DARUM online – Ausgang: Offen

Mai 21, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Tod ist definitiv eine Wienerin

Victoria Halper und Brigitte Zolles. Bild: DARUM

Das junge Wiener Performancekollektiv DARUM, bereits mit seiner ersten Produktion „Ungebetene Gäste“ für den Nestroy-Spezialpreis 2019 nominiert (Interview: www.mottingers-meinung.at/?p=32445), hat sich für seine aktuelle Arbeit „Ausgang: Offen“ #Corona-bedingt auf das Medium Film verlegt. Ursprünglich als begehbare Installation in verlassenen Büroräumlich- keiten geplant, führt einen die

Kamera nun via www.nachtkritik.de durch den Gebäudekomplex am Kempelenpark. Hinter zehn Türen lauert das Lieblingsthema des DARUM-Leading-Teams Laura Andreß, Victoria Halper und Kai Krösche – der Tod, und als Vorstufe dazu: das Sterben. Derart totentanzt der Betrachter durch dustere Kabinette, die Koproduktion mit WUK performing arts, heißt es eingangs, sei auch am besten in einem ebensolchen abgedunkelten anzusehen. Ein – und sei er noch so virtueller – Spaziergang ist das nicht für eine, die vor einer Woche fast maukas gegangen wär‘. Hoffnung, Verlust, Ohnmacht steht auf den Schildern zu den Pforten der Wahrnehmung, die sich öffnen werden.

Dahinter ein Universum der Vergänglichkeiten, aus dem statt dem eigenen das Kameraauge die (Selbst-) darstellerinnen und -darsteller zu kaum auszuhaltender Intimität zoomt. Von wegen scheene Leich, Fruchtbarkeitssymbol Feldhase aus Untersuchungsraum eins wird schon in Besprechungszimmer zwei seine Löffel abgegeben haben, inmitten eines Vanitas-Stillleben auf einst reich gedeckter, jetzt verwüsteter Tafel, zwischen medizinischen Befunden tonlose Zeichen der Verwesung, Essenreste, verdorrte Rosen, das einzig Lebendige – Maden bis zum Magenheben.

Der Tod ist definitiv eine Wienerin. Nicht nur, weil einen Victoria Halper als eine Art Sensenfrau am Einlass abholt, die meisten der Begegnungen sind weiblich. Zwischen Monitoren und MR-Bildern erzählt Dr. Sophie Zwölfer vom ambivalenten Verhältnis einer Ärztin zum Tod, ist doch der Kampf gegen diesen Feind ihr Dienstgeber – „du brauchst ihn, weil ohne ihn wärst du schließlich überflüssig“. Die meisten Patienten, sagt sie, hätten keine Angst vor dem ex und hopp Tod, sondern vor langem Siechtum und qualvollem Sterben, und sie unterscheidet Selbstmordpatienten, bei denen der Körper sein Leben nicht aufgeben will, von denen, deren Geist sich mit aller Kraft gegens Abtreten wehrt. Ein Arbeits-“alltag“, der genau das nie sein kann.

Sophie Zwölfer. Bild: DARUM

Jasmin Kreuzer. Bild: DARUM

Caroline S. Bild: DARUM

Emma Wiederhold. Bild: DARUM

Wie der von Jasmin Kreuzer, der Bestatterin und Sterbebegleiterin, die ihre Besucher im Sarg empfängt. „Die schauen nicht mehr, die Toten. Da ist nichts mehr hinter ihren Augen. Alles leer“, beantwortet sie die mutmaßlich auch live gestellte Frage, wie sie es mental und emotional verkraftet, die vielen Gesichter des Todes zu sehen. Das wahre Antlitz der Hinterbliebenen werde ihr offenbar, meint sie, und als sie Schminktipps für Verstorbene gibt, bekommt „Ausgang: Offen“ jene Skurrilität, die man an DARUM schon kennt und schätzt.

„Ausgang: Offen“ ist ein großartiger Tabubruch in einer Stadt, die wie keine zweite Euphemismen fürn Gwigwi hat, in der sich das Goldene Wienerherz einen Kasperl holt, in der, wer a Bankl reißt si d’Schleifn gibt, bevor er an Foahschein firn Anasiebzga löst. Der Zentralfriedhof, Jedermanns liebstes Freizeitparadies, von Wolfgang Ambros mit einer Hymne besungen, und unvergessen die deutsche TV-Doku, in der Roland Neuwirth „Ein echtes Wienerlied“ extremschrammelte, und der Untertitelung zum „… jetzt tuat eam ka Bah mehr weh …“ ein endlich von seinen Schmerzen erlöster Baum einfiel.

Aber, apropos: So viel musikalisches „Haaallo!“ um den Gevatter auch gemacht wird, so sehr wird seine Realität an die Ränder von jedes einzelnen Wirklichkeit gedrängt, Hospitium kommt heutzutage von Hospiz, und in dieses Sicht- und Spürbarmachen des Unausweichlichen stößt DARUM mit seinem experimentellen Hybrid zwischen Film und intensiver 1:1-Performance vor. Auf Grundlage zahlreicher Gespräche mit reanimierten Personen, unheilbar Kranken, Sterbenden, Angehörigen und solchen, die beruflich mit Sterbenden und Toten zu tun haben, – und die zum Großteil als sie selbst auftreten -, holen Halper, Andreß und Krösche das tief in den Seelen Vergrabene hervor ins Bewusstsein.

Franz Hammerbacher. Bild: DARUM

Ihre Produktion im Assoziationsspielraum zwischen Thomas Bo Nilsson und Romeo Castellucci versteht das Performance-Trio als „ein Angebot, dem Unbegreiflichen mit einer Ahnung zu begegnen und dem Tod aus unmittelbarer Entfernung und sicherer Nähe ins Auge zu blicken“. Ein solches „Signa“-l ist auch der Raum „Verlust“, aus dem man schreckliches Weinen hört, doch einem der tröstende Eintritt verboten wird. Im Krankenzimmer „Die Ohnmacht“ liegt Robert N. als im Wortsinn Maschinenmensch.

„Die Rückkehr“ bezieht sich auf Autor Franz Hammerbachers Nahtoderfahrung nach einem Autounfall auf dem Prager Autobahnring. Ein beunruhigender Ausblick in eine vielfarbige Finsternis, die den Betroffenen mit dem Gefühl des Kontrollverlusts zurückgelassen hat. „Aufprall, Stille, Schmerz, Sirenen, Stille“, so schildert er’s – und den „Lass‘ los“-Sog, der ihn seither zum Kopfschütteln seiner Freunde nicht mehr loslässt. Denn am Ende des Tunnels für Hammerbacher kein Licht …

Die 84-jährige Caroline S. ist per Laptop und unter Bildstörungen aus „dem Heim“ zugeschaltet, und berichtet, wie einen der Sudden Death in Geldnöte bringen kann, die elfjährige Emma Wiederhold, und das ist von allen Erlebnissen am schwersten zu ertragen, erzählt vom Ultraschalltermin, bei dem der Tod ihres noch ungeborenen Bruders festgestellt wurde, von seiner dennoch „Geburt“ und einem ersten/letzten In-den-Armen-Halten, „als würde er schlafen“, der längst bei Schlafes Bruder weilt.

„Ich gestehe es, ich wollte tot sein. Aber nach einiger Zeit habe ich auf einmal einen Finger bewegt. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich das kann, kann ich alles andere auch“, sagt Brigitte Zolles, die an der schweren Lungenkrankheit COPD leidet und die sich dennoch und im Wissen um ihre baldige Endlichkeit vorgenommen hat, das Leben zu genießen. „Der Weg“, eine Spritztour mit Victoria Halper am Steuer, ist eine kurze Liebeserklärung an das Leben. „Jede Minute genießen, einfach glücklich sein und atmen“, gibt einem Frau Zolles als Rat mit auf ebendiesen. Dann dreht sich die Kamera – und Schock. So viel makabrer Haunted-House-Horror-Humor muss sein! Was bleibt sind blühende Kirschbäume und ein Polaroid.

www.darum.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=bDI7TY92O20&feature=youtu.be

Weitere Streamingtermine: 27. und 30. Mai, ab 20.30 Uhr auf www.wuk.at

21. 5. 2020

Josef Haslinger: Mein Fall

Februar 18, 2020 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Bericht über den sexuellen Missbrauch in Stift Zwettl

Er hat es immer wieder erzählt, erstmals 1982 in „Der Konviktskaktus“, zuletzt vergangenes Jahr in „Child in Time“. 1983 in „Die plötzlichen Geschenke des Himmels“ schrieb Josef Haslinger „Er legte mir sein wulstiges Fleischstück wie eine geweihte Hostie auf die Zunge“ und „Ekel“ und „Es reckte mich“. Zuhörer reagierten bei Lesungen empört, nicht wegen des Vorgefallenen, sondern weil‘s einer wagte, dies öffentlich zu machen, eine Zeitschrift lehnte einen bereits vereinbarten Abdruck der Kurzgeschichte ab, der Autor selbst deklarierte die Fünf-Seiten-Prosa danach als „moralisch einwandfreie Fiktion“.

Das ist, was Haslinger heute seine „Phase der Verharmlosung“ nennt, das Schönreden seines Ausgeliefertseins als Schutzbefohlener, die Unfähigkeit selbst zur späten Auflehnung, stattdessen ein emotionales Verheddern in „So schlimm war’s ja nicht/Selber schuld“-Zuweisungen. Ein einstiger Mitschüler, dessen Namen Haslinger nicht nennt, sagt am Ende des Buches, wie schwer es ihm gefallen sei, seine Autoritätshörigkeit abzulegen, seinen Reflex zum „Einehaun“, also sich anzubiedern, „wir seien“, sagt er, „zu Opportunisten erzogen worden, zu ,Gefallsöhnen‘, gezwungen zur Selbstaufgabe, um uns geliebt zu fühlen.“

Haslingers aktuelles Buch „Mein Fall“ nennt andere Namen klar und deutlich: Pater Gottfried Eder, Pater Maurus König und Organist Viktor Adolf, Lehrer allesamt, sogenannte Erziehungsberechtigte, deren Verklausulierung durch Abkürzungen er sich nun zum ersten Mal erspart. Der Schriftsteller war in den 1960er-Jahren Sängerknabe im Stift Zwettl. Er wurde von Zisterzienser-Patres sexuell missbraucht. Bei Pater Gottfried war er zehn, bei Pater Maurus schon Mopedfahrer. Haslinger hat mit der Entanonymisierung gewartet, bis keiner der Angeführten mehr am Leben war. „Mein Fall“ ist ein Bericht, eine Dokumentation, auch über eine Selbstfindung, und eine „Mein Fall“-Studie darüber, wie Betroffene buchstäblich von Pontius zu Pilatus geschickt werden.

Ergeht es so schon einem Prominenten, wie mag’s wohl erst beim „Normalbürger“ sein, ist eine der Ungeheuerlichkeiten, die man beim Lesen nicht aus dem Kopf kriegt. „Nachdem ich jahrelang entschlossen gewesen war, es nicht zu tun, wandte ich mich am 25. November 2018 an die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft“, so Haslinger. Das Resultat – sein Buch. Denn mit dem Wagen dieses ultimativen Schrittes begibt sich der Autor auf – beinah scheint’s absichtlich – verschlungene Irrpfade. Von der Opferschutzanwaltschaft zur Unabhängigen Opferschutzkommission, kurz [Waltraud] „Klasnic-Kommission“, weil beide Institutionen, wobei zweitere für erstere die Entscheidungen trifft, von ihr geleitet, zu Kommissionsmitglied Brigitte Bierlein, zu der Zeit Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes.

Dies nur um zu erfahren, dass die von der Erzdiözese Wien eingerichtete Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche die richtige Adresse sei. Ein Bibelkenner, der da an Matthäus 12,24 denkt. Schließlich, um hier abzukürzen, endet die Odyssee beim „Erstgespräch“ mit einem Mitarbeiter der Ombudsstelle, Herrn Michelbach, der dem Opfer bei der wiederholten mündlichen Darlegung der sexuellen Übergriffe und erzieherischen Gewalttätigkeiten sinngemäß bescheidet: „Herr Haslinger, Sie sind doch ein Schriftsteller. Sie können das ja alles viel besser formulieren, als ich das kann. Wollen Sie mir nicht freundlicherweise das, was sie mir gerade erzählt haben, schriftlich zusammenfassen?“

Et voilà! Ein 144 Seiten starkes literarisches Protokoll über Vorgänge, die Kardinal Christoph Schönborn als „eine massive Realität“ innerhalb der Kirche bezeichnet. „Ich war zehn Jahre alt, als Pater Gottfried Eder sich für meinen kleinen Penis zu interessieren begann“, schreibt Haslinger in seiner überfälligen Konfrontation mit den Tätern, und: „Es kam mir nicht in den Sinn ernsthaft dagegen etwas zu unternehmen. Ich hätte Angst gehabt, die Aufmerksamkeit und Zuwendung von Pater Gottfried zu verlieren.“ Haslingers expliziter Text schockt. Schwer auszuhalten ist, wie er Intimstes, Peinsames und Peinliches darlegt – und es vor Brigitte Bierlein getan hat, von der sich mittlerweile wohl jeder ein offizielles Bild penibler Gepflegtheit und amtlicher Korrektheit gezimmert hat. Ihre Reaktion, ihr Gesicht dabei – kaum vorstellbar. Sie habe mehrmals genickt, so Haslinger.

Über weiteste Strecken betont sachlich schildert der ehemalige Konviktszögling die psychische und physische Folter an den Kindern. Nicht nur Pater Gottfried habe sich „seine Buben“ mit Gespür und der Verlockung kleiner Geschenke – ein Bazooka-Kaugummi mit Abziehbildern war wie eins des Himmels – ausgesucht, Haslinger deutet ein Netzwerk, zumindest eine Pädophilen-Bekanntschaft bis zu Kardinal Hans Hermann Groër an. Andere, namentlich Pater Bruno Schneider, malträtierten bevorzugt mit körperlicher Züchtigung, sei’s, dass ihm „die Hand ausrutschte“ oder man sich „die Watschen abholen“ musste, ein Vokabular, das man aus dem eigenen Elternhaus kennt und dessen verniedlichender Klang allein im Interesse der Täter ist.

Bild: pixabay.com

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Die von Haslinger entdeckte Tortur geht weiter, Stockhiebe aufs Hinterteil, die der Delinquent mitzählen musste, „Kopfnüsse“, Essen müssen bis zum Kotzen, der „Abendsport“, paramilitärischer Drill, bei dem der „Strick“, heißt: der unartig Gewesene, auf dem Gang bis zur Erschöpfung gequält wurden. Haslingers Eltern? Hatten ganz anno 1960er „Pater Bruno ermuntert, mich nicht zu schonen, wenn ich nicht pariere.“ Und apropos, Mutter: An einigen wenigen Stellen ergibt sich Haslinger dem anekdotenhaften Sarkasmus, von Pater Maurus Pornosammlung bis zu Beschimpfungs-eMails, am skurrilsten aber da, wo der bereits fürs Priesteramt angedachte Bauernbub von seiner Vertrautheit mit dem Sexualakt angibt.

Die Kuh wird zum Dorfbullen gebracht, die Sau zum Eber getrieben, im Auftrag des Gemeindepfarrers und in Hinblick auf des Sohnes Einschulung im Stift soll die tieffrömmige Mutter Haslinger dem Sprössling mittels katholischer Aufklärungsfibel den letzten Feinschliff verpassen. Es folgen Ausführungen über „die Perversion und Todsünde der Homosexualität“: „Ich fragte sie, ob der Hintern nicht zu eng sei.“ – „Sie sagte sinngemäß, homosexuelle Männer hätten einen langen, dünnen Penis.“ Was der Pepi glaubt, „bis Pater Gottfried mir anschaulich machte, dass ich einem Phantom aufgesessen war.“ ** Was ihn zur Frage kommen lässt, ob der Pfarrer über die Zisterzienser des Stiftes Zwettl wenn nicht etwas wusste, so doch mutmaßte.

Das Wissen liegt auf der Hand. Zu viele Täter sind still und heimlich von ihren „schulpädagogischen Aufgaben entbunden“ worden, zur Rechenschaft gezogen – keiner. Auf der Webseite der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft www.opfer-schutz.at findet sich ein vierstufiges Opferhilfsmodell, das „die Schwere, Dauer und Folgen der Übergriffe“ berücksichtigt. Bedeutet in Zahlen: € 5.000,- € 15.000,- € 25.000,- sowie: „Darüber hinaus gehende finanzielle Hilfestellungen in besonders extremen Einzelfällen“.

Josef Haslinger hat beschlossen, seine finanziellen Ansprüche geltend zu machen. Am 21. Jänner, rechtzeitig vor Erscheinen seines Buchs, wurde dem Schriftsteller von der Opferschutzkommission eine Entschädigung von 10.000 Euro zugesprochen, berichtet der ORF. Eine Entscheidung, die der Schriftsteller „zur Kenntnis“ nimmt: „Für die zweite Stufe bin ich wohl zu wenig traktiert worden“, wird er zitiert. In „Mein Fall“ ist zu lesen: „Heute sage ich mir, dass für jemanden, der die Klasnic-Kommission für nichts als eine Art moralische Reinwaschanstalt der katholischen Kirche hält, die Frage, wie viel sie zahlen, möglicherweise die einzig sinnvolle ist. Die Zahlungen sind eine Geste der Entschädigung fürs kollektive Wegschauen. Immerhin.“

Über den Autor: Josef Haslinger, 1955 im niederösterreichischen Zwettl geboren, wohnt in Wien und Leipzig. 1992 begründete Haslinger die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch mit, von 2013 bis 2017 war er Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1995 erschien sein Roman „Opernball“, 2000 „Das Vaterspiel“, 2006 „Zugvögel“, 2007 „Phi Phi Island“, wo er mit Ehefrau Edith und seinen Kindern Sophie und Elias den Tsunami erlebt hatte. Seine Romanbiografie des Eishockeytorwarts Bohumil Modrý, „Jáchymov“, erschien 2011. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln und den Rheingau Literatur Preis.

S. Fischer Verlag, Josef Haslinger: „Mein Fall“, 144 Seiten.

www.fischerverlage.de

** Der sexuelle Missbrauch von Kindern – Pädophilie – hängt stark mit Machtdemonstration, Schutzlosigkeit und Abhängigkeit zusammen und hat nichts mit Homosexualität zu tun. Der Prozentsatz homosexueller Täterinnen und Täter entspricht in etwa dem Anteil von Homosexuellen an der Gesamtbevölkerung. In Österreich definieren sich laut einer EU-weite Umfrage derzeit 6,8 Prozent der Frauen und 5,5 Prozent der Männer als schwul, lesbisch, bisexuell oder Transgender. Heterosexuelle Täterinnen und Täter sind also deutlich in der Mehrheit.

  1. 2. 2020

Liao Yiwu: Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand. Texte aus der chinesischen Wirklichkeit

Juli 7, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Vier Jahre Haft und Folter für ein Gedicht

„Am Vormittag des 5. Juni 1989, Ströme von Blut waren geflossen und die Luft knisterte, stellte er sich allein den Panzern entgegen – ein Niemand, ein Mann wie du und ich, stand in der Mitte des breiten Chang’an-Boulevards, vor sich mehr als 18 Panzer vom Typ 59. Der vorderste Panzer versuchte, an ihm vorbeizukommen, aber er wusste das zu verhindern, indem er hin und her sprang – und als die Panzer erneut vorrückten, stellte er sich ihnen erneut in den Weg …“

Mit der Erinnerung an dieses Foto, das um die Welt ging, westliche Journalisten, die aufgrund des verhängten Kriegsrechts im Beijing-Hotel festgehalten wurden, hatten den „Tank Man“ mit Teleobjektiven heimlich aufgenommen, beginnt Liao Yiwu sein jüngstes Buch „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand“, dem er den Untertitel „Texte aus der chinesischen Wirklichkeit“ gegeben hat und mit dem sich der Dichter, Dissident und Friedensaktivist einmal mehr gegen das in China staatlich verordnete Vergessen der Geschehnisse rund um das von der Volksbefreiungsarmee angerichtete Blutbad auf dem Tian’anmen-Platz stemmt.

Auch für Liao Yiwu bedeutete dieser 4. Juni vor dreißig Jahren eine grauenhafte Zäsur. Für „Massaker“, sein Protestgedicht im Gedenken an die Opfer (hier nachzulesen: www.amnesty.de/journal/2012/oktober/massaker), wurde er der „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe“ angeklagt; es folgten vier Jahre Haft und Folter. Erst 2011 gelang es Liao Yiwu aus China zu fliehen, seither lebt er in Berlin. „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand“ ist vielleicht Liao Yiwus verstörendstens Projekt wider jene Amnesie, die westliche Politik und Wirtschaft befällt, sobald Menschenrechte den Marktinteressen im Wege stehen.

So hat er etwa für das Kapitel „Aus dem Leben meiner Gefängnisbrüder“ Porträts seiner ehemaligen Mithäftlinge verfasst, Zeilen von einer Intensität und Heftigkeit, die schwer auszuhalten sind, wenn er von Denunziation, öffentlich abzuhaltender Selbst- und Kampfkritik und dem „kleinen, hundehüttenähnlichen Raum“ berichtet, in den „die Politischen“ oft für Monate gesperrt wurden. Er beschreibt deren Angst vor den Gewaltverbrechern, und wie die beiden Gruppen von den Wärtern gegeneinander ausgespielt wurden, „als die politischen Gefangenen einen Hungerstreik durchführten, wurden sie von einer zehnfachen Übermacht von Kriminellen umzingelt …“.

Er erzählt vom „Tierbändiger“ genannten Chen Yunfei, der sich lieber prügeln ließ, „bis seine Schnauze  geschwollen war wie ein Schweinerüssel“, als klein beizugeben, von Hou Duoshu, der eine 80 Kilo schwere Fußfessel tragen musste, weil er in der Bibel las, schildert unfassbare Methoden, einen Menschen zu brechen, Hocken unter einem Stacheldrahtnetz, Tod durch Arbeit, sieht Männer bei lebendigem Leib verfaulen – und die häufigste Sterbeursache hinter Gittern: Krebs.

Bild: pixabay.com

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Dass der Westen vieles wusste, aber wenig tat, erschließt sich auf bestürzende Weise im Kapitel „Die letzten Augenblicke im Leben Liu Xiaobos“, der todkranke Literaturnobelpreisträger (Leberkrebs), für dessen Enthaftung und Ausreise nach Deutschland Liao Yiwu alle Hebel in Bewegung setzte, heißt: seine Schriftstellerkollegen Herta Müller und Wolf Biermann, Harry Goldstein, Peter Sillem, selbst Joachim Gauck und Angela Merkel. Ein brisanter Briefwechsel, der Liu Xiaobo zwar nicht mehr retten konnte, er starb am 13. Juli 2017, immerhin aber seiner gesundheitlich ebenfalls schwer angeschlagenen Witwe Liu Xia den Weg in die Freiheit ebnete.

Das Buch schließt mit Briefen und Gedichten, die Liao Yiwu im Untersuchungsgefängnis von Chongqing-Stadt gekritzelt hat – mit Bambussplittern und einer violetten medizinischen Tinktur. Die Wolken, ach, brennende Bananenblätter, / die sich schrecklich rollen! / Die Felsen eine Herde hungriger Löwen, Sterne, / die Steinen von der Zungenspitze schnellen / Der Mond, ach, der kreischende Affe, / der über den Horizont springt / und haarige Strahlen schickt / Starr umklammere ich die Finger des Abends …“, liest sich eines mit dem Titel „Die Sonne, dieser Löwe einer elektrischen Entladung, sticht in die geheimen Akupunkturpunkte der Erde“. – „Ich habe wegen meines Geschmiers schon jede Menge Unannehmlichkeiten gehabt“, schreibt er am 30. 7. 1991 an seine „liebe Niaoyu“. „Ich trage das Brandzeichen eines Elektroknüppels auf der Zunge, mir wurden die Hände auf den Rücken gebunden, ich wurde zur Strafe der Sonne ausgesetzt, musste zur Strafe singen, musste zur Strafe auf nassem Boden schlafen, ganz zu schweigen von den Tritten und Faustschlägen, die ich abbekam.“

„Ich war in diesem Sarg über zwei Jahre lebendig begraben und habe es überstanden“, so Liao Yiwu. „Herr Wang“, im britischen Sunday Express erschien eines Tages der Name des 19-jährigen Studenten Wang Weilin für den „Tank Man“, wurde von drei Geheimdienstagenten vom Chang’an-Boulevard samt seinen beiden Einkaufstaschen entfernt. Es wird angenommen, dass er in aller Stille exekutiert wurde, obwohl die chinesische Staatsspitze dies entschieden dementiert. In einer schöneren Fassung der Geschichte soll Wang Weilin nach einer mysteriösen Überfahrt in Taiwan gesehen worden sein, wo er angeblich als Archäologe arbeitet. Wer weiß? Vielleicht schreibt Liao Yiwu nach all seinen Zeitzeugenberichten darüber einmal einen romantischen Roman.

Über den Autor: Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht „Massaker“, wofür er für vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis „Freiheit zum Schreiben“ ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. 2011, als „Für ein Lied und hundert Lieder“ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. 2012 erschien „Die Kugel und das Opium“, 2013 „Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“ sowie 2014 „Gott ist rot“. Liao Yiwu wurde unter anderem mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

S. Fischer, Liao Yiwu: „Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand. Texte aus der chinesischen Wirklichkeit“, 144 Seiten. Übersetzt aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann.

www.fischerverlage.de

7. 7. 2019

László Krasznahorkai: Baron Wenckheims Rückkehr

Februar 7, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Besuch des alten Herrn

Angesichts der Aufgabe nur keine Angst zeigen. Auch wenn die Kritikerrunde um Raoul Schrott, der den Roman im SRF-Literaturclub euphorisch vorstellte, von nicht zum Derlesen sprach. Der erste Satz geht über sechs Seiten, ohne Absatz, ohne Punkt, zwar mit Komma, ein Vorspiel zum Wahnsinn. Eine „Warnung“, so die Überschrift unter der ein blasierter Impresario seine Herren Musici gleichsam abkanzelt und zu höchster Detailgenauigkeit auffordert. Nichts dürfe ihm verschwiegen, alles müsse ihm erzählt werden. Schon wird klar, hier maßregelt der Autor seine erst zu erschaffenden Geschöpfe, nimmt an die Kandare, was er über die kommenden fast 500 Seiten ohnedies frei galoppieren lassen wird.

Um die Spannung abzukürzen: Raoul Schrott hat recht mit seiner Begeisterung. „Baron Wenckheims Rückkehr“ vom ungarischen Schriftsteller László Krasznahorkai entwickelt einen Sog, dem man sich bald nicht mehr entziehen kann, die schöne, elaborierte Prosa zieht einen in ihren Bann, die Sprache, seltsam altertümlich, obwohl die Geschichte zweifellos in der Jetztzeit angesiedelt ist, mäandert durch die Geschehnisse. Die Rede ist eine indirekte, Beiseitegesprochenes und Vor-sich-hin-Gedachtes.

Krasznahorkai wechselt ohne alle Rücksicht mitten in den Sätzen und mehrmals Perspektive und Erzählposition. Nur da jeder Charakter seine eigene Ausdrucksweise hat, entschlüsselt sich allmählich wer spricht, und wenn auf Seite 95 erstmalig das Wort „naturgemäß“ fällt, weiß man, in wessen Verwandtschaft man sich befindet. Apropos, Verwandtschaft: Diese, eine Wienerische, hat es mit dem Protagonisten des Buchs nicht leicht. Sie musste Baron Béla Wenckheim, einem steinalten, österreichisch-ungarischen Kleinadeligen, Namensvetter des Ministerpräsidenten von 1875, was die „Rückkehr“ irgendwie doppeldeutig macht, bei der Flucht aus seiner Wahlheimat Argentinien helfen. Casino-Schulden, diesen Skandal, auf den bereits Gefängnis drohte, wollte der Familienkreis nicht hinnehmen – und so wird der Baron eingeflogen, ein spindeldürrer, kauziger, verschüchterter, wohlerzogener Mann, bettelarm, ergo vom markigen Clanchef mit bester Garderobe und etwas Geld ausstaffiert, und in den nächsten Zug nach Ungarn gesetzt. Wo es von Vorvätern noch ein Schloss geben soll.

Bild: pixabay.com

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„… es tue ihm unendlich leid, so viele Ungelegenheiten bereitet zu haben, obwohl er gerade das, Ungelegenheiten bereiten, gerade ihnen, keinesfalls wolle, sagte er mit gesenktem Kopf, er bitte nur um eines, man möge ihn keinesfalls berühren, wenn man ihm Maß nehme, er wisse, dass er ihnen damit die Sache erschwere, aber er ertrage es leider nicht, habe es nie ertragen, weder in der Kindheit noch jetzt, da er, in Ordnung, sagte der Sekretär lächelnd, er würde mit Mr. O’Donoghue reden und mit ihm besprechen, wie er Maß nehmen solle, völlig unmöglich, rief der Schneider erzürnt aus, als sie dann anfingen und er beim ersten Maßnehmen aus Versehen den Nacken des Barons berührte …“, so liest sich beispielsweise die vergleichsweise noch überschaubare Stelle über die Kleideranprobe. Ein Beispiel, das belegt, dass „Kapellmeister“ Krasznahorkai nicht nur über eine hohe Sprachmusikalität verfügt, sondern auch ein Händchen für scharfsinnige Satire hat. Zum ersten Mal, möchte man sagen, ist der Meister witzig.

Dieser Witz findet einen Gipfelpunkt in der grandios grotesken Szene der Ankunft des Barons in seinem Geburtsstädtchen. Den Medien nämlich ist die Reise Wenckheims nicht unentdeckt geblieben, in diversen Schundblättern wird der Mensch zum Mythos und, weil man’s glauben will, glaubt alles die Story vom schwerreichen Südamerikaner, der seiner Heimat eine Schenkung machen will. Der Besuch des alten Herrn, sozusagen, doch ohne die Öl-Milliarden. Am festlich beflaggten Bahnhof steht aufgereiht ein Ort, vom Bürgermeister abwärts, Polizeihauptmann in Habtachtstellung, Gymnasiumsdirektor, ein Frauenchor aus überforderten Bäuerinnen, der gegen den Lärm der Menge vergeblich „Wein nicht um mich, Argentinien“ brüllt.

Die Gemeinde braucht Geld wie ein Erstickender Sauerstoff, deswegen hat deren Oberhaupt schon vorab die Waisenkinder und die Obdachlosen vertrieben und möglichen kritischen Stimmen den Mund verboten, „denn das hier ist, dem Himmel sei Dank, keine ,Demokratie‘ mehr, … das hier ist ein Besitztum, dessen Herr nach so vielen Jahrzehnten … endlich wiedergekommen ist.“ Krasznahorkai zeichnet die Kleinstädter als hinterfotzige Hinterwäldler, eine brutale, durch und durch korrupte Bande, in der jeder seine eigenen Ziele verfolgt. Doch weil die glanzvolle Zukunft lang und länger auf sich warten lässt, wird aus dem warmen Empfang eine eiskalte Atmosphäre der Vermutungen, Verdächtigungen, Vernaderung, des latent und am Ende des akut Bedrohlichen.

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Gleich den Stimmen einer Partitur lässt Krasznahorkai einzelne Figuren erst für sich stehen, bevor er deren Klang zu einem Ganzen fügt. Rund um Wenckheim gibt es eine Vielzahl eigentümlicher Episoden, von denen etliche im Nichts verebben, ebenso wie Krasznahorkai Charaktere, so plötzlich wie er sie eingeführt hat, auch wieder fallen lässt. In seinem Panoptikum an zynischen, weltverlorenen, gescheiterten, in ihrem Schicksal unentrinnbar verstrickten Gestalten sind wenige sympathisch. Ans Herz wächst einem maximal Wenckheims Jugendliebe Marika, die er schlichtweg nicht wiedererkennt, sondern der er, mit der Bitte um Hilfe bei der Suche, ihr eigenes Jugendfoto zeigt. Womit er die einsame, resignierte Frau, der er vorher aus der Ferne glühende Liebesbriefe geschickt hatte, aufs Tiefste demütigt. Was sich so tragi- wie -komisch liest.

Zum Personal des Romans gehören außerdem ein zivilisationsflüchtiger Professor, der in einem Outlaw-Viertel, genannt „der Dornbusch“, vor sich hin vegetiert, eine faschistoide Motorradgang, Schlägertypen in Lederkluft, die sich als „Ortswache“ ausgeben, ein sich selbst zu diesem ernennender Sekretär Wenckheims, das geschwätzige Schlitzohr Dante, getauft nach dem brasilianischen Fußballgott, nicht nach dem Dichter der Divina Commedia, sowie unsichtbare Insassen eines Konvois dunkelscheibiger Limousinen. Mit ihrem Erscheinen wird die Farce über den schweigsamen Baron zunehmend schwärzer. Der Dornbusch muss natürlich ein brennender werden, sich darin eine zerschossene Leiche finden, und auch mit Wenckheim endet’s im Fiasko. Mag sein, dass der Schöpfer des „Satanstango“, so heißt Krasznahorkais bekanntestes und auch verfilmtes Buch, am Ende den Teufel persönlich schickt.

So kann man sie deuten, diese sich jeder Deutung entziehende Zeitgeschichtsparabel, die ohne Frage vom heutigen Ungarn handelt (wieder über sechs Seiten geht ein „anonym verfasster Artikel“, eine Beschimpfung, die ihresgleichen sucht, in der sogar verlangt wird, das DNS-Molekül, welches die Ungarn ausbilde, solle sich zurücknehmen), von einem jener geisterhaft toten Winkel Europas, in dem die Gespenster der Geschichte als Wiedergänger aus den Gräbern steigen. Dazu gilt es, aufmerksam die Kapitelüberschriften zu lesen, sie lauten aneinandergereiht: TRRR / RAM / PAM / PAM / PAM / HMMM / RARIRA / RI / ROM … Das klingt nach Trauermarsch. Nach Tanzmusik auf dem Vulkan. Nach allgegenwärtiger Kakophonie von Chaos und Gewalt. Zuletzt folgen Notensammlung, Tanzkarte und ein sich für Auskenner aufs Gesamtwerk beziehendes Da capo al fine. Fabelhaft, was László Krasznahorkai da wieder komponiert hat.

Über den Autor: László Krasznahorkai wurde 1954 in Gyula in Ungarn geboren. 1993 erhielt er für „Melancholie des Widerstands“ den Preis der SWR-Bestenliste. 1996 war er Gast des Wissenschaftskollegs Berlin. Béla Tarr verfilmte unter anderem „Satanstango“ und „Melancholie des Widerstands“ unter dem Titel „Werckmeisters Harmonien“. Zuletzt erschienen „Krieg und Krieg“ und „Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss“. „Seiobo auf Erden“ wurde 2010 mit dem Brücke-Berlin-Preis sowie dem Spycher Literaturpreis Leuk ausgezeichnet. 2014 wurde Krasznahorkai der Vilenica International Literary Prize und der America Award zuerkannt, 2013 und 2014 der Best Translated Book Award. 2015 erhielt er den Man Booker International Prize.

S. Fischer, László Krasznahorkai: „Baron Wenckheims Rückkehr“, Roman, 496 Seiten. Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.

www.fischerverlage.de           www.krasznahorkai.hu

  1. 2. 2019

Christina Dalcher: Vox

September 2, 2018 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein fast feministischer Science-Fiction-Thriller

Wenn es ein Wesenszug der Science Fiction ist, Zeiterscheinungen aufzunehmen und als mögliche Zukunftsvision zuzuspitzen, dann ist der amerikanischen Autorin Christina Dalcher mit ihrem Debütroman „Vox“ eine düster-bedrohliche Dystopie gelungen. Höchst aktuell berichtet Dalcher davon, wie schnell rechter Fundamentalismus zu gesellschaftlicher Repression führt, wie fragil Demokratie ist, und wie dünn der Firnis der Zivilisation. Dies alles nicht in einem zwielichtigen Land, sondern in den USA. Unweigerlich an die #MeToo-Enthüllungen muss man denken, an die frauenverachtenden Äußerungen von Donald Trump, an den hierzulande gerade eingeführten 12-Stunden-Arbeitstag, liest man Dalchers Buch.

Sie lässt eine Ich-Erzählerin, Jean, von den jüngsten Entwicklungen berichten. Die sehen so aus, dass Frauen nur noch das Aussprechen von 100 Wörtern pro Tag erlaubt ist. Ein Wortzähler am Handgelenk übernimmt die Überwachung, ab Wort 101 sendet das „Armband“ Stromschläge aus, die von Mal zu Mal heftiger werden – einer Nachbarin wird so der halbe Unterarm weggekokelt. Bücher sind für den alleinigen Gebrauch von Männern weggesperrt. Für Frauen gibt es weder E-Mail-Konto noch Handy.

Unterrichtsgegenstände für Töchter sind Hauswirtschaftslehre und Haushaltsbuchführung. Der heterosexuelle Weiße hat das Sagen, alles Weibliche ist aus dem öffentlichen Leben verbannt. „All meine Wörter wirbeln in meinem Kopf herum, kommen als schwerer, sinnloser Seufzer aus meiner Kehle heraus. Und ich kann nur an Jackies (Jeans Freundin und Frauenrechtskämpferin, Anm.) letzte Worte denken. Denk darüber nach, was du tun musst, um frei zu bleiben“, so Jean. Ausgegangen ist dieser Wahnsinn vom „Bible Belt“ in den Südstaaten, der Führer der gar nicht mehr freien Welt ist allerdings kein Polterer wie der derzeitige, sondern verfolgt seine Pläne mit kaltem Kalkül – instruiert und manipuliert von einem verschlagenen Fernsehprediger. „Make America Moral Again“ ist das Motto der sich selbst „die Reinen“ Nennenden, und die Frau selbstverständlich Schuld an ihrer Vergewaltigung, Fettleibigket, Schulschießereien, Erektionsstörungen …

Mitten in der Ausweglosigkeit widerfährt Vierfach-Mutter Jean Sonderbares. Der Bruder des Präsidenten, so wird ihr gesagt, leidet nach einem Unfall am Wernicke-Syndrom, heißt: einem Ausfall des Sprachzentrums im Gehirn, und die ehemalige Neurowissenschaftlerin soll’s richten. Während ihr ältester Sohn sich den Reinen anschließt und zum Denunzianten wird, während der Waschlappen-Ehemann nichts ist außer hilflos überfordert, macht Jean nicht nur brisante Entdeckungen, sondern auch die Bekanntschaft mit einer Widerstandsbewegung, deren Anführer der Postbote Del und seine schwarze Frau Sharon sind. Und auch in den Kellergeschossen des Geheimgebäudes, in denen Jean an einem Serum forscht, kommt Rettung von unerwarteter Seite.

„Vox“, diese Parabel auf totalitäre Regime, ist ein durchaus spannender Pageturner. Allerdings hat Dalchers Erstling auch einige Schwächen. Als da wären die Figur von Jeans Liebhaber Lorenzo, einem italienischen so wissenschaftlich versiertem wie virilem Helden, mit dessen Kind sie schwanger geht – und dessen mannhafte Hilfe die in seiner Gegenwart gar nicht mehr emanzipatorisch eingestellte Protagonistin in jeder Lebenslage braucht. Oder – Achtung: Spoiler! – die in einem James-Bond-Film besser aufgehobene Schurkerei, nach der das Weiße Haus nicht weniger plant, als das Serum, in sein Gegenteil verwandelt, als Biowaffe gegen Europa einzusetzen, und dessen Bevölkerung zu stammelnden Zombies zu machen. So lässt einen, was als Protestschrei gegen das Patriachat beginnt, am Ende manchmal auch leise aufseufzen.

Über die Autorin: Christina Dalcher pendelt zwischen den Südstaaten und Neapel. Die gebürtige Amerikanerin, zu deren Helden Stephen King und Carl Sagan zählen, promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Ihre Kurzgeschichten und Flash Fiction erschienen weltweit in Magazinen und Zeitschriften, unter anderem wurde sie für den Pushcart Prize nominiert. „Vox“ ist ihr Debütroman.

S. Fischer Verlage, Christina Dalcher: „Vox“, Roman, 400 Seiten. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol und Susanne Aeckerle.

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  1. 9. 2018