Hochwald: Evi Romens queerer Anti-Heimatfilm

September 15, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Parabel vom zernarbten Herzen

Thomas Prenn. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Eines Tages stellte sich ein junger Mann in die Mitte des Ortes und verkündete, er habe das schönste Herz im ganzen Tal. Da trat ein alter Mann aus der Menge und sagte: „Dein Herz ist lange nicht so schön wie meines!“ Die Menschen und der junge Mann blickten auf das Herz des Alten. Es schlug stark, doch es war voller Narben. Stücke waren herausgebrochen und andere eingesetzt, tatsächlich waren da tiefe Löcher, wo ganze Teile fehlten.

„Du machst wohl Witze“, lachte der Junge. „Vergleich dein Herz mit meinem: Meines ist vollkommen und deines ist längst kaputt!“ „Ja“, erwiderte der alte Mann, „dein Herz sieht vollkommen aus, aber ich würde doch niemals mit dir tauschen. Weißt du, jede Narbe in meinem, jede Lücke steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe.“ Diese Parabel erzählt der Imam Mario, als dieser in einer muslimischen Wohngemeinschaft in Bozen eine letzte Zufluchtsstätte findet. Da hat der gestrauchelte Traumtänzer die Talfahrt vom „Hochwald“ schon hinter sich, dies der Titel von Evi Romens wuchtigem Regiedebüt, das bei der diesjährigen Diagonale mit dem Großen Preis für den besten Spielfilm ausgezeichnet wurde und am Freitag in den heimischen Kinos anläuft.

„Hochwald“ ist ein queerer Anti-Heimatfilm über Außenseiter in ländlicher Gegend, kontrast- und mit seinen Irrungen, Wirrungen, Wendungen auch risikoreich, doch Regisseurin und Drehbuchautorin Romens Rechnung geht voll auf, ihr Kalkül Schwul-sein im südtirolerischen Katholizismus, das Gefühl des Deplatziert-Seins, islamistischen Terror und eine rettende Begegnung mit dem Islam auf einen Nenner zu bringen. Durch die Kamera von Martin Gschlacht und Jerzy Palacz präsentiert sich die Amour-Fou-Produktion stylisch, hipp, innovativ.

„Hochwald“ ist atmosphärisch dicht, mit psychologischer Präzision inszeniert und exzellent bildgewaltig fotografiert, und es ist der charismatische Hauptdarsteller Thomas Prenn als Mario, der 107 Minuten lang sein Innerstes nach außen kehrt, und diesem Film seinen schauspielerischen Stempel aufdrückt – wofür der 27-Jährige beim Österreichischen Filmpreis zum besten Hauptdarsteller gekürt wurde. Und so beginnt der Film: Selbstvergessen tanzt Mario im Mehrzwecksaal der Volksschule im fiktiven Südtiroler Dorf „Hochwald“, er trägt Latein-Tanzschuhe, also solche mit Absatz, und hat in seiner Sporttasche allerlei fancy Kostüme dabei.

Eine Karriere als Tänzer schwebt ihm vor, ein Ausbrechen aus der Enge, die ihn erdrückt wie seine Gelegenheitsjobs als Frühstückskoch im Nobelhotel oder in der Fleischhauerei des Stiefvaters Hermann, Würste abdrehen und Mutters Neuen wichsen. Da trifft er in der Dorfdisco Jugendfreund Lenz, Noah Saavedra, dieser nunmehr Schauspielschüler in Wien und auf dem Weg zu einem Casting in Rom, und wohl früher Marios Love Interest. „In Wien sind alle schwul!“ – „Aber bei uns hier nicht“, unterhalten sich Mario und Lenz kichernd und kiffend im eingeschneiten Auto vor der Kirche und unterwegs zur Christmette.

Thomas Prenn im Haufen von Marios fancy Kostümen. Bild: © Amour Fou

Thomas Prenn und Noah Saavedra. Bild: © Amour Fou

Mario fühlt sich nur in der Dorfdisco frei: Thomas Prenn. Bild: © Amour Fou

Doch gesagt, getan: der sensible, diverse Drogen drückende Mario wird den exaltierten Lenz nach Rom begleiten, der in sich gekehrte, nur im Tanz freie Schulwartssohn und der adelige, weltläufige Winzerspross, auch mit diesen Gegensätzen hantiert Evi Romen, wo sie am ersten Abend in einem Gay Club – gecastet: dessen echte Community – landen. Da passiert’s. „Allahu Akbar“ brüllende, vermummte Männer stürmen das Lokal, schießen wild um sich, Lenz ist tot … Für Marios Coming-Of-Age-Story bedeutet das ein Zurück in die gebirgige Düsternis, eine Konfrontation mit jener gnadenlosen Kleingeistigkeit, vor der seine sexuelle Orientierung nun offen ausgebreitet ist, hin zu Lenz‘ über dessen Homosexualität ahnungslose Eltern. Was Wunder, dass Mario seine Trauerarbeit im Volksschulsaal vor erschrockenen Taferlklasslern performt …

Zwischen den Anschuldigungen von dessen Mutter, Mario hätte Lenz Richtung Pfad der körperlichen Untugend verführt, und seines leiblichen Vaters: „Scheiß-Moslems, die g’hören alle darschossen“, in einer Abwärtsspirale ohne Ausweg, konfrontiert Evi Romen das Publikum nicht nur mit dessen eigenen Ressentiments, sie macht auch etwaige Erwartungshaltungen zunichte, wenn sie die Andersartigkeiten einander nicht abstoßen, sondern sich gegenseitig anziehen lässt. In Bozen nämlich, wo Mario sich in einem Nageldesignstudio unterm Ladentisch mit aufklebbaren Tips versorgt, trifft er nach einem „Schuss“ auf der Bahnhofstoilette Nadim, den er von seiner abgebrochenen Konditorenlehre kennt, und der sich dort fürs Gebet wäscht.

Josef Mohamed, in Wien bekannt als ausdrucksstarker Theaterschauspieler (Rezensionen: www.mottingers-meinung.at/?p=32241, www.mottingers-meinung.at/?p=36095), schlüpft in die Figur des Gratis-Koran verteilenden Nadim wie in eine zweite Haut. Überhaupt ist Hochwald bis in die Nebencharaktere brillant besetzt. Mit Claudia Kottal als Volksschullehrerin und Mutter von Lenz‘ Ausrutscher-Sohn, mit „Hochwürden“ Johannes Silberschneider und Marco Di Sapia als Lenz‘ Künstleragent, mit Ursula Scribano-Ofner als Marios Mutter, Helmuth Häusler als Vater und Hannes Perkmann als Stiefvater. Katja Lechthaler und Walter Sachers sind als Lenz‘ Eltern zu sehen.

Mit Ursula Scribano-Ofner. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Mit Josef Mohamed. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Mit Kida Kodhr Ramadan. Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Josef Mohamed (li.). Bild: © Amour Fou – Flo Rainer

Sowie der libanesisch-deutsche Schauspieler und Szenestar Kida Kodhr Ramadan als Imam Mami, in dessen WG Nadim Mario mitnimmt, als der im Drogenrausch auf der Straße zusammenbricht. Es wird die dortige Friedlichkeit und Freundlichkeit sein, das Anerkennen seines Ichs, wie es ist – siehe: die Parabel vom zernarbten Herzen, in dem Mario Halt und Unterstützung findet. „Die Attentäter, des waren kane Muslime, der Islam isch a friedliche Religion“, sagt Nadim, und Marios Vater, als er auf den Armen des Sohns keine neuen Einstiche findet: „War des da Allah?“ Bis sich der nächste Dorfskandal entzündet: „Man hat dich gesehen! Mit den Muselmanen! Des isch pervers! Totalschaden, odr?“

Wie sie einen doch ins Visier nimmt, die Wegschau-, die Menschen-Wegwerf-Gesellschaft, Visier wortwörtlich, als Lenz‘ Vater vom Hochstand aus mit seinem Jagdgewehr auf Mario anlegt … Mit seinen Doppelbödigkeiten, den Doppeldeutigkeiten des Dorfdialekts, die Tabus, um die jeder weiß es, doch keiner beredet, mit seinem spröde erzählten Gefecht Einzelkämpfer gegen Kollektiv, mit dessen Zerrissenheit und dem Zwiespalt, der Gräben durchs Umfeld zieht, ist „Hochwald“ ein gelungenes Stück modernen Neorealismo.

Evi Romen kann Symbolik, die archaische Grundstruktur des Orts als Setting, ausgerechnet Religion als Befreiung von belastenden Glaubensmustern, als Talisman eine weißgelockte Perücke, die sich wie ein roter Faden durch den Film zieht, der Hochwald als Stätte der Transformation, und niemals bedient sie ein touristisches Südtirol. Dazu die stimmige Original-Musik von Florian Horwath, die’s hoffentlich bald auf CD gibt, und ein paar 1960er-Klassiker wie „Inch’Allah“ von Adamo.

„Hochwald“ lässt einen atemlos zurück, und mit viel Stoff, um darüber nachzudenken. Die Haken, die die Handlung durch die Unberechenbarkeit ihres Protagonisten Mario schlägt, lenken einen stets in eine neue Richtung, weg vom spezifischen Südtirol, hin ins Universelle. Im exzellenten Ensemble sticht einem Thomas Prenn als introvertierter Extrovertierter ins Auge, und ein solches sollte man auf den Südtiroler Schauspieler auch haben. Sein nächster Streich, „Große Freiheit“ von Sebastian Meise mit Franz Rogowski und Georg Friedrich, wurde dieses Jahr in Cannes in die Sektion Un Certain Regard eingeladen und mit dem Jurypreis ausgezeichnet.

www.facebook.com/hochwaldfilm          Trailer: www.youtube.com/watch?v=VlxjiJe-r1w&t=1s

  1. 9. 2021

Burgtheater: “Lumpazivagabundus”

August 30, 2013 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Burgherrn Matthias Hartmanns Inszenierung von „Lumpazivagabundus“, eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, hat am 6. September Wien-Premiere. Hier noch einmal die Rezension von der Aufführung auf der Perner Insel und die Burgtheater-Highlights der neuen Saison:

Hartmanns Dreifach-Jackpot kommt nach Wien

Nicholas Ofczarek (Knierim), Florian Teichtmeister (Leim), Michael Maertens (Zwirn) Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Nicholas Ofczarek (Knieriem), Florian Teichtmeister (Leim), Michael Maertens (Zwirn)
Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Grell, bunt, Punk, Brauchtum. Zauberwesen, die teils Bärte à la ZZ Top tragen, teils langes Blondhaar wie Brad Pitt in “Interview mit einem Vampir”. Ein Feenkönig als EU- Ratspräsident, die Europaflagge hinter sich (Bühne: Stéphane Laimé), eine Fortuna (Maria Happel) mit Angela-Merkel-Frisur, Mavie Hörbiger als Fee Amorosa wie “Natürlich Blond” entsprungen… Und so geht’s weiter. Burgherr Matthias Hartmann inszenierte auf der Perner Insel Nestroys “Der böse Geist Lumpazivagabundus oder das liederliche Kleeblatt”. Im Dreiergespann Leim, Zwirn, Knieriem ist Hartmann der vierte Pflanzenteil. Ohne ihn: kein Glück. Hartmann ist ganz in seinem Element, schüttet ein Füllhorn voll Ideen über Nestroy, kostet jede Pointe wie ein gutes Glas Wein aus, lässt (eigentlich: “Spielmacher” Nicholas Ofczarek als Knieriem) das Publikum bei einer Wirtshaussauferei sogar mitsingen. “Eduard und Kunig-uuun-de” erschallt es zwischen Perlencolliers und Smokingfliegen. Da kommt Stimmung auf. Und Schwung. Gags, Gimmicks, Slapstick am laufenden Band, Musik (Karsten Riedel) von “Bacardi Feeling” über Status Quos “Rockin’ all over the World” bis zu Karel Gotts “Einmal um die ganze Welt”. Untiefen statt Tiefgang. Witz, der nicht zündet, sondern explodiert wie ein Feuerwerk. Und den Zynismus an der Geschicht’ hört man vor lauter Lachen nicht … Das “Kometenlied” kommt übrigens auch vor (zusätzliche Liedtexte: Nicolaus Hagg).

Die Lottosieger, also: Nicholas Ofczarek erinnert an Vorganger wie Paul und Attila Hörbiger oder Helmut Qualtinger und spielt den Alkoholiker bis zum Delirium. Zum Fürchten brutal, voll Pathos über sein durch b’soffene Schlägereien bestimmtes Schicksal nah am Wasser – pardon: Wein beziehungsweise Bier beziehungsweise Schnaps – gebaut. Ohne jeden Kitsch, “ungemütlich”, gar nicht mehr mit bösen, sondern mit bereits leblosen Augen ist er ein Sich-zu-Tode-Trinkender, kommt Nestroys Vorstellung – der die Figur ja weiland selbst verkörperte – so vielleicht am nächsten. Michael Maertens gibt einen überkandidelt-komischen Zwirn – aus Ulm, um sein Nicht-Wienerisch zu erklären, sehr gut! -, hüpfenden wie ein Laubfrosch (auch bei einem Tänzchen mit Ehefrau Mavie), ein Weiberer, ein Gockel, ein Don Juan für Ärmere, ein Geck mit “Goasbort”, dessen meckendes Lachen tatsächlich an einen Ziegenbock erinnert. Mit ganz großer Komik lässt er die Tragödie seiner Gestalt außer Acht, um lieber groß daherzureden. Kein Wunder, dass er sich, reich geworden, auf seinem Gold-Schloss von einer Art Andy Warhol malen lässt … Im Mittelpunkt zwischen den beiden Burg-Titanen: Florian Teichtmeister, der für den verletzten Johannes Krisch einsprang. Der Josefstädter spielt mit wohltuender Zurückhaltung Nestroy. Überzeugt als Leim, den seine Liebe zu des Meisters Tochter Peppi auf Wanderschaft getrieben hat. So rührend, so herzenskrank, so gutmütig und sanft, entfesselt nur durch Amors Amour-Zorn. Als Sieger kehrt er heim, wird zum überheblichen Biedermann, zum Spießbürger im Golferoutfit – und will seine ehemaligen Kameraden mit Geld und einer Türfernbedienung einsperren. Ohne zu outrieren wechselt Teichtmeister sozusagen die “Rolle”. Wird ein ganz anderer. Eine Meisterleistung.

Und dann noch: Max Mayer als Lumpazivagavundus (auch noch verkleidet als Herr von Windwachel und Dorfwirtin). Eine der wichtigsten Kräfte am Schauspielhaus Wien, zeigt er auch Salzburg, was er kann. Wie dämonisch man nackt bis auf  eine dreckige Unterhose sein kann. Er changiert, verrenkt sich sprachlich und körperlich – und ist zum ersten Mal im Wiener Dialekt zu hören. Ein Bravo, wie er mit nur einem schwarzen Stöckelschuh die Bühne für sich in Anspruch nimmt. Wandlungsfähig, wunderbar. Ansonsten kann Hartmann wie stets bis in die kleinste Rolle (und viele stellen mehrere Figuren dar) aus seinem unvergleichlichen Ensemble schöpfen: Branko Samarovski, André Meyer, Michael Masula, Hermann Scheidleder und Mitglieder der Jungen Burg sind allesamt Haupttreffer. Vor allem aber Publikumsliebling Happel, die neben der Glücksfee auch eine falsche, geldgierige Italienerin samt Arienpotpourri und – wie von Nestroy vorgesehen – eine schwäbische Haushälterin gibt.

Am Ende gehen dem Leim alle auf den – Leim. Aus einem Puppenhaus schauend gaukeln sie Idylle vor. Ein Kapitalist und Arbeitnehmerantreiber, ein zwiderer Zwirn mit Weib und zwei Kindern, und Familienvater Knieriem. Der kippt vor der Abendeinladung beim Leim noch schnell ein Stamperl. So viel Scheinidyll … „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.“

Unbedingt sehenswert!

www.burgtheater.at

www.mottingers-meinung.at/burgtheater-spielplanprasentation-201314

Salzburg, 2. 8. 2013

Salzburger Festspiele: “Lumpazivagabundus”

August 8, 2013 in Bühne

Dreifach-Jackpot auf der Perner-Insel

Lumpazivagabundus: Nicholas Ofczarek (Knieriem), Florian Teichtmeister (Leim), Michael Maertens (Zwirn) Bild: © Reinhard Werner

Lumpazivagabundus: Nicholas Ofczarek (Knieriem), Florian Teichtmeister (Leim), Michael Maertens (Zwirn)
Bild: © Reinhard Werner

Grell, bunt, Punk, Brauchtum. Zauberwesen, die teils Bärte à la ZZ Top tragen, teils langes Blondhaar wie Brad Pitt in „Interview mit einem Vampir“. Ein Feenkönig als EU- Ratspräsident, die Europaflagge hinter sich (Bühne: Stéphane Laimé), eine Fortuna (Maria Happel) mit Angela-Merkel-Frisur, Mavie Hörbiger als Fee Amorosa wie „Natürlich Blond“ entsprungen… Und so geht’s weiter. Burgherr Matthias Hartmann inszenierte auf der Perner Insel Nestroys „Der böse Geist Lumpazivagabundus oder das liederliche Kleeblatt“. Im Dreiergespann Leim, Zwirn, Knieriem ist Hartmann der vierte Pflanzenteil. Ohne ihn: kein Glück. Hartmann ist ganz in seinem Element, schüttet ein Füllhorn voll Ideen über Nestroy, kostet jede Pointe wie ein gutes Glas Wein aus, lässt (eigentlich: „Spielmacher“ Nicholas Ofczarek als Knieriem) das Publikum bei einer Wirtshaussauferei sogar mitsingen. „Eduard und Kunig-uuun-de“ erschallt es zwischen Perlencolliers und Smokingfliegen. Da kommt Stimmung auf. Und Schwung. Gags, Gimmicks, Slapstick am laufenden Band, Musik (Karsten Riedel) von „Bacardi Feeling“ über Status Quos „Rockin‘ all over the World“ bis zu Karel Gotts „Einmal um die ganze Welt“. Untiefen statt Tiefgang. Witz, der nicht zündet, sondern explodiert wie ein Feuerwerk. Und den Zynismus an der Geschicht‘ hört man vor lauter Lachen nicht … Das „Kometenlied“ kommt übrigens auch vor (zusätzliche Liedtexte: Nicolaus Hagg).

Die Lottosieger, also: Nicholas Ofczarek erinnert an Vorganger wie Paul und Attila Hörbiger oder Helmut Qualtinger und spielt den Alkoholiker bis zum Delirium. Zum Fürchten brutal, voll Pathos über sein durch b’soffene Schlägereien bestimmtes Schicksal nah am Wasser – pardon: Wein beziehungsweise Bier beziehungsweise Schnaps – gebaut. Ohne jeden Kitsch, „ungemütlich“, gar nicht mehr mit bösen, sondern mit bereits leblosen Augen ist er ein Sich-zu-Tode-Trinkender, kommt Nestroys Vorstellung – der die Figur ja weiland selbst verkörperte – so vielleicht am nächsten. Michael Maertens gibt einen überkandidelt-komischen Zwirn – aus Ulm, um sein Nicht-Wienerisch zu erklären, sehr gut! -, hüpfenden wie ein Laubfrosch (auch bei einem Tänzchen mit Ehefrau Mavie), ein Weiberer, ein Gockel, ein Don Juan für Ärmere, ein Geck mit „Goasbort“, dessen meckendes Lachen tatsächlich an einen Ziegenbock erinnert. Mit ganz großer Komik lässt er die Tragödie seiner Gestalt außer Acht, um lieber groß daherzureden. Kein Wunder, dass er sich, reich geworden, auf seinem Gold-Schloss von einer Art Andy Warhol malen lässt … Eine ernste Rolle täte Maertens zur Abwechslung wieder einmal gut. Im Mittelpunkt zwischen den beiden Burg-Titanen: Florian Teichtmeister, der für den verletzten Johannes Krisch einsprang. Der Josefstädter spielt mit wohltuender Zurückhaltung NESTROY. Überzeugt als Leim, den seine Liebe zu des Meisters Tochter Peppi auf Wanderschaft getrieben hat. So rührend, so herzenskrank, so gutmütig und sanft, entfesselt nur durch Amors Amour-Zorn. Als Sieger kehrt er heim, wird zum überheblichen Biedermann, zum Spießbürger im Golferoutfit – und will seine ehemaligen Kameraden mit Geld und einer Türfernbedienung einsperren. Ohne zu outrieren wechselt Teichtmeister sozusagen die „Rolle“. Wird ein ganz anderer. Eine Meisterleistung.

Und dann noch: Max Mayer als Lumpazivagavundus (auch noch verkleidet als Herr von Windwachel und Dorfwirtin). Eine der wichtigsten Kräfte am Schauspielhaus Wien, zeigt er auch Salzburg, was er kann. Wie dämonisch man nackt bis auf  eine dreckige Unterhose sein kann. Er changiert, verrenkt sich sprachlich und körperlich – und ist zum ersten Mal im Wiener Dialekt zu hören. Ein Bravo, wie er mit nur einem schwarzen Stöckelschuh die Bühne für sich in Anspruch nimmt. Wandlungsfähig, wunderbar. Ansonsten kann Hartmann wie stets bis in die kleinste Rolle (und viele stellen mehrere Figuren dar) aus seinem unvergleichlichen Ensemble schöpfen: Branko Samarovski, André Meyer, Michael Masula, Hermann Scheidleder und Mitglieder der Jungen Burg sind allesamt Haupttreffer. Vor allem aber Publikumsliebling Happel, die neben der Glücksfee auch eine falsche, geldgierige Italienerin samt Arienpotpourri und eine schwäbische Haushälterin gibt. Die Schauspielerin ist im Spessart geboren …

Am Ende gehen dem Leim alle auf den – Leim. Aus einem Puppenhaus schauend gaukeln sie Idylle vor. Ein Kapitalist und Arbeitnehmerantreiber, ein zwiderer Zwirn mit Weib und zwei Kindern, und Familienvater Knieriem. Der kippt vor der Abendeinladung beim Leim noch schnell ein Stamperl. So viel Scheinidyll … „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.“

Am 6. September übersiedelt die Produktion ans Burgtheater. Unbedingt sehenswert!

www.salzburgerfestspiele.at

www.burgtheater.at

www.mottingers-meinung.at/salzburger-festspiele-jedermann/

www.mottingers-meinung.at/salzburger-festspiele-2013/ :Domplatz: Die Sommerresidenz der Familie Hörbiger

www.mottingers-meinung.at/die-neue-buhlschaft/

www.mottingers-meinung.at/salzburger-festspiele-die-jungfrau-von-orleans/

www.mottingers-meinung.at/salzburger-festspiele-young-directors-projekt/

Von Michaela Mottinger

Salzburg, 2. 8. 2013

Die „Junge Burg“ spielt Heinrich von Kleist

Mai 3, 2013 in Tipps

„Ego Shooter – Michael Kohlhaas“

Bild: Georg Soulek/Burgtheater

Bild: Georg Soulek/Burgtheater

Am 5. Mai hat im Vestibül des Burgtheaters eine Produktion der TeilnehmerInnen des TheaterJahrs Premiere: „Ego Shooter – Michael Kohlhaas“. Nach der Novelle von Heinrich von Kleist. Die Erzählung spielt in der Mitte des 16. Jahrhunderts und handelt vom Pferdehändler Michael Kohlhaas, der gegen ein Unrecht, das man ihm angetan hat, zur Selbstjustiz greift und dabei nach der Devise handelt: „Fiat iustitia, et pereat mundus“ („Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“). Was so viel heißt wie, dass bei ihm der Zweck die Mittel nicht mehr heiligt. Oder: Er über’s Ziel hinausschießt. Der historische Hintergrund zu Kleists 1808 veröffentlichtem Text: Das Schicksal von Hans Kohlhase. Der lebte im 16. Jahrhundert als Kaufmann in Cölln an der Spree im Brandenburgischen. Am 1. Oktober des Jahres 1532 begab er sich auf eine Reise zur Leipziger Messe. Auf dem Weg dorthin wurden ihm jedoch auf Geheiß des Junkers von Zaschnitz zwei seiner Pferde abgenommen mit der Begründung, er habe sie gestohlen. Kohlhase versuchte, juristisch dagegen vorzugehen. Vergleichsverhandlungen fanden am 13. Mai 1533 auf der Burg Düben statt, führten jedoch zu keiner friedlichen Beilegung des Konfliktes. Ein Grund bestand vor allem darin, dass der Ritter von Zaschwitz inzwischen verstorben war und seine Erben eine angemessene Entschädigungszahlung verweigerten. Aus diesem Grund erklärte Kohlhase 1534 die Fehde und brannte Häuser in Wittenberg nieder, beging auch weitere Verbrechen. Schließlich wurde er ergriffen und am 22. Mai 1540 in Berlin öffentlich durch Rädern hingerichtet.

Auch Kleists Novelle dreht sich um Vorspiegelung falscher Tatsachen, Amtsmissbrauch, Körperverletzung und Sachbeschädigung. Auf Kohlhaas’ Weg durch die Instanzen der Justiz wird der klare Fall zusehends trüber, Kohlhaas wird als Querulant beschimpft, die „Suppe sei zu dünn“. Und die Erklärung für die veränderte Rechtslage scheint heute noch so plausibel wie eh und je: an den Schaltstellen der Macht sitzen Tronkas Verwandte, Kohlhaas’ Klage verfängt sich in einem Netz aus Verwandten, Verschwägerten, Eigeninteressen und politischer Rücksichtnahme. Einem Staat, der die Einhaltung der Gesetze nicht gewährleisten kann (oder will?), fühlt sich Kohlhaas nicht mehr zum Gehorsam verpflichtet. Und bald scharen sich andere Unzufriedene, Benachteiligte und Rechtlose um ihn. Die „gerechte Sache“ wird mehr und mehr zu Unrecht. Kleist verbirgt in seiner Schrift  Kritik an seiner Zeit: an absolutistischem Machtmissbrauch, Willkür und Unterdrückung. Doch auch in Demokratien scheint es mitunter hilfreich, wenn man nicht nur die Gesetze kennt, sondern vor allem – den Richter… In der Regie von Peter Raffalt spielen Anna Hofmann, Amrei Keul, Larissa Semke, Genet Zegay, Aaron Friesz, Johannes Hoff und Noah Saavedra.

www.burgtheater.at

Von Michaela Mottinger

Wien, 3. 5. 2013