Netflix: Neil Patrick Harris in „Uncoupled“

Juli 29, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …

Morgens ist die Welt noch in Ordnung: Neil Patrick Harris als Michael. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

In der Mitte der ersten Staffel, als sich ein vielversprechendes erstes Date wieder mal Richtung Katastrophe dreht, rastet Michael aus: „Ich sollte nicht hier sein“, schreit er seinen verdutzten One-Night-Stand an. „Ich will nichts über mit Botox behandelte Arschlöcher und PrEP* wissen, ich will auf meiner Couch sitzen und fernsehen, während mein Mann neben mir viel zu laut kaut. Das ist die Welt, die ich will.“

*Eine Safer-Sex-Methode, bei der HIV-Negative ein HIV-Medikament einnehmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen.

Tja, diese Welt ist in der neuen Netflix-Serie „Uncoupled“, deren erste acht Folgen ab heute zu streamen sind, vorläufig mal untergegangen. „How I Met Your Mother“-„Barney“ Neil Patrick Harris, privat seit 2004 mit Ehemann und Starkoch David Burtka liiert und gemeinsam mit ihm Vater von Zwillingen, spielt Immobilienmakler für Betuchte Michael Lawson, der nach 17 Jahren trauter Zweisamkeit von Lebensmensch Colin, Tuc Watkins (auch zu sehen in „The Boys in the Band“, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43932), verlassen wird.

Worauf sich der beinah Fünfzigjährige nicht nur mit einer ihm fremden Einsamkeit, sondern auch mit einer sich gewandelt habenden Gay Community konfrontiert sieht, deren Zeichen er nicht mehr zu deuten vermag. Stichwort: Grindr App. „Uncoupled“-Schöpfer Jeffrey Richman und Darren Star, letzterer auch Erfinder von „Beverly Hills, 90210“, „Sex and the City“ und 2020 der Netflix-Serie „Emily in Paris“, haben für Hauptdarsteller Harris die probaten Mittel zur Hand – selbstironischen Humor, gewitzte Dialoge, verschmitzte Jungenhaftigkeit -, um ihren Midlife-Crisis-Michael in allen Regenbogenfarben schillern zu lassen.

Klar, dass Neil Patrick Harris diese Übung supersympathisch gelingt. Michaels neuer Beziehungsstatus „Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …“ ist also die Bassline der Serie, ausgerechnet bei der für ihn arrangierten Überraschungsparty gibt Geburtstagskind Colin bekannt, dass er aus der gemeinsamen Wohnung im mondänen Manhattan-Viertel Gramercy schon ausgezogen ist. Harris überspielt Michaels Schock mit ergreifender Zurückhaltung. Es ist die Art von glamourösem, fotogenem Hochglanzleid, Tiffany-gerahmte Bilder, ecrufarbenes Wildledersofa mit keinem Kapritzpölsterchen fehl am Platz, romantische Privatterrasse, die schon Carrie Bradshaws Mr.-Big-Tränen umflorte.

Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Busenfreund Stanley: Brooks Ashmanskas. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Dickpic! Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

One-Night-Stand: Gilles Marini. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Bei Michael singt dazu Sam Smith, Harris und Burtka sind über ihre Freundschaft mit Elton John und David Furnish gut mit der Musikszene vernetzt, doch trotz dieses Wissens haut’s einen aus den Schuhen, wenn gleich in Episode eins die Masterminds des Musical „Hairspray“ Marc Shaiman und Scott Wittman, die beiden seit mehr als 40 Jahren berufliche wie private Partner, ihren Hit „Welcome to the ’60s“ für Michael in ein „Welcome to your 50s“ neuinterpretieren. Da fragt man sich, was an Cameo noch kommen mag, und ob auch Neil Patrick Harris sein Gesangs- und Tanztalent wird austoben dürfen.

Abseits des häuslichen Elends hoppt Michael hochprofessionell von Event zu Party zu Soiree. Dabei begleiten ihn drei BFF: Emerson Brooks als arrogant von seinem Umfeld amüsierter TV-Wettermann Billy, Brooks Ashmanskas als Galerist Stanley, dem Billy bescheinigt „ein großartiger Kunstkenner, aber ein lausiger Schwuler“ zu sein, worauf der – Retourkutsche – Billys jüngsten Lover als dessen „Kindsbraut“ begrüßt, und last, but noch least: die großartige Tisha Campbell als Michaels Geschäftspartnerin Suzanne.

Mit Stanley und Emerson Brooks als Billy. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Tisha Campbell als Geschäftspartnerin Suzanne. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Die nervige Kundin: Marcia Gay Harden als Claire. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

So retro: Billy, Michael und Stanley in der Roller Skates Disco. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Diese, ebenfalls auf Bräutigamschau, bringt die weibliche Variante ins Mitt-irgendwas-Liebesspiel ein und damit das Thema Bodyshaming: „Letzte Nacht“, lässt sie Michael lapidar wissen, „hatte ich einen, der mir sagte, mit fünf Kilo weniger wäre ich attraktiv. Ich durfte trotzdem auf seinem Gesicht sitzen.“ Bleibt als überkandidelt kandierte Kirsche auf diesem komödiantischen Cupcake Marcia Gay Harden – als nervige Kundin Claire ein Running Gag, die den Immobilienporno im 5000-m2 Penthouse und ergo den Tenor der Serie auf den Punkt bringt: „Ich fühle mich wie in einem dieser 1930er-Filme, in denen draußen die Weltwirtschaftskrise stattfindet, aber hier oben gibt es nur Fred Astaire und Cocktails und Tanzmusik.“

„Uncoupled“ kann man als Eskapismus in ein keimfreies New York voll schöner Menschen ohne Existenzsorgen kritisieren oder liebgewinnen (hier: zweiteres). Die Serie ist in erster Linie Comfort Binge für ein Publikum, das sich in ähnlichen Verhältnissen wie deren Figuren aufhält, zu alt, um hip zu sein, aber zu jung, als dass sie das nicht mit allen Mitteln bekämpfen wollten. Michael sehnt sich nach Dr. Ruths Aufklärungsunterricht wie hierzulande vielleicht nach Erika Berger. Er vermisst Radiowecker. Und – eine der gelungensten Satire-Szenen – der Generation-X-Mann knurrt einen Millennial an, der noch nie etwas vom AIDS Memorial Quilt gehört hat:

„Wir haben für euch Opfer gebracht. Das heißt: Ich nicht. Aber ich habe ,Angels in America‘ gesehen!“ (Rezension einer Produktion der NOW: www.mottingers-meinung.at/?p=34820). Worauf der Jüngere Michael mit der Bemerkung, „eine verbitterte alte Queen“ zu sein einfach stehenlässt. „Uncoupled“ funktioniert in vielerlei Hinsicht hervorragend. Die Frage, welche Zahl an Fröschen man küssen muss, um zu einem Prinzen, einer Prinzessin zu kommen, bewegt wohl jede und jeden, der sich ein bisschen Glück, Liebe und Verständnis wünscht. Hier wird davon gutgelaunt und in einer Tour de Luxe erzählt. Möge einem nichts Schlimmeres passieren, während man auf Staffel zwei wartet …

Trailer: www.youtube.com/watch?v=KMT4pVK-uFo           www.youtube.com/watch?v=NZEwlyPbTt4           www.netflix.com

  1. 7. 2022

Theater zum Fürchten: Revanche / Sleuth

Juni 16, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Großes Tennis beim Schauspieler-Serve-and-Volley

Otto Beckmann als Lover Milo Tindle und Johannes Terne als gehörnter Gatte Andrew Wyke im detailverliebten Bühnenbild von Regisseur Sam Madwar. Bild: © Bettina Frenzel

Als letzte Saison-Premiere in der Wiener Scala zeigt das Theater zum Fürchten Anthony Shaffers „Revanche. Mord mit kleinen Fehlern“, mit dem der Zwillingsbruder des berühmteren Dramatikers Peter Shaffer 1970 bei der Uraufführung in London einen Welthit landete – ansonsten blieben Anthonys Ausflüge ins Fach des Theaterautoren eher unbemerkt, er machte sich stattdessen als Drehbuchautor der Agatha-Christie-

Verfilmungen „Das Böse unter der Sonne“, „Tod auf dem Nil“, „Mord im Orientexpress“ und von Alfred Hitchcocks Thriller „Frenzy“ einen Namen. Unter dem Originaltitel „Sleuth“, umgangssprachlich für „Schnüffler“ im Sinne von Detektiv, wurde die Kriminalkomödie zwei Mal verfilmt: 1972 von Joseph Mankiewicz mit Sir Laurence Olivier als Andrew Wyke und Michael Caine als Milo Tindle und 2007 von Kenneth Branagh nach einem Drehbuch von Harold Pinter mit Michael Caine nun in der Olivier-Rolle und Jude Law als Milo Tindle.

Die Handlung dürfte also als bekannt vorausgesetzt werden: In seinem englischen Landhaus, das mit teuren Kuriositäten und witzigen Maschinchen vollgestellt ist, die die Vorliebe ihres Besitzers für Spielchen aller Art widerspiegeln, empfängt der Bestsellerautor von Kriminalromanen Andrew Wyke einen besonderen Gast: Er lädt den Liebhaber seiner Frau, den Friseur Milo Tindle, zu einem „Spiel“ ein: Wenn der mittellose Milo zwecks Versicherungsbetrugs einen fingierten Juwelendiebstahl hier im Haus begeht, überlässt Wyke ihm nicht nur seine Frau, sondern auch den Schmuck zur Finanzierung eines standesgemäßen Lebens.

Klar, dass der Vorschlag eine Reihe von Ereignissen auslöst, die die Grenzen zwischen Wettkampf und Kampf, blutigem Ernst und Mordsspaß auf das Durchtriebenste verwischen. Als Tindle von der Bildfläche verschwindet, erscheint ein mysteriöser „Inspector Doppler“ auf der Jagd nach einem Killer …

Fürs TzF hat Sam Madwar inszeniert und auch den Raum – mehr als dustere Ritterburg denn als Chalet – gestaltet, und so ist auch das Prunkstück zwischen den bezeichnenden Spielbrettern für Schach, „Fuchs und Henne“ oder „Mensch ärgere dich nicht“ eine Ritterrüstung, die per Knopfdruck in hämisches Gelächter ausbricht. In diesem Setting bestreiten Johannes Terne als Wyke und Otto Beckmann als Tindle das fintenreiche, verbal-intellektuelle Duell der beiden Antagonisten – das mit einer kuriosen Pointe ein überraschendes Ende findet.

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Terne füllt die Szenerie mit seiner Bühnenpräsenz, mit giftsprühender Intensität und im Laufe der Begebenheit mit zunehmend verzweifelter Wut. Er gibt den exzentrischen Schriftsteller, der sich an seinem Werk grandios zu delektieren weiß, süffisant, sarkastisch, spleenig, versnobt, sein Narzissmus maximal von seinem Ennui übertroffen – und logisch, dass dieses von sich so überzeugte „Genie“ das italienische Gastarbeiterkind „Figaro“ Tindle was Upper Class und geistreiche Art betrifft für deutlich unterlegen hält. Welch ein Irrtum. Aus seinem jüngsten literarischen Hit „Die Leiche auf dem Tennisplatz“ liest Wyke der Gattin Lover nicht einfach vor, vielmehr schlüpft er in die Rollen aller seiner Romanfiguren, und so hat’s Sam Madwar – mit feiner Hand für die Charaktere, viel Hinter-/Sinn für die spitzzüngigen Dialoge und um spooky Effekte nicht verlegen – inszeniert:

Seine „Revanche“ ist ganz großes Tennis mit schauspielerischem Serve-and-Volley-Spiel, mit Otto Beckmann als Milo Tindle als Ternes kongenialem Pendant, denn Tindle erweist sich bald als ebenbürtiger Partner in Wykes „Spiel“, auch er enttarnt sich als Master of Gamesmanship *.

*Die Legende besagt, Anthony Shaffer hätte die Idee zu „Sleuth“ nach einer der berüchtigten Spielenächte bei Musicalkomponist und -texter Stephen Sondheim gehabt, der für seine Rätselleidenschaft gefürchtet war, und regelmäßig Gäste in sein bis zur Decke mit alten Brett- und Ratespielen angefülltes New Yorker Appartement zu „The Murder Game“ lud, bei dem die Anwesenden gleich Cluedo-Detektiven einen Mord aufklären mussten.

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

„Karl Steinsch“ als mysteriöser Inspector Doppler. Bild: © Bettina Frenzel

Die Partie beginnt. Zwecks Einbrecher-Verkleidung zwingt Wyke Tindle in allerlei lächerliche Gewänder: in die Mönchskutte von Pater Langfinger, eine Ku-Klux-Klan-Kapuze, ein Marie-Antoinette-Kleid, die Kostüme sind von Anna Pollack, bis er endlich ein Dummer-August-Outfit als passend befindet – in dem sich der scheint’s gutmütige und schwer gedemütigte Tropf Tindle anfangs tatsächlich zum Clown macht. Terne unterstreicht Wykes Verachtung für den „Papagallo“ mit zunächst subtilen Gesten, doch je weiter dessen perfider Plan gedeiht, umso brutaler reißt man sich gegenseitig die Masken vom Gesicht in diesem „nie enden wollenden Reigen verhüllter Identitäten“, wie Wyke sagt.

Die kleinen Bösartigkeiten wachsen sich zu größeren aus. Terne und Beckmann performen ihre Rollen als Cracks aus jenem Holz, aus dem die Gambler geschnitzt sind. Bei der Verwüstung des Hauses, der Raub soll ja echt aussehen, zerreißt Tindle genussvoll die Hoflieferanten-Hemden seines Gastgebers oder zerfleddert dessen neuestes Manuskript, der wiederum hat flugs einen Revolver zur Hand, mit dem er vorerst das Antlitz seiner Angetrauten aus dem Hochzeitsfoto schießt. Milo Tindle macht auf ängstlich und irritiert, der eiskalt sein Mütchen kühlende Wyke zunehmend auf irrsinnig, aber schon bald, heißt: nach der Pause, wird ihm die Arroganz aus dem Gesicht fallen und die Contenance flöten gehen.

Auftritt nämlich ein gewisser „Inspector Doppler“, dargeboten vom – wie seine zwei Kollegen TzF-Debütanten – „Karl Steinsch“, über den im Programmheft zu erfahren ist: Geboren in der Theaterhauptstadt St. Pölten, Schauspielausbildung an der Autodidaktica in Castrop-Rauxel, und nein: hier wird nicht gespoilert. „Steinsch“ spielt den adipösen Schnüffler bärbeißig und unnachgiebig; Doppler ist schließlich auf der Suche nach dem wie vom Erdboden verschluckten Coiffeur Tindle beziehungsweise dessen Leiche und damit dessen Mörder. Und während Ternes Wyke ein Alibi haarscharf entlang der Wahrheit hervorstottert, baut das ermittelnde Schwergewicht Indiz um Indiz seine Falle auf …

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Bild: © Bettina Frenzel

Dass Johannes Terne und Otto Beckmann in der Schlussrunde das komödiantische Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten, wurde vom höchst amüsierten Premierenpublikum mit viel Gelächter und Applaus goutiert; der leichtfüßig tänzelnde, sich very british gebende, vor Verve sprühende Johannes Terne; Otto Beckmann als Gamechanger Tindle ein Fall für Frauen, die auf den Typ Teddybär fliegen, und großartig ist, wie Beckmann seinen Hairstylisten zur Hochform auflaufen lässt.

„Revanche“ ist der quintessentielle Krimi über einen Schuss, der im Wortsinn nach hinten losgeht; das Suspense-Stück veralbert das Genre und bedient es gleichzeitig virtuos. Sam Madwar hat daraus ein Fest für Schauspieler gemacht, die einander im rhetorischen Schlagabtausch und bei ständig wechselnden Machtverhältnissen nichts, und den Zuschauerinnen und Zuschauern alles schenken. „Darauf einen Gin!“ – „Zum Wohle von Queen Mum!“

Zu sehen bis 25. Juni.

TIPP: Am 14. August hat das Theater zum Fürchten als Theater im Bunker mit „Aventura. Von den Abenteuern im Kopf und anderswo“ Premiere. Ein extravagantes Stationentheater im kilometerlangen System des ehemaligen Mödlinger Luftschutzstollens. Alle fünfzehn Minuten startet eine Gruppe ZuschauerInnen und begegnet auf der Wanderung durch den Bunker SchauspielerInnen, Bildern, Installationen und Szenen, aus denen sich im Kopf der Betrachtenden ein Stück zusammenpuzzelt. Konzept und Buch: Bruno Max, Raum: Marcus Ganser.

BONUSTRACK: Johann Nestroys „Umsonst“, inszeniert von Bruno Max, als kostenloser Stream: www.youtube.com/watch?v=jsoPuvu-3uY&t=3s

www.theaterzumfuerchten.at

16. 6. 2022

Landestheater NÖ – Luk Perceval & NTGent: Yellow. The Sorrows of Belgium II: Rex

Oktober 1, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Front- und Fluchtbriefe auf dem Billardtisch

Vabanquespiel auf dem Billardtisch: Peter Seynaeve, Lien Wildemeersch, Philip Leonhard Kelz, Chris Thys, Oscar Van Rompay und Valéry Warnotte. Bild: © Maria Shulga

Ab 8. Oktober zeigt das Landestheater Niederösterreich LIVE im Großen Haus Luk Percevals Uraufführung von „Yellow – The Sorrows of Belgium II: Rex“, LIVE hier besonders großgeschrieben, da es COV19-bedingt im Frühjahr bereits eine Filmversion zu streamen gab. Hier zum Einlesen die Rezension dazu: Mit dem Verlesen eines Artikels einer neuen rechtsradikalen französischsprachigen Zeitung, der vor den neuen rechten Schlagwörtern nur so strotzt, großer Austausch, Kulturmarxismus vs. christliche Werte,

die Linke unterstützt den Islam, um mit der Frustration der Minderheiten die westliche Zivilisation zu zerstören …, legt Luk Perceval den Finger in eine Wunde, die längst noch nicht vernarbt ist. Nationalsozialismus in Belgien, darüber weiß man hierzulande wenig. Belgien war neutral, doch griffen im Mai 1940 die nazideutschen Truppen an; nach der campagne des 18 jours ergab sich die belgische Armee bedingungslos. In „Yellow – The Sorrows of Belgium II: Rex“ beschäftigt sich Perceval nun mit der Kollaboration seiner Landsleute mit den Nationalsozialisten und damit gleichsam mit dem bis heute schwelenden Konflikt der Wallonen mit den Flamen.

Yellow“ ist der zweite Teil von Percevals nach den Farben der belgischen Nationalflagge benannten Trilogie, Teil eins „Black“ befasst sich mit den Kolonialverbrechen Belgiens im Kongo, Teil drei „Red“ wird von den aus Brüssel stammenden IS-Attentätern handeln. Zwei alte Männer also, der eine sitzt an einem Billardtisch mit abgesägten Beinen und studiert Fotos, Briefe, verlesen, gelesen wird viel in dieser Produktion, der andere hinter ihm sagt etwas, unhörbar, seine Stimme geht im melancholischen Yellow Waltz von Sam Gysel unter. „Jef? Jef?”, stammelt der Mann am Tisch, Peter Seynaeve als dessen Vater Staf, gleich wird er mit sich überschlagender Stimme Parolen deklamieren, man ist in den 1940ern – bei jenen Flamen, die sich als Deutsche sehen, als Teil der „germanischen Rasse”.

Nach dem Text von Autor Peter van Kraaij verfolgt Perceval das Schicksal der von Hitlers Reden entflammten flämischen Familie Goemmaere. „Der Führer lässt Flandern wieder an der Geschichte teilnehmen”, ist man überzeugt. Wallonen gegen Flamen, das hat was von Kain und Abel, die Französischsprachigen werden seit Jahrhunderten, genauer seit 1302 als ein bäuerliches Infantrieheer einer französischen Ritterarmee gegenüberstand, als Unterdrücker betrachtet. Jetzt ist der Glaube an Gott und das Tausendjährige Reich geweckt. Staf hat Sohn Jef mit der Flämischen Legion, Freiwilligen der Waffen-SS, in den Kampf gegen die Sowjets geschickt. Staf selbst ist Mitglied der Dietse Militia des Rechtsnationalisten Jef François, Tochter Mie bei den Dietse Meisjesscharen und Priester-Onkel Laurens ein fanatischer Faschist.

Einzig Stafs Bruder Hubert hält sich von der Hurra-Stimmung fürs NS-Regime fern, eine Hurra-Stimmung, eine Kriegsbegeisterung, die im Laufe der kommenden zwei Stunden mehr und mehr zu Kadavergehorsam wird, geschildert dies alles ohne moralische Gehässigkeit, das „Heil!” auf dem Heldenplatz kam den Menschen um nichts weniger enthusiastisch über die Lippen als hier den Flamen, alldieweil sich Mutter Marije, Chris Thys, um ihren Sohn, der qua einer Andeutung auch Huberts sein dürfte, die Augen ausweint. Ein sphärischer Soundtrack wabert durch den Theaterraum, der Billardtisch ist bald eine zweite Spielebene; die Fahnen, die wehen, sind weiß wie die der ethischen Kapitulation, die Rekapitulation einer historischen Desillusionierung – im emblemlosen Flaggenwald geht’s so zackig zu, „Deutscher Gruß” und deutsche Disziplin, dass keine Fragen offenbleiben.

Fast schon wähnt man den Regisseur in satirischer Distanz zu seinen Figuren; wie in einem abstrakten Leo erscheinen Valéry Warnotte als Léon Degrelle, Gründer der faschisten Bewegung Rex – siehe Stücktitel – und Aktiver in der Wallonischen Legion, Warnotte als Demagoge und Phrasendrescher der Inszenierung, und als Österreich-Import Obersturmbannführer Otto Skorzeny, dem der Mythos der Mussolini-Befreiung zu einiger Berühmtheit verhalf. An diesen real existiert habenden Charakteren dokumentiert Perceval scheint’s die absurde Groteske von Geschichte.

Seynaeve, Van Rompay, Wildemeersch, Kelz und Thys, vorne: Luk Perceval. Bild: © Maria Shulga

Strammer „Deutscher Gruß“: Lien Wildemeersch, Philip Leonhard Kelz und Valéry Warnotte. Bild: © Fred Debrock

Seynaeve, Van Rompay, vorne: Wildemeersch und Kelz, Warnotte und Thys. Bild: © Maria Shulga

 

Die beiden Alt-Nazis werden einander später im Spa, nicht Belgien, sondern mit Bademantel und Wellnesscocktail in Spanien begegnen. Der nunmehrige „José de Ramirez Reina” und der Firmenvertreter für Nivea und die Voest haben sich vom gefallenen „Führer” unter Francos Fittiche gerettet, um dem Diktator beim Machterhalt zu helfen und in Skorzenys Fall – „Ich will doch nicht enden wie Eichmann!” – Waffengeschäfte mit dem Mossad zu machen. Eine Episode, unglaublich, doch historisch belegt, die zu den besten des Abends gehört; die Freunde überbieten sich in Hitler-Anekdoten: „He was such a nice guy!”

Doch noch ist es nicht so weit. Philip Leonhard Kelz, Ensemblemitglied des Landestheaters, agiert, agitiert sich als Otto Skorzeny in den Mittelpunkt des Geschehens. Mit dem Laurens von Oscar Van Rompay übt er ein Burschenschafter-Duell, das ins Homoerotische entgleitet, bei einem lasziven Tänzchen wird er sich an die Mie von Lien Wildemeersch schmiegen, Kelz ganz Stimmungsmacher, Spielmacher, geschmeidig wie die Schlange der Versuchung – er, der offensichtlich weiß, was gewesen sein wird, und seine Schilderungen in Vergangenheitsform setzt.

Wenn er als „überzeugter Europäer” von „sozialer Gerechtigkeit” spricht, werden die Floskeln aus der falschen Ecke zeitgemäß. In diesem vielschichtigen Spiel, in dem sich keiner schont, fügt sich Kelz mit seiner starken, in schönster Verschmitztheit das Österreichertum ausstellenden Performance nahtlos ins Genter Ensemble ein. Der Flamen-Clan saugt Skorzenys Heilsversprechen gierig auf, der Kamerazoom zeigt die Gesichter erwartungsvoll, stolz, euphorisch, Marijes unter Tränen – und hassverzerrt wie die Fratzen in Hieronimus Boschs „Christus trägt das Kreuz”, das im Museum für Schöne Künste in Gent hängt.

Vor allem Lien Wildemeersch als Mie schafft es, dass man auf deren blindwütige Gläubigkeit zunehmend zornig wird, und Oscar Van Rompays Laurens mit seinen vor religiöser Extase aufgerissenen Augen. Der Russlandfeldzug, er ist ein Heiliger Krieg, die Soldaten Kreuzritter für „unsere Zivilisation”. „Flandern frei! Und für Belgien nix!” wird skandiert. Bis das nationalistische Narrentreiben und sein schwärmerischer Rassismus von ersten Frontberichten gestört werden.

Chris Thys, Peter Seynaeve, Lien Wildemeersch und Philip Leonhard Kelz. Bild: © Maria Shulga

Oscar Van Rompay, Lien Wildemeersch, Philip Leonhard Kelz, Chris Thys und Valéry Warnotte. Bild: © Maria Shulga

Gleich Eva und der Schlange der Versuchung: Philip Leonhard Kelz und Lien Wildemeersch. Bild: © Maria Shulga

Van Rompay, Seynaeve, Warnotte, Thys, Shulga und Wildemeersch. Bild: © Fred Debrock

Die Briefe also. Sie kommen von Jef, dem stillen Bücherwurm, der nach Stafs Willen im Schützengraben zum Mann geschmiedet werden soll, und Aloysius, der Mie von den Meisjesscharen als Korrespondenz-Kamerad zugeteilt wird, eine Nahebeziehung in Worten, die von Kelz und Wildemeersch mit Körpernähe und Mut zur Initimität als elegische Liebesfantasie ausgelebt wird. Jefs Post spricht eine andere Sprache, weit und breit kein flämischer Offizier und die Flamen von der Herrenrasse auf Französisch angebrüllt; Grausamkeiten, Gräueltaten und die Abstumpfung dagegen kriegen beim Lautlesen eine seltsame Intensität – eine Poesie des Schreckens.

Briefe kommen auch von Bert Luppes’ Hubert. Der hat die geflohene Wiener Jüdin Channa, Maria Shulga, versteckt, wird entdeckt und entkommt mit ihr nach Antwerpen. Gleich Skorzeny erzählt auch Channa Vergangenes, das charmante, leichtlebige Wien, das sich nicht er- sondern hingegeben hat, ihr Verlobter, dessen Mutter sie anflehte ihn freizugeben, damit er nicht in die Fänge der Gestapo gerät, Hubert in seinen Schreiben von Zerstörung, Hunger und der Polizei, die „für eine neue Aufgabe” ausgebildet wird. Channa wird deportiert werden, „nach Osten, Jef hinterher”, kommentiert Hubert zynisch.

Da hat Familie Goemmaere ihre Verblendung längst erkannt. Schnee fällt auf Front und Familiengeheimnisse, ein unbekannter Fronturlauber bringt Nachricht von dort – und der Wahnsinn greift um sich. „Yellow”, diese bedächtige, andächtige Aufführung, deren Melancholie eben noch in Lethargie kippte, wird von Geschrei und Sirenengeheul zerschnitten. Kelz kiert konsonatenknatternd im Hitler-Ton, Mie, als Krankenschwester im Lazarett, schnappt angesichts der vielen Versehrten allmählich über.

Szene um Szene montiert Luk Perceval zu seiner Collage, diese teils pathetisch, teils bizarr, immer leidenschaftlich, mit stilisierter Action und den Mitteln des Körpertheaters, didaktisch – Prädikat: wertvoll. Seine extrem präsenten, expressiv agierenden Darstellerinnnen und Darsteller schultern mit Verve das Paradoxon ein Chor monologierender Stimmen zu sein. Ihr Spiel ist im besten Sinne der Bedeutung sinnlich.

Zum Schlussakkord gehört Hubert, der nach dem Krieg Wien besucht, Museum rein, Museum raus, und raus zum Zentralfriedhof, dem jüdischen Teil. Dutzende Grabstätten, aber sehr viel freie Fläche. Ein Symbol. Hier sei von jüdischen Familien Land gekauft worden für Gräber, die es nun nicht mehr gibt, meint Hubert. Zum Schlussakkord gehört Laurens im Gefängnis. „Geduld”, sagt er. „Geduld, meine Seele, die Saat keimt noch nicht.” Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=44919

Trailer: www.youtube.com/watch?v=pOC9NaqoKYA           vimeo.com/519872206           Interview mit Dramaturgin Margit Niederhuber: www.youtube.com/watch?v=D-aHuHj_VpI            www.ntgent.be/en          www.lukperceval.info

www.landestheater.net

1. 10. 2021

Volksoper: Roxy und ihr Wunderteam

September 12, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

So sexy kann Fußball sein

„Roxy“ Katharina Gorgi und ihr Wunderteam. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Schon zur Ouvertüre muss das Runde ins Eckige. England gegen Ungarn, das ist Brutalität! Am Ende steht’s 3:2 für die Gäste vom Kontinent, die Nationalelf feiert im Nobelhotel, da stürmt ins Zimmer des Teamkapitäns Gjurka Karoly eine Braut, die sich nicht traut, Roxy auf der Flucht vorm unterbelichteten Verlobten – und die frohgemute Mannschaft beschließt, das britische Fräulein ins Trainingslager an den Plattensee zu retten.

Womit an der Volksoper zur Saisoneröffnung ein schwungvoller Gute-Laune-Abend beginnt, der das Premieren-Publikum zu begeistertem Jubel und Applaus veranlasste. Andreas Gergen hat Paul Abrahams Revueoperette „Roxy und ihr Wunderteam“ inszeniert, und Dirigent Kai Tietje lässt das Volksopernorchester zwischen Attack Speed im Big Band Sound und magyarisch-melancholischen Klängen taktieren – Abraham hat sozusagen von Charleston bis Csárdás komponiert -, dass es eine Freude ist. Eine Freude sind auch der nicht nur gesanglich, sondern auch tänzerisch talentierte Jugendchor des Hauses als Schülerinnen eines Mädchenpensionats und eine Handvoll durchtrainierter Herren als anfangs leichtgeschürzte Fußballer, diese später auch heiß als Feuerwehrmänner, Stichwort: The Full Monty.

Im tausend Stückeln spielenden, ohne Rot-Weiß-Grün-Folklore funktionierenden Bühnenbild von Sam Madwar, unter anderem ein senkrechtes Fussballfeld, stimmigen Videos von Andreas Ivancsics und ebensolchen Kostümen von Aleksandra Kica, geht’s leichtfüßig durch zweidreiviertel höchst unterhaltsame Stunden. Das Ensemble dribbelt flink durch tumultuöse Geschehen, in dem ganz klar Peter Lesiak als Tormann Jani Hatschek II der Spielmacher ist. Wie er in den ausgetüfelten Choreografien des früheren John-Neumeier-Studenten Francesc Abós mit „Roxy“ Katharina Gorgi singt, swingt, steppt, ein Highlight ist der „Black Walk“, das muss man gesehen haben, Violinsolistin Gorgi, die nicht nur mit neckischem Charme, sondern wie ein Prímás auf der Geige spielt.

„Das Wunderteam“, dieser Begriff hat hierzulande beinah mythischen Charakter. 1931 besiegte die österreichische Nationalmannschaft in Berlin den im Wortsinn großen Bruder Deutschland mit einem sensationellen 6:0. Auf dem Platz Mittelstürmer „der Papierene“ Matthias Sindelar, Tormann-Beau Jani Hatschek und „der Blade“ Karl Sesta. Es dräute das Jahr 1933 und die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, der Wiener Fußball verabschiedete sich aus der Weltgeschichte im legendären „Anschluss-Spiel“ 1938, in dem Sesta einen widerständigen 2:0-Treffer schoss.

Katharina Gorgi und Jörn-Felix Alt. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Robert Meyer, Marco Di Sapia und Michael Havlicek. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Jakob Semotan und der Jugendchor. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Juliette Khalil, Christoph Wagner-Trenkwitz und der Jugendchor. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Sport ist Politik, das macht die Figur des Baron Szatmary, Marco Di Sapia als Präsident der Fußballmannschaft deutlich, der stets bestrebt ist, seine Verbindungen nach Berlin zu verbessern, und den Gjurka bescheidet, er werde sich noch umschauen, wo er landet, wenn er nicht bald zur Parteilinie passe. Als dieser Gjurka ist Jörn-Felix Alt dem Sindelar nachgezeichnet, ein introvertiertes Elegiebürscherl, das vom Temperamentsbündel Roxy zum Dumdududum des James-Bond-Themas überrannt wird.

„Gibt es denn niemanden, der mir beim Ausziehen helfen will?“, bleibt, als Roxy aus ihrem Hochzeitskleid schlüpfen will, beileibe nicht die einzige schlüpfrige Bemerkung und frivole Doppeldeutigkeit im Text von Alfred Grünwald und Hans Weigel. Gorgis und Alts Musical-Stimmen kommen nicht aus der größten Tiefe des Resonanzraums, haben aber den Zug zum Tor. Anfangs lampenfiebrig ein wenig schwächelnd, legt sich das, sobald die beiden merken, wie sehr sie mit ihrem sympathischen Auftritt beim Publikum punkten.

Spielentscheidend ist sowieso der Mannschaftsgeist. Das Volksopern-Team ist für die musikalische Kurzpass-Komödie in guter Kondition, Jakob Semotan als Arpad Balindt, Oliver Liebl als Géza Alpassy, Martin Enenkel als Laczi Molnar, Kevin Perry als Aladar Kövess und Maximilian Klakow als Jenö Körmendy. Verfolgt werden die Fußballer von Roxys schottischem Onkel Sam Cheswick, Robert Meyer grandios komisch als geiziger Mixed-Pickles-Produzent, der sich mit dem abservierten, ergo weinerlichen Bräutigam Bobby Wilkins, Matthias Havlicek mit warmtimbriertem, elegant geführtem Bariton die schönste Stimme der Aufführung, nach Ungarland aufmacht.

Julia Koci und Robert Meyer. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Michael Havlicek und Katharina Gorgi. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Juliette Khalil und Peter Lesiak. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Dort hat der Wirrwarr gewaltige Dimensionen angenommen. Baron Szatmarys Gutsverwalter, Thomas Sigwald mit seiner bald von allen persiflierten Klage „Das muss Kovacs passieren!“, hat das Herrenhaus, in dem die Elf sich fürs Rückspiel fit machen soll, ohne Wissen seines Herrn einem Mädchenpensionat als Urlaubsquartier vermietet. Klar, dass die Damen einziehen wollen, Julia Koci als züchtige und züchtigende Direktorin Aranka von Tötössy in Breeches und mit Reitgerte und Wirbelwind Juliette Khalil als deren rotzfreche Problemschülerin Ilka Pirnitzer.

Bald ist die Stimmung „Party! Party!“ – „Lass Dir einen Cocktail mixen von den kleinen Donaunixen“ wird enthusiastisch intoniert, Lesiak und Khalil finden sich als hinreißendes, elanvolles Buffo-Paar, die „Paprikablume“ und der Goalkeeper-Beau, doch nicht nur „Vintage-Box“ (Semotan für „alte Schachtel“) Aranka, sondern auch Spielverderber Gjurka wollen das tolle Treiben per Schlusspfiff abblasen. Um ihn zu ärgern gibt sich Roxy als Szatmarys Verlobte aus, der sich an der Augenweide ohnedies nicht sattsehen kann, was Gjurkas Herz brechen und ihn zur Schnapsflasche greifen lässt.

Die zweite Halbzeit nach der Pause befördert das Ganze in den Turnsaal des Mädchenpensionats, herrlich hier Gernot Kranner als alkoholisierter, konjunktivischer Pedell Miksa, der die ihre Liebsten aufsuchenden Sportler einen nach dem anderen als Handwerker verkleidet vorlässt – dies eine der vergnüglichsten Szenen in Hausdebütant Gergens Regie. Die höheren Töchter kriegen Hausarrest und können nur der Übertragung von Radioreporter Christoph Wagner Trenkwitz lauschen, ein Kabinettstück, doch als die Budapester Helden nach der ersten Spielhälfte im Rückstand sind, beschließen die Schülerinnen Richtung Stadion auszubüchsen.

Katharina Gorgi und die Mannschaft auf dem Platz. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Maximilian Klakow, Oliver Liebl, Jakob Semotan, Peter Lesiak, Jörn-Felix Alt, Georg Prohazka, Oliver Floris und Kevin Perry. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Michael Havlicek, Josef Luftensteiner und Robert Meyer. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Gernot Kranner, Julia Koci, Robert Meyer, Thomas Sigwald und der Jugendchor. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

In der moderaten Modernisierung von Gergen und Wagner-Trenkwitz werden auch der Entstehungszeit des Werks anhängende Songs wie „Handarbeit“, der das Hitler-Ideal Heimchen am Herd ohnedies parodistisch preist, der Stricklieseln „Handarbeit“ für den Gatten – zwinkerzwinker! – per Chair Dance zur Burlesque-Nummer. Tatsächlich stricken die Schülerinnen jenen langen Schal, mit dem sie sich später abseilen werden. Und nennt sich Roxy einen „kleinen, hübschen Fußball“, so ist das einfach als Versuch zu deuten, zu Gjurka unter Verwendung einer ihm vertrauten Sprache endlich durchzudringen.

Punkto Tagesaktualität wird der Ball zumeist flach gehalten. Umso mehr auffällt Robert Meyers Couplet des Cheswick, in dessen letzter Strophe er nestroyanisch nörgelt, wie übel ihm von Operette würde, denn „wahre Kunst sieht anders aus!“ Welch einen Beer, den er dem Publikum da aufbindet. Im Schlussbild der vereinten Paare, Roxy und Gjurka, der sich als zivilberuflicher Chemielaborant entpuppt und dessen Konservenlack ex machina für den Schotten-Onkel patent/Patent genug ist, Ilka und Hatschek II, Cheswick und Aranka, auf deren Sparsamkeit der Fabrikant hofft, und schließlich, weil jeder T(r)opf einen Deckel findet, Bobby und Pensionat-Schülerin Ilonka aka Stefanie Mayer, weht statt der ungarischen als OrbánKritik die Regenbogenfahne.

„Roxy und ihr Wunderteam“ an der Volksoper ist die Steilvorlage für einen unterhaltsamen Musiktheaterabend. Eine Empfehlung an alle Operettenfans und Freundinnen und Freunde des klassischen Musicals. Lasst uns diese letzte von Robert Meyer verantwortete Saison bis zum letzten Spieltag auskosten!

Kurzeinführung: www.youtube.com/watch?v=iu6TVZ1TBvk          Regisseur Andreas Gergen, Diriget Kai Tietje, „Roxy“ Katharina Gorgi und Tormann „Hatschek II“ Peter Lesiak im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=cuBOtYXU-j4          Roxys Wunderteam und Rapid-Legenden im Match gegen den Wiener Sport-Club: www.youtube.com/watch?v=LGa9txFPapI           www.volksoper.at

  1. 9. 2021

Academy Awards Streaming: One Night in Miami

April 14, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Regina Kings Regiedebüt ist nominiert für drei Oscars

Kingsley Ben-Adir als Malcolm X, Aldis Hodge als Jim Brown, Eli Goree als Cassius Clay und Leslie Odom Jr. als Sam Cooke. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Für ihren ersten Kinospielfilm vereint Regisseurin Regina King vier Männer, die im Kampf gegen Rassismus in den USA Geschichte machten: die Boxlegende Cassius Clay aka Muhammad Ali, Bürgerrechtskämpfer und lange Zeit Nation-of-Islam-Frontman Malcolm X, NFL-Superstar Jim Brown und „Father of Soul“ Sam Cooke. Nach 57 Auszeichnungen und 177 Nominierungen empfiehlt sich das ins Programm von Amazon Prime Video aufgenommene Drama

„One Night in Miami“ jetzt auch für die Oscars. Nominiert sind Dramatiker Kemp Powers für das Beste adaptierte Drehbuch – nach seinem 2013 uraufgeführten Theaterstück, Leslie Odom Jr. für seine Verkörperung des Sam Cooke als Bester Nebendarsteller und Leslie Odom Jr. gemeinsam mit Sam Ashworth für den Besten Filmsong – „Speak Now“, der im Abspann zu hören ist. Hier noch einmal die Kritik vom Jänner:

Die Nacht, in der aus Cassius Clay Muhammad Ali wurde

Vier Afroamerikaner eines Nachts in einem spärlich möblierten Zimmer des Hampton House Motels in Miami, no Sex, no Drugs, no Rock’n’Roll, nur wie zum Hohn eine Packung Vanilleeis im Eiskasten. Eine Enttäuschung für Cassius Clay, der eben im Miami Beach Convention Center – unter Buhrufen einerseits und „I shook up the world!“ und „I am the greatest!“-Skandieren seinerseits – durch einen unerwarteten Sieg über Sonny Liston neuer Schwergewichts-Box-Weltmeister geworden ist.

Frustrierend für Sam Cooke, dessen Show im New Yorker Nachtclub Copacabana das ressentimentgeladene weiße Publikum erst kürzlich fluchtartig verließ, was den sonst so souveränen Soulisten derart aus der Fassung brachte, dass er über den Mikroständer stolperte …

Ein neuerlicher Dämpfer für Jim Brown, dessen Ausflug zu seinem Sponsor Mr. Carlton in Georgia, ganz kurz und sehr jovial: Beau Bridges, damit endete, dass dieser trotz des Lobs über seines Schützlings sportliche Erfolge und der Zusicherung jeder Art von Kooperation erklärte: „Du weißt ja, wir lassen keine Neger ins Haus“. Dies mit einer Selbstverständlichkeit, als handle es sich um eine Hausregel wie Schuhe ausziehen, die Rassentrennung so verinnerlicht, dass sie Carlton selbst gar nicht negativ auffiel. Ruhm, Repräsentationspolitik und Rassendiskriminierung, es nimmt einem den Atem …

Die frugale Feier ausgerichtet hat Malcolm X, der die Freunde zum Gespräch, zum Nachdenken, nicht zu einem Gelage einladen will, und – da hatte er sich bereits mit Nation-Leader Elijah Muhammad wegen Vorwürfen der Bereicherung, Sexaffären, der Korruption und eines „Lifestyles wie ein Pharao“ überworfen – der mit Champ Cassius weiterführende Pläne hat.

Die Nacht ist die des 25. Februars 1964, und das Treffen der vier tatsächlichen Freunde gab es wirklich, was allerdings gesprochen wurde, da beginnt die Fiktion. Der afroamerikanische Dramatiker Kemp Powers imaginierte die Gespräche für sein 2013 uraufgeführtes Theaterstück „One Night in Miami“. Für Filmregisseurin Regina King hat er seine „Momentaufnahme eines entscheidenden Augenblicks in der afroamerikanischen Geschichte mit weitreichenden Auswirkungen auf die Gesellschaft“ [© Zitat Powers] nun als Drehbuch adaptiert. Nach Corona-bedingt abgebrochenem Kinostart wurde das Drama ins Programm von Amazon Prime Video aufgenommen.

Was Regina King und Kamerafrau Tami Reiker mit dem scharfsinnigen Drehbuch gemacht haben, in dem sich alles um die Frage: das System unterwandern und von seinem Zentrum aus oder in der offenen Konfrontation bekämpfen?, ist auch dank der beiden visuellem Selbstvertrauen ein kluges und vielschichtiges Kammerspiel. Von Rückblenden zum Boxring, von mondänen Miami-Bildern zum Molotowcocktail. King weiß, was sie will, wenn sie ihre Protagonisten beim funzeligen Licht der schäbig-braunen Bude zusammenbringt: Sie will sie reden lassen und dass man ihnen zuhört, ihnen zuschaut, wie sie einander anblicken, wie sie aufeinander reagieren.

Sie will die Komplexität dieser „schwarzen Berühmtheiten“, die alle am Scheideweg ihres Lebens und ihrer Karrieren stehen, in ihrem gedanklichen Tiefgang, manche auch am Tiefpunkt zeigen. Ihre Innenperspektive auf die „schwarze Identität“, ihre illusionslose Sicht auf die persönliche und der anderen Situation und ihre Zweifel an den eigenen und der anderen Möglichkeiten. Ihre Unterschiede und Differenzen, ihre Sexyness, ihren Stolz, ihre Streitereien, ihre Ahnung vom gesellschaftspolitischen Gewicht, das ihnen bisweilen zukommt – und eine beinah prophetische Traurigkeit übers Scheitern und – den Tod.

Regina King und Eli Goree bei den Dreharbeiten. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Sam Cookes Show im Copacabana geht schief: Leslie Odom Jr. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Jim Brown machen die Streitereien immer ärgerlicher: Aldis Hodge. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Malcolm X hat eine Vorahnung seines Todes: Kingsley Ben-Adir. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Auf die eine oder andere Weise ist jedem der vier klar, dass sie lediglich die Clowns, die Spaßmacher, die Entertainer des weißen Publikums sind, geduldet nur so lange ihre Performance passt; und Ironie des Schicksals ist, dass Sam Cooke, der sich hier mit Malcolm X in der Causa Sich-den-Weißen-Andienen am heftigsten in die Haare kriegt, ein Jahr vor dem Aktivisten ermordet wurde. 1964 im Hacinda Motel in Los Angeles, von dessen Managerin unter bis heute ungeklärten Umständen, Malcolm X 1965 während eines Vortrags in New York, erschossen von drei Attentätern wegen seiner Kritik an Elijah Muhammad.

Noch aber ist alles eitel Wonne. Man sieht Malcolm X mit „Bruder“ Cassius beim Gebet, ein kleines Störgeräusch sind vor der Tür die beiden Leibwächter, Christian Magby als gutgelaunter Autogrammjäger Jamaal und Lance Reddick als gestrenger Gott-ist-groß-Bruder Kareem X. Dass die Investoren sauer sind, weil sich der Champ den „Demagogen“ zur spirituellen Unterstützung geholt hat, kann die Harmonie nicht trüben. Jimmy, eingesetzt als Co-Kommentator am Ring, wird bald zu Cassius Sparringpartner in Sachen Großmäuligkeit werden, Sam zum Entsetzen Malcolms den Flachmann aus dem Gitarrenkoffer zaubern.

Es amüsieren sich vier Charaktere, die unterschiedlicher kaum sein könnten und dennoch Buddies for Life sind, das lockere Mundwerk, der Tonfall zwischen ihnen ist entsprechend humorvoll hänselnd. „Nur weil ich ,militant‘ bin, heißt das nicht, dass ich nicht weiß, wie man sich’s gutgehen lässt“, feixt Malcolm unter Gelächter übers entdeckte Vanilleeis. Als Cassius Clay, dem „kein Rassist was anhaben kann, weil ich ein Sieger bin“, Brown foppt, warum er der Nation nicht beitrete, wehrt der ab mit: „Kennst du die Schweinekoteletts meiner Groß- mutter?“ Vom Feinsten auch Cookes Spruch: „Alle wollen ein Stück vom Kuchen, ich nicht, ich will das Rezept.“

Doch spätestens als Malcolm ausgerechnet den NFL-Runningback angreift, der den subtilen Football-Rassismus stets mit sprödem Wesen, schnoddrigem Charakter und brutaler Aufrichtigkeit kontert, weil Jim jüngst auf Filmschauspieler macht, wo er doch nur die „schwachen Opfer“ zu spielen bekäme, kippt die Stimmung.

Regina King, selbst Schauspielerin und Oscar-prämiert für ihre Rolle der Sharon Rivers in James Baldwins „Beale Street“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=32324), versteht es, jedem Einzelnen in ihrem Ensemble den benötigten Raum zu geben, damit er Kontur gewinnen kann, um Konflikte und Zusammenhalt, Rivalität und verbindende Ideen, Wut und Verletzlichkeit sichtbar werden zu lassen. Dynamik entsteht in diesem Setting einzig durch die hitzigen Debatten.

King inszeniert mit flirrend emotionalem Flair; die vier Darsteller verleihen dem Film eine sagenhafte Authentizität: Eli Goree als Cassius Clay, Kingsley Ben-Adir als Malcolm X, Aldis Hodge als Jim Brown und Leslie Odom Jr. als Sam Cooke sind sensationell in ihren Rollen, sie eignen sich die Psyche der jeweiligen Leitfigur, der Vorreiter und Vorbilder an, der sarkastische Sam, das übermütige „Riesenbaby“ Cassius, Scherzkeks Jimmy, „der affektierte Malcolm“, schlüpfen in den Mythos, die Manierismen, die Widersprüche wie in einen seidigen Handschuh.

„Dieser Film“, sagt Regina King in einem Regiestatement, „ist ein Liebesbrief an die Erfahrungen des schwarzen Mannes in Amerika. Wie die jüngsten Morde an George Floyd und Breonna Taylor [und am 20-jährigen Daunte Wright vor drei Tagen in Minnesota, Anm.] gezeigt haben, ist unser Kampf um Gleichberechtigung leider noch lange nicht vorbei. Wir brauchen einander mehr denn je, unsere Stimmen sind zu einer vereint, unmöglich zu ignorieren und laut genug, um endlich gehört zu werden.“

Genau dies der Knackpunkt zwischen Sam Cooke und Malcolm X, dem Botschafter der Musik vs. dem Botschafter des Glaubens, der „Bourgeois-Neger“ gegen den „Nigga“. Der eine, überzeugt, dass es irgendwann keine weißen und schwarzen, sondern nur mehr „die Charts“ geben wird, muss sich vom anderen sagen lassen, er habe sich verirrt, weil er die Seele der Weißen berühren will, der erwidert punkto Propagandawort „weiße Teufel“: „Du machst die Leute nur zornig!“ Solcherart wird politisiert und provoziert, die Frage nach der Selbstermächtigung akut. Doch keiner gesteht alles ein, immer bleibt ein Rest, den man aus Eitelkeit oder Verlegenheit unterschlägt.

Kingsley Ben-Adir, Aldis Hodge und Leslie Odom Jr. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Aaron D. Alexander als Sonny Liston und Eli Goree. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Eli Goree und Michael Imperioli als Trainer Angelo Dundee. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Lance Reddick als Kareem X, Eli Goree und Kingsley Ben-Adir. Bild: Patti Perret – © Courtesy of Amazon Studios 2020

Beinahe kommt’s auf der Dachterrasse zur Schlägerei, Sam und Malcolm lassen die Situation eskalieren, zwischen den Zeilen steht die Anschuldigung, dass X Clay „rekrutieren“ will, der gutmütige Cassius und der zunehmend ang‘fressene Jim kalmieren. Großartig, wie Odom Jr., Ben-Adir, Goree und Hodge diese Szene gestalten, allen voran der zweifach Oscar-nominierte Leslie Odom Jr. als Macher, Musiklabelgründer, Megaverdiener Sam Cooke, für den Freiheit – Schnickschnack: politisch oder religiös! – bei der wirtschaftlichen beginnt, und Kingsley Ben-Adir als grüblerischer, nichtsdestotrotz selbstgerechter, radikaler, die FBI-Hoover-Agenten vor seinem Fenster seinerseits bespitzelnder Malcolm X.

Ben-Adir, der auch schon Barack Obama spielte, wird in seiner Rolle zu jenem Intellektuellen, der mit seinen Worten die anderen hellauf begeistern, aber auch abgrundtief kränken kann, ein X, der so klarsichtig ist, dass er die Prekarität seines Standpunkts und inmitten der bessersituierten Freunde auch seiner Person begreift. Ben-Adir verleiht dem Bürgerrechtskämpfer eine zerrissene Komplexität und zugleich ein inneres Leuchten, die sich der Zuschauerin, dem Zuschauer so nachhaltig einprägen, dass man nicht anders kann, als sich mit dessen Zukunftsbild auseinanderzusetzen.

Doch auch Jim Brown hat ein Scharmützel mit dem „hellhäutigen“ Malcolm X und dessen harter Linie: „Wir sind nicht alle gleich“, schreit er, und: „Wem willst Du eigentlich etwas beweisen? Den Weißen, oder doch vielleicht den Schwarzen?“ Wie sehr er die selbsternannt vorurteilsfreien, „toleranten“ Liberalen hasse, die „sich auf die Schulter klopfen, weil sie uns fast wie Menschen behandeln“. Da seien ihm ja die ehrlichen Rednecks aus dem Rust Belt oder die hinterwäldlerischen Hillbillys mit ihrem erdigen, offenen Schwarzenhass lieber! Erst Cassius Clay spricht’s aus: „Wir brauchen Macht!“ Black Power! Es hört sich an wie Sätze von heute.

King gibt’s den Zuschauerinnen und Zuschauern kalt-warm, auf Explosion folgt innere Einkehr, Malcolm, der Sams Wirkung auf dessen Fans bei einem Konzert in Boston miterlebt hat, als er mit ihnen, weil die Tonanlage streikte, eine Acapella-Version seines Hits „Chain Gang“ sang, sagt: „Du könntest die lauteste Stimme von uns allen sein!“ In einer Vorausblende sieht man Sam Cooke bei einem Fernsehauftritt, bei dem er zum ersten Mal seinen Polit-Song, die spätere Hymne der Bürgerrechtsbewegung, „A Change Is Gonna Coming“ präsentiert. Applaus im Studio danach: Null.

[Hintergrund: Sam Cooke und seine Ehefrau Barbara wollten in einem Hotel in Shreveport, Louisiana, übernachten, doch ein nervöser Rezeptionist verkündete, es gäbe keine freien Betten mehr – (weil man prinzipiell keine Zimmer an Afroamerikaner vermietete). Cooke verlangte nach dem Manager, während Barbara versuchte, ihn mit der Warnung „They’ll kill you“ zum Gehen zu bewegen. Der Sänger soll darauf geantwortet haben „They ain’t gonna kill me, because I’m Sam Cooke“. Nachdem es gelungen war, den Sänger zum Verlassen des Hotels zu überreden, fuhren er und sein Gefolge laut hupend und schimpfend davon. In der Innenstadt wurden sie von der Polizei empfangen und wegen Landfriedensbruchs festgenommen. Die New York Times titelte am nächsten Tag „Negro Bandleader Held in Shreveport“.]

„One Night in Miami“ ist ein Film über Männer, die erkennen, dass sie Geschichte machen, und die diese Aufgabe gut machen wollen – wenn auch, wie das heutige Publikum weiß, manche nur für allzu kurze Zeit. Kunst und Kultur von Afroamerikanern hat eine politische Verantwortung, solange die dominante Kultur die herrschenden Machtverhältnisse frohgemut reproduziert. Regina King weiß das nur zu gut, und deswegen strebt ihr Film keiner versöhnlichen Auflösung zu. Ihre Verpflichtung angesichts der Tatsache, dass „täglich Schwarze in den Straßen sterben“ können die vier Protagonisten nämlich nicht restlos klären. King lässt die Divergenzen eines aufwühlenden Abends bestehen, den keiner, auch nicht das Publikum, unverändert verlassen wird.

Dafür steigt zum Schluss doch noch ein Fest. In der Motel-Bar. Da hat Malcolm X sein Geheimnis endlich gelüftet, er gedenke eine neue Organisation zu gründen und wünsche sich Cassius Clay als treibende Kraft hinter seiner Vision. Und die Presse hat die Celebrities aufgestöbert. Im Blitzlichtgewitter und vor laufenden Kameras teilt Cassius Clay mit Malcolm X an der Seite der Öffentlichkeit mit, dass er seinen Sklavennamen ablege, der Nation of Islam beitrete und von nun an Muhammad Ali heiße.

Im April 1967 wurde ebendiesem der Weltmeistertitel aberkannt, nachdem er sich geweigert hatte, den Wehrdienst in Vietnam anzutreten. „Nein“, sagte Muhammad Ali, „ich werde nicht 10.000 Meilen von zu Hause entfernt helfen, eine andere arme Nation zu ermorden und niederzubrennen, nur um die Vorherrschaft weißer Sklavenherren über die dunkleren Völker der Welt sichern zu helfen.“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=ZprXMxKg–w          www.youtube.com/watch?v=K8vf_Cmh9nY           www.amazon.de

14. 4. 2021