strobele und Doyen Otto Schenk zum 85. Geburtstag als Hans Weiring.Ein Gespräch mit den Hauptdarstellern:

MM: Ich habe „Liebelei“ gesehen, da stürzt sich Christine aus dem Fenster, ich habe „Liebelei“ gesehen, da stürzt Christine bei der Tür hinaus. Frau Hasun, wohin stürzen Sie sich?

Alma Hasun: Das bleibt ziemlich offen. Ich gehe auf jeden Fall. Ich verlasse die Wohnung und ich verlasse diese Welt, in der ich nicht sein möchte. Aber es wird nicht erklärt, was genau passiert.

MM: Regisseurin Alexandra Liedtke sagte, dass sie, was Kostüm und Bühnenbild betrifft, in der Zeit bleibt. Hält das Schnitzler zeitlos oder zeitgemäß? Oder: Was erzähle ich da heute noch?

Florian Teichtmeister: Ich glaube, dass es stückimmanente Wahrheiten gibt, wie Duelle, Stände und Ehrbegriffe, Uniformen und Militärmitgliedschaften, um die man nicht herumkommt. Da krampfhaft zu modernisieren und daran zu scheitern, hatten weder Frau Liedtke noch wir Interesse. Das Allgemeingültige bei Schnitzler erkennt das Publikum auch, wenn man k.k.-Uniformen an hat. Man bedient einfach die Notwendigkeiten, die in diesem Stück vorkommen. Hollywood zeigt uns das mehrmals im Jahr in Historienfilmen, dass das Publikum die Message doch rüber bekommt.

MM: Dieses Allgemeingültige wäre?

Teichtmeister: Liebe, Tod …

Hasun: Hoffnungen, Träume …

Teichtmeister: Eine Beziehung im Ungleichgewicht.

Hasun: Was erwartet der eine, was ist für den anderen nur Liebelei. Wo sind da die Grenzen? Es gibt Dinge, die heute ganz anderes sind, etwa die Sexualmoral, aber sobald wir angefangen hatten zu proben, hatte ich überhaupt nicht das Gefühl ich muss mich an die Christine ewig lang herantasten, sondern ihre Themen beschäftigen mich ganz genauso.

Teichtmeister: Was mir aufgefallen ist, dass die Probleme heute die gleichen sind, aber nicht mehr so geschlechterspezifisch zuordenbar. Da draußen könnte Christine mit ihrer Gefühlswelt genauso gut ein Mann sein und der Fritz eine Frau. Die inneren Vorgänge, die Begehrlichkeiten, die große Liebe, die Angst vor der Verantwortung, das findet sich alles wieder, aber nicht mehr so nach Geschlechtern geteilt, wie es zu Schnitzlers Zeiten war. Heute könnte man die beiden Rollen auch umdrehen. Das ist eine große Stärke, dass heutzutage ein junger Mann sich der Liebe ebenso hingeben kann wie Christine. Hingabe hat nichts damit zu tun, dass man lächerlich ist, klein oder dumm. Sie ist die allergrößte Stärke.

MM: In der Literatur wird Christine stets als das Klischee des süßen Wiener Vorstadtmädls beschrieben, das auf den Studentenhallodri reinfällt. So werden Sie’s nicht spielen?

Hasun: Sie sagen das mit einer Hoffnung in der Stimme.

Teichtmeister: Das glaube ich auch. Diese Frage war nicht ganz neutral gestellt.

Hasun: Für mich ist Christine sehr pur, sehr unverstellt, sehr ehrlich. Für mich ist das ganz Tolle, dass sie sich gerne hingibt. Weil sie es will. Weil es ein scheißgutes Gefühl ist. Da macht eine, was sie will, und nimmt auch die Konsequenzen auf sich. Das ist eine ganz, ganz starke Figur. Mir haben, als ich sagte, dass ich Schauspielerin werden will, viele gesagt, da bräuchte ich aber einen Plan B. Ich habe bis jetzt noch keinen. Weil ich mir gar keine Gedanken darüber machen will.

Teichtmeister: Christine ist eine, die den Schein nicht zu wahren hat. Sie braucht sozusagen auf Facebook nicht ihre sonnigen Urlaubsfotos und ihre prominenten Freunde zu posten, damit alle sagen: Pfoh, geht’s der gut. Sie lebt in dieser Welt, sie gaukelt sich keine vor – auch um den Preis des Scheiterns.

MM: Apropos, Schein wahren: Fritz baut auch sehr viel Fassade auf. Trotzdem mag ich ihn nicht als gelangweilten Studenten, als „Verführer“ sehen.

Teichtmeister: Das freut mich, denn so will ich auch nicht spielen. Es gibt eindeutige Zeilen von Schnitzler, wo er beschreibt, wie er seinem Freund Theodor gegenüber auf Einserschmäh tut. Allerdings hat dieser Fritz von Anfang an ein Problem. Weil er glaubt mit der Christine auf einer Konvention aufbauen zu können, die sie nicht beherrscht. Er kann mit ihr nicht Schluss machen. Heutzutage schreibt man ein SMS.

Hasun: Oder verabschiedet sich via Facebook.

Teichtmeister: Fritz versucht diese Liebschaft mit diesem jungen Ding. Liebe heißt aber Verantwortung tragen. Und da weiß er nicht, wie damit umgehen, wo ihm doch die andere Dämonin, die verheiratete Frau, mit der ein Pantscherl hat, im Kopf herumgeistert. Dann kommt der Moment, wo man Codes benutzt: Du … ich denke … dass es an der Zeit ist … uns neu zu positionieren. Und das funktioniert nicht, weil er auf diese blanke, offene Ehrlichkeit trifft. Das überfordert ihn. Er ist ein feiger Mann.

MM: Ein Fall für die Therapiecouch.

Teichtmeister: Ja, eindeutig. Hätte er große psychische Probleme, hätte man aber mit ihm mehr Mitleid. Haben Sie’s? Das große psychische Binkerl hat ihm der Schnitzler nicht mitgegeben.

MM: Schon irgendwie. Ich denke, beim Fritz brodelt viel unter der Oberfläche. Er kann sich von seinem Manns-Bild nicht lösen. Er kann nicht über seine Gefühle, seine Bedürfnisse reden.

Teichtmeister: Das wird vielen Buben bis heute nicht beigebracht. Es gilt meistens noch das Motto: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Was Männer machen, ist falsch: Sind sie die „Harten“ sind sie unsympathisch, sind sie die „Weichen“, sind sie Weichlinge. Die Krise des modernen Mannes! Alle zehn Jahre sagen ihm Frauenmagazine, wie er sein soll. Die Lösung all dieser geschichtlichen Verirrungen und Verwirrungen muss sein, dass der Mann selber entscheidet, wie er sein will.

MM: In diesem Zusammenhang meine ich eben, dass Fritz in einem Käfig gefangen ist. Bis hin zu Duell.

Teichtmeister: Ja, niemand fordert hier niemanden. Die wollen gar nicht. Doch das Duell selbst fordert Fritz und den gehörnten Ehemann. Da steht was im Raum, ein gesellschaftliches Geflecht, die beiden sehen sich und denken: Fuck. Da glimmt in Fritz ein Funke, in dem er erkennt, was er an Christine haben hätte können.

MM: Arbeiten Sie beiden erstmals mit Alexandra Liedtke?

Teichtmeister: Ja.

Hasun: Ich empfinde bei ihr eine große Freiheit und fühle mich gleichzeitig sehr gut aufgehoben. Sie schaut wahnsinnig genau zu. Sie hat klare Vorstellungen, lässt einen aber trotzdem etwas ausprobieren. Das ist perfekt. Sie ist humorvoll, respektvoll, irrsinnig klug. Eine tolle Mischung, um darin zu arbeiten.

MM: Sie haben einmal unter Harry Kupfer am Theater an der Wien als kleiner Amade angefangen, sind dann aber doch zum Sprechtheater gewechselt. Ihre Liebe zum Musiktheater leben Sie nun dadurch aus, dass Sie Fidelios Leonore als Sprechrolle geben?

Hasun: Der Ausflug ins Musical hat sich ergeben. Da war ich zehn Jahre alt. Ich habe schon als Kind getanzt, nehme jetzt auch wieder Gesangsunterricht, aber Musical ist es dann doch nicht geworden. Die Stoffe am Sprechtheater sind für mich spannender. Der „Fidelio“ wird als Lesedrama mit Musik am 25. Oktober beim Badener Beethoven-Festival im Beethovenhaus aufgeführt. Mein Partner ist Karl Markovics. Otto Brusatti wird das quasi inszenieren.

MM: Dann folgt am 27. November die nächste Herausforderung an der Josefstadt: „Eine dunkle Begierde“ von und in der Regie von Christopher Hampton. Ist das was, mit einem Oscarpreisträger zusammenzuarbeiten?

Teichtmeister: Da begegnen wir einander aber auf der Bühne nicht. Ich spiele den Psychiater Otto Gross, der den Kollegen sehr gute Ratschläge gibt und dafür Drogen will …

Hasun: Und ich spiele die Ehefrau von C. G. Jung, die von ihm betrogen wird. Ich bin schon sehr auf Christopher Hampton gespannt und auf Daniel Kehlmann, von dem die Übersetzung ist.

www.josefstadt.org

Video: www.youtube.com/watch?v=darCV_CD7K4

Wien, 3. 9. 2014

Herbert Föttinger im Gespräch

Februar 19, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Über „KUNST“ und Kulturpolitik

Herbert Föttinger (Serge), Martin Zauner (Yvan), André Pohl (Marc) Bild: © Erich Reismann

Herbert Föttinger (Serge), Martin Zauner (Yvan), André Pohl (Marc)
Bild: © Erich Reismann

Herbert Föttinger probt. Als Schauspieler „KUNST“ in den Kammerspielen, als Regisseur „Die Schüsse von Sarajewo“ an der Josefstadt, als Theaterdirektor den Aufstand. Anlässlich der Finanz- und anderer Krisen am Burgtheater macht er klar, warum sich der Subventionsgeber nicht aus seiner Verantwortung stehlen dürfe. Die Politiker müssten endlich ein Signal zum Erhalt der Kulturnation Österreich setzen. Oder diese offiziell zu Grabe tragen.

„KUNST“ von Yasmina Reza hat am 20. Februar Premiere. Wie vor 18 Jahren spielen Föttinger, Martin Zauner und André Pohl das Männertrio, das sich über dem sündteuren Ankauf eines weißen Bildes zerstreitet. Serge hat sich dieses monochrome Bild gegönnt. Ein heftiger Konflikt entsteht, da Serges Freund Marc diese Ausgabe nicht tolerieren will. Auch Yvan, dem dritten und stets um Neutralität bemühten Freund, gelingt es nicht zwischen den beiden zu vermitteln. Subtil beschreibt Reza, wie durch die „Kunst“ nicht nur die Befindlichkeiten der Männer hinterfragt werden, sondern auch ihre langjährige Freundschaft, ja ihr gesamtes bisheriges Dasein, auf den Prüfstand gestellt wird.

MM: Warum haben Sie sich entschlossen, nach 18 Jahren wieder „KUNST“ in der Originalbesetzung auf den Spielplan zu setzen?

Herbert Föttinger: Um bei der Wahrheit zu bleiben: Für diese Premiere war ein anderes Stück geplant, nämlich „Die Wunderübung“ von Daniel Glattauer. Das hat sich ein bisschen verzögert, diese Uraufführung findet erst kommende Saison an den Kammerspielen statt. So war eine Premiere offen, und es gab von meinen beiden Kollegen Martin Zauner und André Pohl immer den Wunsch, wieder „KUNST“ zu spielen. Es war ein großer Erfolg im Rabenhof, der damals noch zur Josefstadt gehörte, wir haben’s mehr als hundert Mal gespielt. Ich selber bin ja nicht so gierig drauf, zu spielen, weil es mir Zeit wegnimmt. Eine Rolle, der Domenico Soriano in „Hochzeit auf Italienisch – Filumena Marturano“, wäre ja genug für eine Spielzeit. Nun ist mir eine zweite Rolle passiert, freuen tue ich mich darauf aber schon.

MM: Die jetzige Premiere ist eine Neuinszenierung von Folke Braband. Inwieweit hat sich der Zugang zum Stück, zu den Rollen seit 1996 verändert?

Föttinger: Wir sind alle drei älter geworden, das hat der Sache gut getan, weil wir jetzt für diese Rollen im richtigen Alter sind und damals zu jung waren. Wir haben damals besonders das weiße Bild verteidigt. Heute sehen wir, dass es nicht nur Immobilien- und Finanzblasen gibt, sondern auch Kunstblasen. Wir empfinden jetzt bei der Arbeit, dass dieses Bild, der Zankapfel des Stückes, nur Beiwerk ist, ein Katalysator, ein Trick von Yasmina Reza, damit das Stück in Gang kommt. Denn tatsächlich geht’s um was ganz anderes, Tiefergreifendes.

MM: Um eine „Beziehungskiste“ unter Männern?

Föttinger: Es ist ein Stück über Freundschaft, über eine Beziehung, die über 20, 30 Jahre geht. Da verändern sich Menschen. Diese Veränderung kann man tolerieren, die kann man auch lieb gewinnen, an dieser Veränderung kann man aber auch verzweifeln – und diese drei verzweifeln. Im Stück geht’s um das Überprüfen von Freundschaft: Ist der Mensch, der mir vor 30 Jahren besonders wichtig war, nachdem ich Dies und Das erlebt habe, noch genau so wichtig? Findet zwischen uns noch Austausch statt? Das ist die Zerreißprobe, die die drei zu bewältigen haben.

MM: Serge, Marc und Yvan sind drei gleichberechtigte Rollen. Warum hat man Sie als Serge besetzt?

Föttinger: Das frage ich mich auch. Das hat der damalige Direktor so bestimmt. Und wir haben es bei der Schenk´schen Entscheidung belassen. Serge kauft das sündteure weiße Bild. Marc will das nicht tolerieren. Wir hatten 1996 drei Leseproben, immer in einer anderen Rolle, und ich dachte, ich würde der Marc werden. Den übernahm aber André Pohl. Ich würde mich in beiden Rollen wohl fühlen, nur den Yvan kann ich nicht spielen, das kann nur Martin Zauner.

MM: Yasmina Reza mag es nicht, wenn man Ihre Stücke Gesellschaftssatiren oder Beziehungskomödien nennt. Trotzdem ist diese Richtung vorgegeben und Teil ihres weltweiten Erfolges.

Föttinger: Sie behandelt mit großer Leichtigkeit und viel Witz schwere gesellschaftliche und psychologische Probleme. Sie hat eine tolle Sprache und bleibt bei aller Tiefe und Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung einem breiten Publikum zugänglich. Es gibt schon mehr als einen Grund, warum diese Autorin international so oft gespielt wird. Ich kenne wenige Gegenwartsautoren, die eine solche überregionale Bedeutung haben. Und für die Kammerspiele ist Yasmina Reza ideal. Hier gehört sie her.

MM: Die Kammerspiele hatten als letzte Premieren „Der letzte Vorhang“ und „Die Mausefalle“, auf „KUNST“ folgt „Ziemlich beste Freunde“ nach dem französischen Kinoerfolg. Ist das der Weg, den Sie mit den Kammerspielen beschreiten wollen? Unterhaltung mit Herz und Hirn sozusagen?

Föttinger: Ja. Und das wird vom Publikum auch gerne angenommen. „Die Mausefalle“ ist ausverkauft bis Mai. Das sind alles Stücke, die mir Spaß machen. Die haben Witz, sind aber im Kern ernst, die berühren, sind aber ebenso zum Lachen. Auf „Ziemlich beste Freunde“ bin ich schon sehr gespannt. Dass der Film seinen Weg auf die Bühne findet, ist heute ein Faktum. Die beiden Kunstformen befeuern sich derzeit gegenseitig. Das ist eine Tendenz, die auch wieder vorbeigehen kann.

MM: Sie proben nicht nur in den Kammerspielen, sondern auch an der Josefstadt. Sie inszenieren Motive aus Milo Dors Roman „Der letzte Sonntag“ als „Die Schüsse von Sarajevo“. Warum haben Sie dieses Projekt als Beitrag der Josefstadt zum Gedenkjahr 1914-2014 ausgesucht?

Föttinger: Natürlich ist das der erste Gedanke: Wir machen „Die letzten Tage der Menschheit“. Aber das machen eh alle anderen. Und ich fand die Prozessakte, die Protokolle der Untersuchung, welche der Untersuchungsrichter Leo Pfeffer nach dem Attentat geführt hat, viel aufregender, ungleich spannender. Wir machen Ende Juni „Die letzten Tage der Menschheit“ als Lesung von Erwin Steinhauer; ich werde mit Sandra Cervik bosnische Literatur vorstellen. Die Pfeffer-Geschichte, welche mir so vorkommt wie 9/11, hat mich total fasziniert: Alle schreien nach Vergeltung für das Attentat, es wird eine Verschwörung aufgedeckt, es wird ein Land schuldig gesprochen und es wird ein Krieg erklärt. Man braucht unbedingt Schuldige, die man der allgemeinen Vergeltungshysterie vorführen kann. Alle schreien danach. Als Osama bin Laden beseitigt wurde, ist in Amerika der große Jubel ausgebrochen. Was den Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrifft, der auch bejubelt wurde,  so ist der Zusammenhang zwischen Attentat und serbischer Regierung bis heute nicht eindeutig bewiesen. Ich fand die Versuche von Leo Pfeffer, die Wahrheit herauszufinden, wirklich aufregend. Was ist Wahrheit? Alles was wir in Schulbüchern lesen, stimmt das auch? Zum Schluss sagt ein Rabbi zu Pfeffer: Es gibt keine Wahrheit außer den Tod.

MM: Anlässlich des Jahrestages ist einiges an Literatur erschienen, das die Geschehnisse neu beleuchtet, etwa Christopher Clarks „Die Schlafwandler“. Fließt das in Ihre Arbeit ein?

Föttinger: Ja. Was mich in der Vorbereitung so fasziniert hat, ist die Beschäftigung mit der Vorkriegszeit, „Der taumelnde Kontinent“, auch das ein Buch von Philipp Blom. Man wollte Geschichte neu schreiben, wollte Grenzen neu schreiben. Die Welt war in Aufruhr. Was da alles passiert ist an Entdeckungen und Erfindungen. Die Industrialisierung. Die Armut. Eine elektrisierte, aufgeheizte Zeit, die irgendwo explodieren musste. Ein Glück, dass wir heute ein vereintes Europa haben. Diese Gemeinschaft kann Frieden sichern. Das war um 1912 nicht der Fall. Ich finde den europäischen Gedanken den schönsten Gedanken, auch wenn uns nicht alles gefällt, was aus Brüssel kommt. Sobald Länder politisch und wirtschaftlich verknüpft sind, wird die Kriegsgefahr geringer.

MM: Erwin Steinhauer spielt Leo Pfeffer. Was haben Sie sich gemeinsam für die Rolle überlegt?

Föttinger: Wir haben die Romanfigur gemeinsam mit Milan Dor und Stephan Lack ein wenig verändert, wir wollten nicht die Prozessakte dramatisieren und auf die Bühne stellen. Leo Pfeffer ist Kroate, 55, 60, und verliebt sich in eine bosnische Serbin, eine 45-jährige Witwe, die einen 20-jährigen Sohn hat. Für Pfeffer ist das ein zweiter Frühling, er träumt davon, Sarajevo zu verlassen und mit seiner Liebe seinen Lebensabend in Wien zu verbringen, wo er einmal studiert hat. Das fand ich schön, dass die Figur älter beschrieben wird. Ich war selbst unlängst in Sarajevo und kann verstehen, dass man da raus will. Das ist immer noch eine zweigeteilte Stadt, in der über diverse Gotteshäuser ein „Religionskrieg“ mit Glockengeläut und Gebetsrufen betrieben wird. So wird mein Stück auch beginnen: Ich fange 1993 an, wie plötzlich aufgrund einer nationalistischen Radikalisierung Nachbarn aufeinander losgehen, Gräben in Familien aufbrechen und daraus ein schrecklicher Jugoslawienkrieg entsteht. Die Kriegserklärung der Donaumonarchie war nur einer von vielen Rissen durch das Land. Ich bin kein Freund der Vermischung von Religion und Nation. Sobald sich die beiden zusammen tun, sobald man den anderen nicht mehr atmen lässt, führt das zur Katastrophe. Drum mag ich unseren Stückschluss so sehr: Der Kroate und die Serbin zeugen noch ein Kind und dieses Kind kennt keine Nation.

MM: „Die Schüsse von Sarajevo“ am 3. April ist Ihre letzte große Premiere für diese Saison. Ist das ein Sparprogramm?

Föttinger: Ich hatte in dieser Spielzeit immerhin sechs Premieren in der Josefstadt. Nein, ich mache kein Sparprogramm. Ich versuche das Verhalten des Publikums zu erforschen, denn die Wiederaufnahmen eines Stücks im Herbst funktionieren nie so wie vor der Sommerpause. Beim „Weiten Land“ hatten wir eine Auslastung von 98 Prozent und stürzten nach dem Sommer um  15 Prozent ab. Ich gebe mich mit 75, 80 Prozent Auslastung nicht zufrieden, ich muss sehr viel erwirtschaften, die Einspielergebnisse müssen sehr hoch sein, damit wir den Betrieb in der Form erhalten können. Die Gehälter meiner Mitarbeiter werden ja jedes Jahr kollektivvertraglich erhöht. Ich weiß nicht, wie die Zukunft ausschauen wird, wenn die Verantwortlichen sich aus dieser stehlen. Kann schon sein, dass die Politik kein Geld hat. Nur, was heißt das für uns Theaterschaffende? Man kann Finanzlöcher nicht durch Erhöhung der Kartenpreise stopfen. Das schafft kein Theater. Und wir im Besonderen nicht, wir sind ja kein reines Abonnementhaus, deshalb müssen wir sehr, sehr viel Geld einspielen. Und wenn ich die letzte Premiere im April mache, kann ich das Stück noch drei Monate spielen, das sind 30 Vorstellungen, bevor wir in die Pause gehen. Habe ich Mitte Mai Premiere, schaffe ich noch zehn Vorstellungen und dann ist das Stück vergessen. Der frühe Premierentermin ist also der Versuch einer neuen Strategie, damit die Ökonomie des Hauses funktioniert, dafür bin ich als künstlerischer Direktor verantwortlich. Ich habe mehr Verantwortung als nur den Spielplan zu erstellen und zu sagen: Was Geld betrifft, das geht mich nichts an.

MM: Darum könnte an der Josefstadt eine Finanzgeschichte wie am Burgtheater nicht passieren?

Föttinger: Ich beteilige mich nicht an der allgemeinen Hinhauerei aufs Burgtheater. Die Josefstadt hatte vor 15 Jahren eine Riesenfinanzkrise, die nicht nur wegen der kollektivvertraglichen Erhöhungen entstanden ist. Man hat sich mit dem Rabenhof etwas geleistet, was man sich nicht leisten konnte. Vielleicht war der Spielplan aufwendiger, vielleicht waren die Einnahmen nicht so gut. Das kann passieren. Helmuth Lohner hat damals sehr gekämpft, auch um eine Subventionserhöhung. Lustig war das damals im Jahr 1999/2000 für die Josefstadt nicht und es hat bis 2003 gebraucht, bis sich das Theater von dieser ökonomischen Katastrophe erholt hat. Dann kam Gratzer, von dem ich 750.000 Euro minus übernommen habe, das konnte ich bereinigen. Was soll ich sagen? Das Geld wird ja in den Theatern nicht mutwillig verschleudert. Obwohl, um bei der Wahrheit zu bleiben, manchmal kommt auch das vor.

MM: Wenn ein Theater sparen muss, wenn es Schulden abtragen muss, wo kann es das?

Föttinger: Das ist sehr, sehr schwer, wenn man den Betrieb wie er ist, erhalten will. Ich finde man sollte nicht an den Produktionen sparen. Die Politik verlangt von uns zu rationalisieren. Aber was heißt denn das? Kündigungen. Dass ich Menschen mit Familie ohne finanzielle Absicherung in den Regen stelle. Nur das Wort Kündigung will kein Politiker aussprechen. Wenn es Engpässe gibt und der Staat die Verantwortung – und die hat er nun mal als Subventionsgeber – nicht mehr übernehmen kann oder übernehmen will, entsteht ein angelsächsisches Betriebsprinzip. Ich schaue mir diese Formen der Betriebsführung in Großbritannien genau an, und die sind halt härter, brutaler, als man es in Österreich gewohnt ist. Ich muss eine Lanze für das deutschsprachige Theater brechen. Ich glaube, es ist das fortschrittlichste, das innovativste weltweit. Das muss man einmal sagen. Die hier praktizierte Form des Fantasierens, des Träumens hat dem Theater einen Höhenflug beschert. Das ist eine unglaubliche Entwicklung, die in der Form beispielsweise in London nicht stattfindet. Dort versucht man unter günstigsten Bedingungen zu produzieren, die Leute werden sehr schlecht bezahlt, sind zwischen den Produktionen arbeitslos … das sind keine tollen Arbeitsbedingungen. Genau so schwierig ist es in Italien, in Frankreich. Was will man also hierzulande? Alle Theater zusperren bis aufs Burgtheater? Das wäre grauenhaft für die Theaterstadt Wien, wenn es nicht die kleinen Häuser gäbe. Will man das zerstören, was man mühevoll aufgebaut hat? Wenn wir schon eine Kulturnation sind, dann muss man auch in diese investieren. Oder wir erklären, dass wir keine mehr sein wollen. Auch möglich, aber grauenhaft.

MM: Sind Sponsoren ein Ausgleich, wenn der Subventionsgeber auslässt?

Föttinger: Nein. Die können auch keinen Ausgleich zu fehlenden Subventionen schaffen. Auch ich bemühe mich um Sponsoren, wie man weiß. Aber der nächste Direktor, der nach mir kommt, hat vielleicht nicht diese Kontakte, hat vielleicht nicht dieses Netzwerk aufbauen können, deshalb darf Sponsoring nie ein wesentlicher Teil des Budgets werden. Ganz, ganz klein, ja. Mit allem anderen macht man sich abhängig von der Privatwirtschaft. Ich finde es toll, wenn die Privatwirtschaft ihren Teil für die Kultur leistet, aber man darf sich nicht abhängig machen. Beispiel Pereira in Salzburg: Der hat über seine Verbindungen zusätzliche Millionen für sein Riesenprogramm aufgestellt. Aber jetzt fließen diese Millionen nicht mehr – und das Programm wird wieder kleiner. Er hat seinem Nachfolger, der vielleicht kein so begnadeter Aufreißer von Sponsorengelder ist, eine Vorgabe hinterlassen, die dieser nicht erfüllen kann.

MM: Zum Ende des Gesprächs noch was Positives: Kann man schon etwas über die nächste Saison erfahren?

Föttinger: Wir sind guten Mutes, wir haben eine sehr erfolgreiche Spielzeit. Wir werden internationaler. Christopher Hampton und Cesare Lievi werden zu uns stoßen und bei uns inszenieren. Der Rest ist Überraschung.

www.josefstadt.org

Trailer „KUNST“: www.youtube.com/watch?v=QV4GfnoiSLM#t=1

Die Lesung bosnischer Autoren in Anknüpfung an die „Die Schüsse von Sarajevo“-Premiere findet  am 7. und 8. April auf der Probebühne statt, 20 Uhr, Titel „Bosnien – Geschichten aus der dunklen Welt“. Es lesen Sandra Cervik, Herbert Föttinger, Florian Teichtmeister und Alma Hasun.

www.josefstadt.org/Theater/Stuecke/Josefstadt/Probebuehne/Bosnien-GeschichtenausderdunklenWelt.html

Wien, 19. 2. 2014