Wien Museum und Wienbibliothek: Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne

Oktober 11, 2020 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Fanfotos mit Marlene Dietrich und Buster Keaton

Werbeplakat für den Film Bambi, 1951. © Wienbibliothek im Rathaus

Anlässlich seines 75. Todestages erhellt ab 15. Oktober die Ausstellung „Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne“ in der Wienbibliothek im Rathaus und im Wien Museum die vielen Facetten Felix Saltens. Sie präsentiert ihn als einflussreichen Journalisten, mächtigen Kulturkritiker, experimentierfreudigen Theatergründer und bedeutenden Protagonisten des kulturellen Lebens der Wiener Moderne.

Korrespondenzen mit Zeitgenossen zeigen ihn als Mitstreiter des literarischen Netzwerks „Jung Wien“ um Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler. Mit Tierbüchern wie „Bambi“ feierte er internationale Erfolge als Bestsellerautor. Als Chronist seiner Zeit dokumentierte Salten das tägliche Geschehen in Taschenkalendern. So sind die Einträge vor seiner Flucht in die Schweiz 1938/39 ein maßgeblicher Beitrag für die Kulturgeschichte der Stadt.

Zentrale Grundlage der Ausstellung ist Felix Saltens Nachlass, der 2015 und 2018 von der Wienbibliothek im Rathaus erworben wurde.

Dieser eröffnet mit zahlreichen Fotos, Lebensdokumenten, dem Manuskriptarchiv und besonders der Briefsammlung mit etwa 700 Korrespondenzpartnern, unter ihnen Karl Kraus, Heinrich und Thomas Mann, Berta Zuckerkandl und Stefan Zweig, einen Blick auf Leben und Wirken des Tausendsassas. Hinzu kommt die Nachlassbibliothek mit mehr als 2.300 Büchern, die unikale Arbeits- und Handexemplare, zahlreiche Widmungen und eine Belegsammlung seiner Werke enthält.

Im deutschsprachigen Raum erlangte Felix Salten zuerst als Journalist bei der Wiener Allgemeinen Zeitung und der Wiener Tageszeitung Die Zeit eine große Leserschaft und schillernden Ruhm. Die Auflagenzahlen ebenso emporschnellen ließ auch seine Berichterstattung für die Berliner Morgenpost über das Erdbeben von San Francisco 1906 – ein frühes Dokument von Fake News, da Salten über das Ausmaß der Katastrophe nur mutmaßen konnte. Über den Journalisten Salten kursieren zahlreiche Klischees, vor allem eilt ihm der Ruf des Skandal- und Klatschreporters voraus, weil er auf der Suche nach einer guten Story in der Tat bereit war, auch den Boulevard zu bedienen, für eine Schlagzeile immer ans Limit zu gehen und bisweilen auch darüber hinaus.

Wie viele intellektuelle Zeitgenossen war Felix Salten anfangs ein Trommler für den Ersten Weltkrieg: „Es muss sein!“, rief er den Lesern der Neuen Freien Presse am 29. Juli 1914 zu. Saltens Essay war der einzige journalistische Beitrag, der dem kaiserlichen Kriegsmanifest „An meine Völker!“ beigestellt werden durfte, das auf allen Titelseiten der Hauptstadtblätter an diesem Tag veröffentlicht wurde. Die Eindrücke von Verletzten, Toten und des Leides der Zivilbevölkerung ließen Salten gegen Ende des Weltkrieges umdenken. Auch er fühlt sich ab 1917 der ideenpolitischen Wende verpflichtet und spricht vom „Verständigungsfrieden“, der einen Frieden mit Kompromissen möglich machen soll. Dies spiegeln auch Saltens zahlreiche pazifistische Zeitungsartikel wieder. Die Ausstellung illustriert dieses komplexe Thema etwa mit Saltens Feuilletons oder Veranstaltungsplakaten zugunsten der Kriegswohlfahrt.

Gruppenfoto mit Marlene Dietrich (mit Felix Salten, Mitte), USA, 1930. © Wienbibliothek im Rathaus

Gruppenfoto mit Buster Keaton (11.v.l.); Felix Salten (13.v.l.), USA, 1930. © Wienbibliothek im Rathaus

Felix Saltens Presseausweis für das Jahr 1933. © Wienbibliothek im Rathaus

Felix Salten mit Max Reinhardt bei den Proben zu „Faust“ bei den Salzburger Festspielen, 1933. © Wienbibliothek im Rathaus

Im Dezember 1922 erschien der Roman „Bambi“, mit dem Felix Salten seinen Ruhm als Meister der Tiererzählung begründete. Zuerst als unverkäuflicher Flop im Ullstein Verlag erschienen, wurde die Neuauflage im jungen Wiener Zsolnay Verlag 1926 zum Bestseller im deutschsprachigen Raum und Salten, der bis dahin sein Einkommen vornehmlich als Journalist erzielte, konnte von den literarischen Einnahmen leben. Dokumentiert ist dieser Erfolg auch in der Nachlassbibliothek, die an die 100 verschiedene Ausgaben und Übersetzungen von „Bambi“ enthält.

Vor allem die amerikanische Ausgabe von 1928 und eine US-Buchclub-Ausgabe im selben Jahr mit einer Startauflage von 50.000 Exemplaren machten Salten auch international zur Berühmtheit. Belegt ist dies mit einer Reihe von Fotos, die 1930 im Rahmen einer journalistischen Reise durch die USA entstanden: Prominente wie Buster Keaton, Marlene Dietrich oder Henry Ford wollten stets direkt neben dem Bestsellerautor von „Bambi“ stehen. 1942 schließlich kam Disneys „Bambi“ als dessen erster abendfüllender Trickfilm in die Kinos.

Abseits von „Bambi“ ist Felix Salten heute vor allem als vermeintlicher Autor des skandalträchtigen Romans „Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“  aus dem Jahr 1906 bekannt – auch wenn dieser sich nie zur Autorenschaft bekannte und im ganzen Nachlass kein Hinweis darauf zu finden ist. Ein Fund im Nachlass ist aber jedenfalls Felix Salten zuzuschreiben: In einem dicken Konvolut ungeordneter Manuskriptblätter und Fragmente befanden sich verstreut acht handschriftliche Seiten, die sich zu einer vollständigen, bisher unbekannten pornographischen Novelle zusammenfügen ließen. Darin erzählt eine junge Prostituierte namens Albertine von ihrer sexuellen Initiation und Befreiung, die sie letztlich ins Bordell führte. Schauplatz ist neben anderen deutschen Städten besonders das Berlin der Roaring Twenties.

Das für Saltens Arbeitsweise typische, schwierig zu entziffernde Bleistiftmanuskript dürfte um 1930 entstanden sein. Saltens „Albertine“ entpuppt sich darin als seltsam ambivalenter Text, der zwar die Selbstermächtigung einer jungen Frau schildert und trotzdem als männliche Wunschphantasie erkennbar ist, wie sie für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts typisch ist. Felix Saltens vielfältige Interessen spiegeln sich in seinen Texten zu Theater, Kino und Literatur wider und machen ihn zum wichtigen Auskunftsgeber über das kulturelle Leben Wiens. Bereits früh begeisterte sich Salten für das Medium Film und veröffentliche in den 1920er Jahren regelmäßig Filmbesprechungen. Aus seinem Verständnis für das Kino und dessen kultureller Bedeutung in der Moderne sowie seiner grundlegenden Beschäftigung mit dem Medium Film und dessen dramaturgischem Potential entstanden seit 1913 außerdem Drehbücher.

Felix Salten auf Sommerfrische am Attersee, um 1930 © Wienbibliothek

Brief des 9-jährigen Paul Salten an seinen Vater, 1912. © Wienbibliothek

Felix Salten mit Arthur Schnitzler, um 1910. © Wienbibliothek im Rathaus

Er führte zumindest einmal selbst Regie, lieferte Ideen und literarische Vorlagen, darunter für die – nicht erhaltene – Verfilmung von Saltens Erzählung „Olga Frohgemuth“  von 1922, in der die Konfrontation zweier sozialer Milieus im Zentrum steht. Gezeigt werden auch Saltens vielfältige Beziehungen zum Theater: als Autor, Kritiker und Theatergründer wie als Bezugsperson für Schauspieler und Theaterleute wie etwa Max Reinhardt.

Als Chronist seiner Zeit dokumentierte Salten das tägliche Geschehen in Taschenkalendern – so sind die Einträge vor seiner Flucht in die Schweiz zum Jahr 1938/39 ein maßgeblicher Beitrag für das kulturelle Gedächtnis der Stadt. Aus Angst vor der Gestapo hat Salten noch im Frühjahr 1938 viele Briefe, Schriftstücke und Manuskripte verbrannt, geblieben sind etwa 7.000 Korrespondenzstücke von 700 Schreibern, die im Nachlass enthalten sind. Unter den mehr als 2.300 Bänden seiner Bibliothek befinden sich unikale Arbeits- und Handexemplare, Belegsammlungen etwa seiner Tierbücher „Bambi“, „Florian“ und „Perri“ sowie 202 Widmungsexemplare – darunter Gedichtbände von Rainer Maria Rilke, die Erstausgabe von Franz Werfels „Verdi“-Roman oder eine Ausgabe von Gustav Mahlers Briefen, die die Herausgeberin Alma Maria Mahler dem Widmungsempfänger zu Weihnachten 1924 schenkte. Vor seiner Flucht dürfte die Bibliothek aber sehr viel mehr dedizierte Bände enthalten haben.

Saltens Flucht 1939 wurde von prominenten Zeitgenossen unterstützt: Gerüchte wie dieses, dass er im Konzentrationslager wäre, rief Künstler wie Erika und Thomas Mann auf den Plan. Sie setzten sich für eine finanzielle Unterstützung ein, damit Salten mit seiner Frau in die Schweiz einreisen durfte, wo seine Tochter bereits als Schweizer Staatsbürgerin lebte. Als Journalist hatte Salten in der Schweiz Berufsverbot, doch er konnte weiter belletristisch arbeiten. Dennoch waren seine letzten Lebensjahre von finanziellen Schwierigkeiten geprägt, vor allem weil er auf internationale Buchtantiemen nach dem Kriegseintritt der USA keinen Zugriff mehr hatte. Felix Salten starb am 8. Oktober 1945 in Zürich, wo er auch beigesetzt wurde.

www.wienmuseum.at           www.wienbibliothek.at

11. 10. 2020

Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten

September 1, 2018 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Menschen auf dem Möbiusband

Pünktlich zu ihrem 80. Geburtstag legt eine der Titaninnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur ihr neues Buch vor: In „Der Mann ohne Schatten“ beschreibt Joyce Carol Oates die Geschichte eines Gedächtnisverlustes. 37 Jahre ist der aus altem Philadelphia-Geldadel stammende Wirtschaftsprofi Eli Hoopes, als er sich bei einem Campingausflug eine durch eine Virusinfektion hervorgerufene Enzephalitis zuzieht. Sein Kurzzeitgedächtnis wird dadurch zerstört, Eli kann sich an Menschen und Geschehnisse nicht mehr länger als maximal 70 Sekunden erinnern.

Im Jahr 1965 passiert das, und bis 1996 wird Eli an der Universität von Darven Park, Pennsylvania, ein begehrter „Untersuchungsgegenstand“ sein. Vor allem Margot Sharpe begeistert sich für den Probanden, sie stößt als Doktorandin der Neurowissenschaften zum „Projekt E. H.“, wird es schließlich leiten und dank ihm zu höchsten akademischen Ehren kommen. Nach der ersten Begegnung mit dem Ex-Ökonomen notiert sie beklommen: „Er ist in ewiger Gegenwart gefangen. Wie jemand, der im Halbdunkel der Wälder im Kreis herumläuft – ein Mann ohne Schatten.“

Im Laufe der Jahrzehnte wird aus Faszination Liebe. Margot gaukelt dem Ex-Ökonomen schließlich sogar vor, seine Ehefrau zu sein. Sie kauft für beide Eheringe, es kommt auch zum Vollzug der Liebe. Doch damit tut sich für beide ein Strudel der Gefühle auf … Oates hat für ihr Buch zahlreiche Fallstudien studiert, unter anderem die von Henry Gustav Molaison, dem berühmtesten Amnesiekranken der Welt. Wie der Romanheld unterzog sich der Amerikaner zahlreichen Testreihen, deren Ergebnisse als bahnbrechend in der Gedächtnisforschung gelten.

Als literarisches Vorbild für Margot Sharpe, die Eli Hoopes lebenslang als Gelehrte und Geliebte begleitet, diente Brenda Milner, die als Professorin für Neurologie und Neurochirurgie lehrte und unzählige Arbeiten über Molaison veröffentlichte. Inspiriert wurde Oates mutmaßlich auch ihrem zweiten Ehemann Charlie Gross, der bis zu seiner Emeritierung an der Princeton University als Neurowissenschaftler arbeitete. Oates schreibt mal aus Margots, mal aus Elis Sicht – dies ein gewagter Kunstgriff, den sie mit Könnerschaft meistert, mit sprachlicher Wucht porträtiert sie zwei Einsame, jeder auf seine Art Verlorengegangene, zwei Menschen auf dem Möbiusband.

Über Eli heißt es, er hätte sich eine „überzeugende und sympathische Fassade“ errichtet, mit der er „den Gedächtnisverlust kaschiert“. Margot wird als Arbeitssüchtige in ständigem Konkurrenzkampf mit den Kollegen gezeigt. Und wie das Leben der Testperson E. H. ist auch der Text gekennzeichnet durch Leitmotive, durch Wiederholungen von Sätzen und ganzen Passagen. „Es gibt keine Reise, und es gibt keinen Weg. Es gibt keine Weisheit, es gibt Leere“, sagt Eli immer wieder, was bei seinen Betreuern für Rätselraten sorgt.

In all das hat Oates sorgsam eine Kriminalgeschichte verwoben: Als sie gerade mal Teenager waren, ist Elis Cousine Gretchen auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen. Eli wird auch in seiner Erkrankung von diesem Vorfall wie von einem Fluch verfolgt. Immer wieder zeichnet er wie in Trance ein lebloses, in einem Bachbett liegendes Mädchen. War Eli Wegschauer, Mitwisser – oder gar Mörder? Oates hält diesbezüglich die Spannung bis zum Gänsehaut-Ende aufrecht.

Gleichzeitig geht es ihr um das Thema medizinische Ethik, Margot muss sich in einem vorweggenommenen, posthum geführten Vortrag – dieser kommt in Einschüben immer wieder – wegen des Ausnutzens Elis rechtfertigen. Ein nicht näher benanntes Gegenüber wirft ihr vor, die Experimente nur für ihr wissenschaftliches, den Publikationen über E. H. geschuldetes Renommee so lange weiter betrieben zu haben … Joyce Carol Oates‘ „Der Mann ohne Schatten“ ist ein traurig schönes Buch über imaginierte menschliche Nähe. Es changiert zwischen Psychogramm und Psychothriller, und ist so anrührend wie abgründig.

Über die Autorin: Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport, New York, geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. Joyce Carol Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.

S. Fischer Verlage, Joyce Carol Oates: „Der Mann ohne Schatten“, Roman, 384 Seiten. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.

www.fischerverlage.de

1. 9. 2018

Sarah Glidden: Im Schatten des Krieges. Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei

März 5, 2017 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Gezeichnete Berichte aus dem Brennpunkt Naher Osten

Wer aktuell sein will, dem kann’s passieren, dass er vom Tagesgeschehen überrollt wird. So ging’s Autorin Sarah Glidden, die 2010 mit befreundeten Journalisten in den Nahen Osten aufbrach, um deren Reportagen und Interviews über die Folgen des Irak-Kriegs und die Kriegsflüchtlinge in Zeichnungen festzuhalten. Mehrere hundert Stunden Tonmaterial hat sie auf Papier gebannt. Das dauert. Nun ist ihre Graphic Novel „Im Schatten des Krieges. Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei“ erschienen, mitten hinein in den syrischen Bürgerkrieg, die IS-Gräuel im Irak und den Umbau der Türkei in eine Diktatur, und es ist seltsam, über all diese Länder zu lesen, in denen es im Vergleich zu heute vor sieben Jahren noch relativ ruhig war.

Nichts desto trotz ist Gliddens Buch lesenswert. Denn nie war es ihr Ansinnen, von „der Front“ zu berichten. Der jungen Amerikanerin ging es von Beginn an darum, Geschichten aus dem Hinterland zu sammeln, Menschen und ihre Schicksale zu dokumentieren, und das tut sie als einfühlsame Beobachterin der Situationen.

Dass dem Europäer dabei manches ein wenig kindlich anmutet, ist zu verzeihen. Schließlich ist die Graphic Novel für den US-Markt gedacht, und in Trump-Land ist es vermutlich gut, dass sie etwas Lehrbuchhaftes hat. Glidden beleuchtet nicht nur die ahnungslose Naivität ihrer Landsleute, was das Weltgeschehen und die selbst auferlegte Rolle der USA als Weltpolizei betrifft. Sie bezieht auch klar Stellung, wenn sie erklärt, dass viel von dem, was sie an Zerstörung und Zertrümmerung von davor westlich modernen Städten und ergo Flüchtlingsströmen aus diesen sieht, auf die Einmischung und die militärischen Einsätze der USA in diesen Ländern zurückgeht. Wie nebenbei ist „Im Schatten des Krieges“ auch eine griffige Auseinandersetzung mit dem dieser Tage gebeutelten und diffamierten Berufsbild Journalist, ein gezeichnetes Plädoyer für die „vierte Macht“ und deren unabhängige Berichterstattung.

Bild: Sarah Glidden/Reprodukt Verlag

Bild: Sarah Glidden/Reprodukt Verlag

Und so sind sie also aufgebrochen. Sarah Glidden, ihre Journalistenfreunde Sarah Stuteville und Alex Stonehill vom Seattle Globalist (www.seattleglobalist.com) – und Dan O’Brien, ein Jugendfreund und Ex-Marine, der nun als Zivilist in den Irak zurückkehren möchte. Dieser Dan ist es, der in weiterer Folge für Zündstoff sorgen wird. Denn erst nach und nach entfaltet sich seine Story und das damit verbundene Trauma. Eine weitere widersprüchliche Figur ist der Iraker Sam Malkandi, dem die Flucht in die USA zwar gelungen war, der aber wegen des Verdachts, Kontakt zu den 9/11-Terroristen gehabt zu haben, ausgewiesen wurde.

Malkandi beteuert seine Unschuld so heftig, wie Dan vehement behauptet, er hätte als Soldat Gutes bewirken wollen. Und so schwankt man als Leser zwischen deren und den eigenen Argumenten, zwischen Mitleid, Sympathie und Abneigung. Spannend liest sich auch, wie unterschiedlich Iraker und Kurden den Irak-Krieg für sich bewerten. Ein kurdischstämmiger Chauffeur missversteht, weil der englischen Sprache nicht so sehr mächtig, einen Scherz des Quartetts. „No, Mossul! No, Mossul, no!“, schreit er entsetzt, als er glaubt, man würde ihn auf der Autobahn zum Abbiegen Richtung der Stadt zwingen, die heute wieder heiß umkämpft ist. Dass Syrien weiland einen Großteil der irakischen Flüchtlinge aufnahm, die durch die US-Invasion aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ist eine bittere Erkenntnis für die vier Reisenden. Mittlerweile gehören Syrien und der Irak zu den sieben Staaten, über deren Bürger Trump ein Einreiseverbot verhängte.

Glidden trifft Internet-Blogger und Frauenaktivistinnen, sie wird in Privatwohnungen eingeladen, geht zu den Menschen in Flüchtlingscamps, begleitet Sarah und Alex zu ehemals politischen Häftlingen und Kriegsopfern. All diese Begegnungen hält die Autorin in schlichten Tusche- und Aquarellzeichnungen fest. Sie selbst bleibt über weite Strecken eine Stimme von außerhalb des Bildrands. Ist um Objektivität bemüht. Was ihr nicht immer gelingt. Und so sind denn auch die Episoden am interessantesten, in denen sie ihre Beobachterposition verlässt. Auch Golfkriegsveteran Dan wird sich Sarah schließlich öffnen. „Ich wünschte, wir wären nie in den Irak einmarschiert. Unsere Außenpolitik sollte den ganzen Militärkram einfach lassen“, sagt er da.

Bild: Sarah Glidden/Reprodukt Verlag

Bild: Sarah Glidden/Reprodukt Verlag

Über die Autorin:
Sarah Glidden, geboren 1980 in Boston, studierte Malerei und gewann 2008 den Ignatz-Award in der Kategorie “Vielversprechendes neues Talent”. Ihr erstes Buch, “Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger” (Panini), erschien 2011 und wurde auch hierzulande von der Presse hoch gelobt.

Reprodukt Verlag, Sarah Glidden: „Im Schatten des Krieges. Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei“, Graphic Novel, 304 Seiten. Aus dem Englischen von Ulrich Pröfrock.

sarahglidden.com

www.reprodukt.com

Wien, 5. 3. 2017

Karin Leukefeld: Syrien zwischen Schatten und Licht

August 9, 2016 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Ein Land als Spielball der Mächtigen

buch 1Im Mai 1916 haben die beiden Diplomaten François Georges-Picot aus Frankreich und Sir Mark Sykes aus Großbritannien ihr Werk nach einem Jahr Arbeit vollendet. Das gleichnamige Geheimabkommen wird unterzeichnet. Es teilt die bisherigen osmanischen Provinzen Großsyrien oder Syrien-Palästina und Mesopotamien in Mandatsgebiete für Großbritannien und Frankreich auf. Sykes und Picot zogen „Linien im Sand“ von der Hafenstadt Akre bis zur Ölstadt Kirkuk, um ihre Interessen gegeneinander abzustecken. Frankreich wurde Mandatsmacht über Syrien und den Libanon, Großbritannien über die neu entstandenen Länder Irak und Transjordanien. Jerusalem wurde unter internationale Kontrolle gestellt. Die lokale Bevölkerung hatte nichts mitzureden. Sie wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.

Großbritannien betrieb jedoch ein doppeltes Spiel: In einem als „Hussein-McMahon-Korrespondenz“ bekannt gewordenen Briefwechsel  aus den Jahren 1915/16 stellte der damalige Hochkommissar Großbritanniens in Kairo, Henry McMahon, dem Führer der Araber im Hejaz und Hüter der Heiligen Stätten von Mekka, dem Sherif Hussein ibn Ali, die Gründung eines unabhängigen arabischen Staates in Aussicht, sollten sie an der Seite der Briten kämpfen. Hussein hielt sein Wort und startete im Juni 1916 die Arabische Offensive gegen das Osmanische Reich, unterstützt vom britischen Offizier und Geheimdienstagenten T. E. Lawrence, Großbritannien nicht. Dafür versprach die Regierung Seiner Majestät in der Balfour-Erklärung der Zionistischen Weltbewegung eine „jüdische Heimstätte in Palästina“.

Die auf das Sykes-Picot-Abkommen basierenden neu entstandenen Nationalstaaten – Irak, Jordanien, Syrien – sollten im Auftrag des Völkerbundes von den beiden Kolonialmächten der damaligen Zeit unter einem Mandat zu Unabhängigkeit geführt werden. Doch anstelle von Freiheit und Demokratie brachte es Gewalt, Terror und Leid. Die Korrespondentin Karin Leukefeld berichtet in ihrem aktuellen Buch „Syrien zwischen Schatten und Licht. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land“ vom Scheitern dieses Auftrags. Sie erzählt von wiederholten Aufständen und Versuchen der Syrer, ihre Unabhängigkeit zu erreichen und die immer neuen Bestrebungen regionaler und internationaler Akteure, die Entwicklung Syriens nach eigenen Interessen zu formen.

Unzählige Staatsstreiche kennzeichnen seit 1946 die Geschichte des Landes, das einst ein Schmelztiegel der verschiedensten Völker und Religionen, Moslems, Christen, Drusen, Kurden, war, die keine Grenzen kannten und friedlich nebeneinander lebten. Doch ausländische Einmischung und religiöser Fanatismus und Extremismus wie vom Islamischen Staat (IS) ausgeübt haben Syrien heute, 70 Jahre nach seiner Unabhängigkeit, zu einem Trümmerhaufen gemacht. Vom viel gepriesenen Arabischen Frühling  des Jahres 2011 ist nichts geblieben. Die Leidtragenden sind Millionen von Menschen, die auf der Flucht vor Gewalt, Tod und Folter sind. Manche von ihnen wurden bereits mehrmals in ihrem Leben vertrieben, ob von den Israelis, den libanesischen Milizen oder dem Islamischen Staat.

Ganze Landstriche sind verwüstet, die Infrastruktur in weiten Teilen des Landes zerstört. Und ein Ende der Kämpfe scheint nicht in Sicht, ist Leukefeld pessimistisch. Selbst wenn die Kämpfer des IS endgültig besiegt werden sollten, bleibt immer noch das Problem, was mit dem diktatorisch regierenden Assad-Clan, der seit 1970 die Macht in seinen Händen hält – seit 2000 ist Bashar al-Assad Präsident -, geschehen soll. Für die USA und den Westen ist klar: Assad muss weg, anders sieht es der jahrzehntelange Verbündete Russland.

Was Leukefelds Buch zu etwas Besonderen macht: Neben einer umfangreichen Chronologie und Darstellung der historischen Ereignisse der letzten 100 Jahre (das Assad-Regime könnte allerdings kritischer beleuchtet werden, ebenso sollte die Politik Israels als einer der „Main Players“ der Region vielschichtiger dargestellt werden) sowie einem auch für Laien verständlichem Glossar, kommen zwischendurch vor allem die betroffenen Menschen selbst zu Wort.

Etwa Antoun Saadeh, der Gründer der SSNP (Syrische Sozial-Nationalistische Partei), der verraten und 1949 ermordet wurde. Ali Boray, der während des Sechs-Tage-Krieges 1967 mit seiner Familie vertrieben wurde, als die israelische Armee die Golanhöhen besetzte. Die Damaszener Kunsthandwerker wie der Kupferschmied Radwan al-Taween, deren wirtschaftliche Existenz durch die Kampfhandlungen bedroht ist. Oder Gabriele und Schafik Hamzé, die Projekte für Kinder und Jugendliche ins Leben gerufen haben, und von Kämpfern der Al-Nusra-Front, einer islamischen Kampfgruppe, die 2011 in Syrien entstand, entführt wurden und die für sie Lösegeld forderten. Menschen, die in Frieden gelebt, vertrieben wurden und immer wieder alles verloren haben. Auch wenn die Schicksale unterschiedlich scheinen, eines haben alle gemeinsam: Sie wollen wie die meisten nur in Frieden und Sicherheit leben.

Die von der Autorin in jahrelangen Recherchen zusammengetragenen Zeitzeugenberichte über Leben, Hoffnungen und Scheitern in Syrien zwischen 1916 und 2016 ermöglichen so Einblicke in ein Land, das erneut zu zerbrechen droht, so der wenig hoffnungsvolle Blick der Nahost-Korrespondentin in die Zukunft. Am Ende hat der 28-jährige Safwan das Wort: „Aber eines Tages wird das Chaos vorbei sein, und dann werden es die Frauen sein, die Syrien wieder aufbauen. Die Männer sind tot, im Gefängnis, oder sie haben das Land verlassen. Aber die Frauen sind hier, sie werden Syrien wieder aufbauen.“

Über die Autorin:
Karin Leukefeld, geboren 1954, Studien der Ethnologie, Geschichte, Islam- und Politikwissenschaften. Berichtet seit 2000 als freie Korrespondentin aus dem Nahen Osten für deutschsprachige Tages- und Wochenzeitungen, ARD-Hörfunk und Schweizer Radio. Seit 2010 ist die Journalistin in Syrien akkreditiert.

Rotpunktverlag, Karin Leukefeld: „Syrien zwischen Schatten und Licht“, Sachbuch, 336 Seiten.

www.rotpunktverlag.ch

Wien, 9. 8. 2016

Belvedere: Max Kurzweil – Licht und Schatten

Mai 4, 2016 in Ausstellung

VON RUDOLF MOTTINGER

Bilder vom Zwiespalt zwischen Arbeit und Müßiggang

Max Kurzweil, Liegender Männerakt, um 1900. © Ernst Ploil, Wien, Bild: © Belvedere, Wien

Max Kurzweil, Liegender Männerakt, um 1900. © Ernst Ploil, Wien, Bild: © Belvedere, Wien

Mit der Ausstellung „Max Kurzweil – Licht und Schatten“ widmet sich das Belvedere ab 11. Mai einer spannenden und vielseitigen Künstler- persönlichkeit der Wiener Secession. Hundert Jahre nach seinem Tod und fünfzig Jahre nach der letzten Einzelausstellung im Belvedere zeigt die Schau neben bekannten Hauptwerken in erster Linie bisher unbekannte oder nur selten ausgestellte Gemälde und Grafiken.

Kurzweil ist vor allem als Porträtist der Wiener Gesellschaft bekannt. Sein Bildnis der Therese Bloch-Bauer, Schwester der von Klimt gemalten Adele, wird in der Ausstellung erstmals seit 1908 öffentlich zu sehen sein. Intime Porträts seiner französischen Frau Martha bilden einen weiteren Höhepunkt, ebenso die impressionistischen Landschaften aus der Bretagne, Italien und Dalmatien. Das expressive Spätwerk, insbesondere seine Aktbilder, zeugt von einem leidenschaftlichen Temperament, das der aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Mann nur im Privaten auslebte.

Als „im besten Sinne aristokratische Natur“ beschrieb Carl Moll seinen Freund in einem Nachruf. Kurzweil stammte zwar nicht aus einer aristokratischen, aber aus einer reichen Familie, die nach dem Verkauf ihrer Zuckerfabrik im mährischen Bzenec nach Wien übersiedelt war. Auf den wenigen Fotos, die von ihm erhalten sind, erscheint der Künstler stets elegant gekleidet im Anzug mit Krawatte. Dass sich jedoch hinter dieser Seite seiner Persönlichkeit noch eine weitere verbarg, deutete er selbst in einer der wenigen erhaltenen Schriften an. Die kleine Erzählung „Der Erfolg“, die er 1898 in „Ver Sacrum“ veröffentlichte, beschreibt einen fiktiven Maler, der lieber den ganzen Vormittag im Bett liegt, als zu malen – und dies als „argen Zwiespalt“. Weggefährten des Künstlers bestätigen diesen Zwiespalt von produktivem Studium und müßiggängerischem Lebenskünstlertum auch für Kurzweil selbst.
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Max Kurzweil, Strandlagerfeuer, undatiert. © Privatbesitz, Bild: © Belvedere, Wien

Max Kurzweil, Strandlagerfeuer, undatiert. © Privatbesitz, Bild: © Belvedere, Wien

Seine Begabung verschaffte ihm bereits in jungen Jahren Erfolge in den Ausstellungen des Künstlerhauses. Ab 1893 verbrachte er die Sommer in der bretonischen Hafenstadt Concarneau, wo er 1895 Marthe Guyot, die Tochter des Vizebürgermeisters, heiratete. Anfangs galt sein Interesse noch der Genremalerei in der Tradition des französischen Naturalismus.

Doch zunehmend wandte er sich dem Impressionismus zu. Als Gründungsmitglied der Secession beschäftigte er sich zugleich mit symbolistischen und esoterischen Ideen, lernte von Emil Orlik die Kunst des japanischen Farbholzschnitts und machte sich vor allem als Porträtist einen Namen. Sehr früh entstanden auch Bilder in der Auseinandersetzung mit dem noch jungen Expressionismus.

Kurzweil machte seine Ehefrau zum bevorzugten Motiv, jedoch verlief die Ehe nach Aussage von Freunden „unglücklich“. Die als sittenstreng beschriebene Frau wollte sich in dem unkonventionellen Wiener Milieu absolut nicht wohlfühlen. Das Paar lebte immer häufig getrennt, und Kurzweil begann schließlich eine Affäre mit seiner Schülerin Helene Heger. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs trennte den Reserveoffizier endgültig von seiner in Frankreich verbliebenen Frau. Gemeinsam mit Heger, deren Vater die Affäre entdeckt und verboten hatte, nahm Kurzweil sich 1916 das Leben.
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Wien, 4. 5. 2016