Theater in der Josefstadt: Radetzkymarsch

Mai 17, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die papierene Welt wird in der Luft zerrissen

Freunde im Feld: Florian Teichtmeister als Carl Joseph von Trotta und Alexander Absenger als Rittmeister Tattenbach. Bild: Moritz Schell

Dass man am Dramatisierungsversuch des Joseph-Roth-Romans „Radetzkymarsch“ nur in mal mehr, mal weniger Schönheit scheitern kann, haben schon andere bewiesen. Nun darf sich auch Regisseur Elmar Goerden in diese Riege durchaus illustrer Namen reihen, sein Zugriff auf den Stoff vom Theater in der Josefstadt stolz Uraufführung genannt und gestern ebendort über die Bühne gegangen, seine Inszenierung ein knapp zweistündiges Experiment.

Das lediglich an der Oberfläche des monumentalen Wunderwerks kratzt, aber nie wirklich unter die Haut geht. Was der Aufführung fehlt, ist diese gewisse Tanz-auf-dem-Vulkan-Atmosphäre, mittels der sich Untergang der Habsburger Monarchie und Niedergang der Trotta-Dynastie mischen, wenig weist hier auf den Seelenzwiespalt von dekadenter Lebensführung, Standesdünkel und devoter Pflichterfüllung hin, die der besseren k.u.k.-Gesellschaft schließlich zum Schicksal wurde. Nichts verweist ins Heute, da ein neuer Nationalismus die Länder Europas wie dereinst im Vielvölkerstaat gerade wieder auseinandertreibt.

Goerdens Arbeit ist, wiewohl Carl Joseph von Trotta dem Trunke ja nicht abgeneigt ist, allzu nüchtern. Florian Teichtmeister, den Hausherr Herbert Föttinger bei der Premierenfeier Richtung Burgtheater verabschiedete, zeigt ihn nicht als sensiblen, weichen Charakter, sondern von Beginn weg resignativ, müde, ohne Hoffnung auf ein – in jeder Bedeutung des Wortes – Fortkommen.

Peter Scholz, hier als Kapturak, mit Florian Teichtmeister und Alexander Absenger. Bild: Moritz Schell

Joseph Lorenz als Bezirkshauptmann Franz von Trotta und Florian Teichtmeister. Bild: Moritz Schell

Das mag daran liegen, dass ihm eine schwarzgewandete Parze gleich zu Anfang sein Ende vorhersagt, den tödlichen Treffer beim Wagnis, für seine Kameraden Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Der Gedanke tut sich auf, ob das Ganze so etwas wie Carl Josephs Albtraum ist, dem er erstaunt zusieht, während ihn die Geister seiner Vergangenheit heimsuchen. Andrea Jonasson gibt die hier androgyn schillernde Figur des Grafen Chojnicki als eine Art mephistophelischen Conférencier, ein Chacun à son Goût umlächelt ihre Lippen, doch wie das Gros der Darsteller wechselt sie zwischen Erzählstimme und ihrer Rolle, beides in ausschließlich Originaltext.

Und in einem Tempo, das so rasch von der Totalen ins tiefste Innere der Figuren zoomt und wieder zurückschnellt, dass einem schwindlig werden könnte. Das ist einer der gelungenen Einfälle Goerdens, wenn auch nicht nagelneu, um die Diskrepanz zwischen Gedachtem und Gesagten zu verdeutlichen. So kommt‘s beispielsweise in einer Abschiedsszene zwischen Bezirkshauptmann und Leutnant Trotta aus dem Off: „Obwohl er sagen wollte: Ich liebe dich, mein Sohn!, sagte er lediglich: Halt dich gut.“

Andrea Jonasson als Graf Chojnicki. Bild: Moritz Schell

In diversen Rollen: Pauline Knof, Alexander Absenger, Alexandra Krismer, Michael König und Oliver Rosskopf. Bild: Moritz Schell

Diesen Franz von Trotta stattet Joseph Lorenz als erstem Leidenden am Mythos des Helden von Solferino mit steifer Oberlippe aus, seine Kaisertreue ist das verkrustete Korsett, das ihm die Atemluft aus dem Körper presst, und Lorenz, ein Meister in der Gestaltung des Altösterreichischen, gelingt es, diese Haltung zu wahren, obwohl er in der schnellen Szenenabfolge de facto nicht viel zum Spielen kommt. Mit Jonasson, Teichtmeister und Lorenz hat es sich auch schon mit der Ausführung nur einer Figur, andere stemmen bis zu fünf Rollen.

Michael König etwa alle Alten, vom verwichenen Stammvater Trotta, der sich per Blick durch seinen Gemälderahmen bemerkbar macht, bis zum sterbenden Diener Jacques, der ihm allerdings zur Nachthemd-Karikatur gerät. Gelungen dafür, apropos: Nachthemd, sein Sekundenauftritt als Kaiser Franz Joseph, den der König nicht als senilen Herrscher zeigt, sondern als einen, der in diskreter Audienz mit Trotta-Lorenz die Angelegenheiten für Trotta-Teichtmeister regelt. Nicht viel mehr als vorbeihuschen auch Pauline Knof als die Geliebten Katharina Slama und Eva Demant, mit beide Mal letalem Ausgang.

Und Alexandra Krismer, die Carl Josephs Nummer drei, Valerie von Taußig, wenigstens etwas groteske Exaltiertheit anzuhaften vermag. Mit Alexander Absenger und Oliver Rosskopf ist sie auch auf diverse Offiziere abonniert, wobei das Trio das militärische Personal in unterschiedlichen Schattierungen von schrill anlegt. Peter Scholz ist erst der jüdische Regimentsarzt Doktor Max Demant, dann Kasinobetreiber Kapturak, bleibt aber in Goerdens Versuchsanordnung in beiden Rollen blass.

Zum papierenen Gesamteindruck passt das Setting von Silvia Merlo und Ulf Stengl, ein mit dem empfindlichen Material ausgekleidetes Gerüst, Stelen einer steril-weißen Welt, die mit Ausbruch des Krieges vom Ensemble in der Luft zerrissen wird. Als wär’s das Synonym einer strahlenden Fassade, die längst am seidenen Faden hing. Immerhin: Ein stimmiges Schlussbild für einen Abend, der den Weitblick in den Abgrund zwar verweigert, aber vom Publikum mit freundlichem Applaus bedankt wurde.

www.josefstadt.org

  1. 5. 2019

Burgtheater: Hiob

Februar 25, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

… denn wir sind von gestern her und wissen nichts …

Herr, du schufst den Löwen und das Lamm: Peter Simonischek ist Mendel Singer. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Als Schallplatte im Kopf läuft ständig dieses „Widiwidiwidi widiwidiwidi bum!“, was nicht verwunderlich ist, wandelt sich Mendel Singers „schreckliches Lied“ in der Regie von Christian Stückl doch zur klischeebehafteten Anatevka-Angelegenheit. Das Burgtheater hat den Oberammergauer Passionsspielleiter eingeladen, am Haus Joseph Roths Roman „Hiob“ auf die Bühne zu heben, und der Mann fürs Grob-Religiöse greift dermaßen in die Vollen, von Schläfenlocken über Kippa bis Tallit Katan, dass die Frage nicht ist, ob das sein muss, sondern, ob diese Karikatur ostjüdischen Lebens schlechterdings sein darf.

Dass ihm zur Textfassung von Koen Tachelet, die man in Wien schon inszeniert von Johan Simons bei den Wiener Festwochen und Michael Sturminger am Volkstheater gesehen hat, zu diesem so zeitlosen wie schon wieder an der Zeit-igen Weggehen-Müssen und nirgends mehr Ankommen-Können, nichts nennenswert Neues eingefallen ist, ist sträflich. In Stückls archaischer Aufführung suchen Spitzenkräfte der Burg nach ihrer Position, sie ist weder Archetyp noch Menschenwesen, sondern bestenfalls Schablone, holzschnittartig, geritzt mit je einer Eigenschaft.

Derart freilich ist einem Roth, der mit seinem mit Gott hadernden Thoralehrer eine der bewegendsten Figur der österreichischen Literaturgeschichte geschaffen hat, nicht beizukommen. Selbst, wenn ein Ausnahmeschauspieler wie Peter Simonischek all sein Herzblut in seine Rolle steckt – und dafür vom Publikum mit entsprechendem Applaus bedankt wird. Simonischeks Mendel Singer steht von Anbeginn in den Wogen des Schicksals, die Ausstatter Stefan Hageneier als Setting entworfen hat, hinten schon der für die einen Verheißungsschriftzug, für die anderen The Writing On The Wall – „AMERICA“, vorne der offenbar unvermeidliche Kofferhaufen der Diaspora; die Musik von Tom Wörndl natürlich Klezmer-Klänge mit klagender Klarinette. Und er betet, der selbstgerechte Rechtgläubige, memoriert die Heilige Schrift, während sich hinter ihm sein bevorstehender Exodus schon ankündigt. Ein Zeichen der Widduj, ein Schlagen auf die Brust, ein Emporrecken der Arme, ein wenig Schockeln im Takt der Psalmen – Stückl lässt auch punkto Bewegungsmuster kaum eine konnotierte Geste aus.

In einer erschreckenden Szene wollen die Geschwister Menuchim ertränken: Tino Hillebrand mit Stefanie Dvorak, Oleg Tikhomirov und Christoph Radakovits. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

In God’s Own Country wird gern getanzt: Regina Fritsch, Stefanie Dvorak, Oleg Tikhomirov und Christoph Radakovits. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Immerhin, Simonischek rettet seinen Mendel vorm Unerträglich-Sein, indem er aus ihm einen Unerträglichen macht, einen grantigen, gottergebenen, anderen gegenüber süffisanten Mann, dem man keiner Familie als Vater wünscht, später, von Amerika „zerschmettert“, irregeleitet in dem Hochmut, anzunehmen, er sei der einzige, den der Herr straft – und im nunmehrigen Unglauben so eifrig wie davor im Glauben, so dass er seinen persönlichen Messias gar nicht zu erkennen vermag.

Einiges hätte sich daraus zum Thema Fundamentalismus herleiten, hätte sich über Vaterland und Muttersprache oder übers Verhaftet-Bleiben im Altherbrachten sagen lassen, der Dramaturg Florian Hirsch schreibt im Programmheft unter dem Titel „Losing My Religion“ auch lesenswert über „Heimatverlust und Flucht, uferlose Einsamkeit und die vergebliche Suche nach Aufklärung über die letzten Dinge“, aber ach …

Rund um Simonischek hat man sich aufs Hersagen der Sätze als wären’s Bibelverse verlegt. Regina Fritsch gibt Mendels Frau Deborah als knarzige Alte mit Glasscherbenstimme, zänkisch aus Verzweiflung, Stephanie Dvorak die Tochter Mirjam als personifizierte Hysterie.

Deren psychischer Zusammenbruch schließlich gar nicht mehr verwundert. Christoph Radakovits und Oleg Tikhomirov sind als Söhne Schemarjah und Jonas beziehungsweise Amerikaner Mac – und Stückl hat hier weder auf Cowboystiefel noch Stetson vergessen – anwesend, Hans Dieter Knebel, Peter Matić und Stefan Wieland als diverses Volk und Freunde nicht einmal das. So bleibt es Tino Hillebrand als Menuchim überlassen, sich in Charaktergestaltung zu versuchen. Er tut es mit einigem Geschick, wie eine Puppe, die sich von den Mitspielern bewegen lässt, ein Sprachberaubter, der zu den Seelenverwerfungen der anderen nicht mehr als zucken kann.

Ausdrucksstarkes Spiel: Tino Hillebrand als Menuchim mit Regina Fritsch als Deborah. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Mendel Singer schwört mit brennendem Eifer Gott ab: Peter Simonischek. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Es ist eine von drei nennenswerten Szenen, wenn Hillebrands Menuchim, als „Krüppel“ nicht in God’s Own Country gelassen, geheilt und zum berühmten Komponisten geworden, den Vater aufsucht – und statt Wiedersehensfreude die Distanz der Jahre, der Geschehnisse, der Kontinente zwischen den beiden steht, so dass man sich nicht einmal zu umarmen weiß. Auch am zweiten starken Bild hat Hillebrand Anteil, unerwartet und schockierend, als die Geschwister den behinderten Bruder ertränken wollen. Und schließlich Simonischek in einem Moment der Heiterkeit, wie er im Neuen Jerusalem – New York kurz à la Satchmo singt.

Joseph Roth schrieb seinen „Hiob“ 1929 in Paris, wo er sich zehn Jahre später zu Tode getrunken hatte. Und wenn er in seiner unsentimental-sublimen Sprache über bevorstehende Pogrome und Soldatenschrecken schreibt, dann hat der Pazifist, Moralist, Antifaschist die Zukunft Europas gewohnt luzide vorweggenommen. Von diesem Geist ist an der Burg kaum etwas zu spüren. Bleibt zum bitteren Ende, das Buch Hiob zu zitieren: „… denn wir sind von gestern her und wissen nichts …“

www.burgtheater.at

  1. 2. 2019

Akademietheater: Rosa oder Die barmherzige Erde

März 11, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Tobias Moretti beeindruckt als Romeo in Alterswindeln

Susanna Ernst, Waltraud Hackinger, Tobias Moretti und Marta Kizyma. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Es kann am Theater einen eigenen Zauber entfalten, wenn Rätsel offen bleiben, wenn nicht jede Leerstelle besetzt wird und Texte nicht bis zu ihrem Ende durchdekliniert werden. Auf diesen Zauber setzt Luk Perceval bei seiner Inszenierung von „Rosa oder Die barmherzige Erde“. Eine Uraufführung am Akademietheater, für die der 60 Jahre alte Burgdebütant Shakespeares „Romeo und Julia“ und Dimitri Verhulsts Roman „Der Bibliothekar, der lieber dement war, als zu Hause bei seiner Frau“ ineinander verschränkt hat. Das Resultat dieser Bemühungen ist ein ungemein spannender und unheimlich anstrengender Abend mit einem herausragenden Tobias Moretti als Bibliothekar Désiré/Romeo.

Somnambul ist das Wort, das einem zu dessen Darstellung einfällt. Wie geistesabwesend steht Moretti auf der Bühne, und ist doch ganz bei sich, stemmt den hundertminütigen Kraftakt quasi im Alleingang, denn die Mitschauspieler auf der Bühne sind kaum mehr als Staffage, um die Story über die Rampe zu bringen. Deren Inhalt nach Verhulst: Désiré ist ein Mann Mitte der 70, der sein Leben an der Seite seiner Frau so satt hat, dass er beschließt, den Demenzkranken zu geben und sich in eine

entsprechende Einrichtung einweisen zu lassen. Hier möchte er seine letzten Lebensjahre ohne Gezänk verbringen. Doch trifft er auf seine tatsächlich an Alzheimer erkrankte unerfüllt gebliebene Jugendliebe. Und hier nun Perceval – seine „Julia“, deren stilles Verlöschen ihn verzweifeln lässt. Aus Désiré wird Romeo, Pastor, Pfleger und Schwestern werden als Lorenzo, Benvolio oder Mercutio zu Stichwortgebern, und es ist nun Percevals Aufgabe, die viele Parallelen im Verhulst’schen Text zu Shakespeare zu ent- und aufzudecken. Von der Balkonszene bis zum Doppeltod. Denn Désiré wird nach dem Sterben Julias nicht mehr weiterleben wollen und sich in die Tiefe stürzen …

Für all das hat Katrin Brack ein Odeon erdacht, eine runde, sich drehende Spielstätte und eine Tribüne aus Sitzbänken, auf denen der Vergissmeinnicht-Chor, Damen zwischen 85 und 95, Platz genommen haben. Davor Moretti. Mal via Lautsprecher verstärkt, über den auch Geräusche wie ein beständig irres Frauenkichern eingespielt werden, mal ein Wispern von Liebe und Tod, die Stimmung seltsam bodenlos, mal resignativ, mal stockend-zögerlich, mal unflätig und wütend. Sein Désiré gibt die Demenz, scheint’s, nicht vor, er ist wirklich von ihr angekränkelt. Und dann wieder lichte Momente, wenn die Anverwandten, ob seiner Begriffstutzigkeit jede Hoffnung aufgebend, abtreten und er zu verstehen gibt, er hätte genau gewusst, was die wollten. Und genauso wie als Bibliothekar beeindruckt Moretti als Romeo in Alterswindeln.

Sabine Haupt und Tobias Moretti. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Sabine Haupt, Gertraud Jesserer und Tobias Moretti. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

In einer der eindrücklichsten Szenen wird er vom Chor gerufen. „Papa!“ Immer mehr Stimmen, immer lautere, da versteht man, dass da ein Mensch unter  jahrelanger Verantwortung zusammenbrach, versteht, dass nicht mehr ging, was andere von ihm erwarteten, und ergo der Rückzug erfolgen musste. Nicht zur Kenntnis nehmen wollen/können das Sabine Haupt als Tochter Charlotte – eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs – und Gertraud Jesserer mit Tremolostimme als Ehefrau Moniek. Sylvie Rohrer, Daniel Jesch, Marta Kizyma und Stefan Wieland fungieren als Hauptschwester, Pfleger und Pastor und als Shakespeare-Personal. Mariia Shulga ist eine anrührende Rosa.

Sie umrahmen das zähflüssige Spiel vom Sterben des alten Mannes, das sich mehr als Stimmung, denn in Klarheit erschließt. Zu denken gibt immerhin, dass hier einer am Ende den Prototyp jugendlicher Lebens- und Liebesgier gibt, das macht grübeln über verpasste Chancen und verflossene Gelegenheiten … Am Ende gab es Jubel für alle, allen voran Tobias Moretti, der einmal mehr bewies, dass man nicht nur beim Film, sondern auch auf der Bühne auf ihn zählen kann.

www.burgtheater.at

  1. 3. 2018

Landestheater NÖ: Die Flucht ohne Ende

Januar 21, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Auf der Suche nach der europäischen Identität

Gespielt wird tatsächlich auf engstem Raum: Michael Scherff, Josephine Bloéb und Tobias Artner. Bild: Alexi Pelekanos

Dass er auch ein Meister der kleinen Form ist, heißt: im intimen Spielraum mit bewusst sparsamen Mitteln, beweist Regisseur Felix Hafner am Landestheater Niederösterreich. In der Theaterwerkstatt zeigt er seine fabelhafte Fassung von Joseph Roths Roman „Die Flucht ohne Ende“. 1927 ist dieses Werk entstanden, in dem Roth seinen Protagonisten Franz Tunda auf eine Reise durch halb Europa schickt.

Die abenteuerliche Odyssee des k.u.k.-österreichischen Oberleutnants beginnt mit seiner Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft und führt ihn über Irkutsk und Moskau, über Baku und ein Städtchen am Rhein bis schließlich nach Wien und Paris. Auf seinem Weg wird er sich nicht nur bei einem polnisch-stämmigen Bauern verdingen und Kinobetreiber werden, sondern sich auch der russischen Revolution angeschlossen und mit sogenannten Verstandesmenschen abgerechnet haben.

Frauen kreuzen seinen Weg, Natascha, Alja, Madame G. Irene indes, die Verlobte, wartet daheim nicht auf ihn. Und immer und überall wird Tunda ein Entwurzelter bleiben, ein Fremder, Orientierungsloser, der sich selber die Aussicht aufs Morgen verstellt. Und immer wird ihn seine Suche nach der eigenen Identität auch auf die Europas, auf die Suche nach der „europäischen Kultur“ treiben. Sehr prägnant und sehr zeitgemäß stellt Hafner an seinem Roth gerade diesen Punkt aus.

Madame G. umgarnt Tunda: Josephine Bloéb und Tobias Artner. Bild: Alexi Pelekanos

Und immer wieder Koffer packen: Tobias Artner und Stanislaus Dick. Bild: Alexi Pelekanos

Ein Quartett, Tobias Artner als Tunda, Josephine Bloéb, Stanislaus Dick und Michael Scherff in je einem halben Dutzend weiterer Rollen, fungiert als Erzähler wie Schauspieler. Sie schildern Tundas Schicksal, bis sie es darstellen; die drei treten mit Artner in den Dialog, steigen in die Handlung ein und wieder aus. Der Kniff ist nicht neu, doch Hafner macht damit möglich, dass Roths wunderbare Sprache erhalten bleibt. Als Regisseur hält er die Balance zwischen dessen nüchtern-analytischem Blick auf die Figuren und deren dramatischem Potenzial. Wenige Versatzstücke, eine Kopfbedeckung, eine Jacke, ein falscher Bart, machen klar, wer gerade wen verkörpert.

Das Bühnenbild von Camilla Hägebarth ist eine Landschaft aus Requisitenkoffern und Kisten, auch ein Munitionskoffer ist als Gepäckstück darunter. Wie ein Zauberkünstler seine Trickboxen schieben die Schauspieler sie über die Spielfläche, formen mit ihnen Dörfer und Städte, ein Lichtspielhaus oder eine Moskauer Wohnung. Gespielt wird im Wortsinn aus jeder Luke, und sollen Gewehrschüsse knallen, so tun’s dafür die Kistendeckel. An Fantasie lässt diese Aufführung tatsächlich kaum etwas aus.

Da darf Madame G. in rotes Licht getaucht ein französisches Liedchen trällern, während sie Tunda umgarnt, da gibt es eine famos gemeine Parodie auf die Wiener (Un-)gemütlichkeit, samt bitterböser Alkoholseligkeit und Hommage an das Duo Heller/Qualtinger. Tobias Artner ist als verhalten verzweifelter Tunda gleichsam ein Mann ohne Eigenschaften, ein junger Intellektueller ohne ihn sinnvoll ausfüllendes Dasein. Michael Scherff überzeugt als Charakterdarsteller, ob er nun Proletarier, deutsche Gutbürgerliche oder einen französischen Professor gibt.

Parodie auf die Wiener (Un-)gemütlichkeit: Stanislaus Dick, Tobias Artner, Michael Scherff und Josephine Bloéb. Bild: Alexi Pelekanos

Dass auch feiner Humor Hafners Sache ist, zeigt die Szene mit Tundas Bruder Georg und dessen Frau Klara. Zu ihnen gelangt Tunda schließlich – und Josephine Bloéb und Stanislaus Dick gestalten in partner- schaftlichem Weinrot zwei Prototypen kleinbürgerlicher, kulturbeflissener Existenz. Dass Tunda da mit seinen „bolschewikischen“ Ideen anecken muss, ist klar. Das geht bis ihm die Hutschnur reißt. Ein großartiger Eklat, so großartig wie der ganze Abend.

www.landestheater.net

  1. 1. 2018

Burgtheater: Radetzkymarsch

Dezember 15, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Schwerelos über dem Abgrund schweben

Trotta und die Slamas beim Totentanz: Daniel Jesch, Philipp Hauß und Andrea Wenzl. Bild: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

Nach gigantischen Gartenzwergen nun also riesige Luftballons. Sie sind Donnerstagabend am Burgtheater das Bestimmende. Gleiten, entgleiten, müssen ausgewichen, gejagt, gefangen, man von ihnen überrollt werden. Eine Choreografie des Augenblicks, denn einzuüben gibt es da wenig, die sich auf den Zuschauerraum überträgt. Wo die bunten Bälle neu angetippt über die Ränge schweben und seltsame Lichtspiele auf den Köpfen tanzen lassen.

Manch einer murmelt anfangs etwas von Irritation der Konzentration, doch einmal auf den Vorfall eingegroovt, lassen die Luftballons ein einzigartiges Fließen zwischen Bühne und Publikum zu, schaffen ein Einvernehmen über den folgenden Fast-Vier-Stunden-Abend: Johan Simons hat Joseph Roths „Radetzkymarsch“ inszeniert.

Und tatsächlich scheint es ihm mehr darum zu gehen, das Porträt einer Gesellschaft im Schwebezustand zu zeigen, eine Welt auszustellen, die wie schwerelos über dem Abgrund flackert, als die Roth’schen Charaktere psychologisierend durchzudeklinieren. Die nämlich bleiben Schemen und Schablonen, stehen mehr für Prinzipien denn für Eigenschaften. Die Schauspieler agieren entsprechend lapidar und prägnant, doch ohne die hierzuland so perfekt eingeübte hackenzusammenschlagende k.u.k.-Contenance, sobald entsprechende Autoren auf dem Spielzettel stehen.

Der Tonfall ist neu, Koen Tachelets Textbearbeitung ist sprachlich schlank, dennoch eine gültige Version, auch, wenn man freilich an der einen oder anderen Stelle die genialische Schönheit, die eingängige Melodie von Roths Formulierungen vermisst. Unterstützt wird das Ensemble von einer Gruppe Schauspielstudierender, die als Volk, Arbeiter, Diener, Kutscher, Soldaten, Erzählerchor … fungieren. Und alle sind immer auf der Bühne, sie sitzen im Wortsinn auf der langen Bank …

Chojnicki bereitet sein Fest vor: Steven Scharf, Philipp Hauß, Peter Rahmani und Ferdinand Nowitzky. Bild: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

Der Arzt Skowronnek und der Bezirkshauptmann: Merlin Sandmeyer und Falk Rockstroh. Bild: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

1932 erschien Joseph Roths Opus Magnum, in dem er den Zerfall der Donaumonarchie am Beispiel der Familie Trotta darstellt. Drei Generationen werden gezeigt, der Großvater, als Retter des kaiserlichen Lebens zum Helden von Solferino geadelt, der Vater ein treuer Beamter, ein Bezirkshauptmann, der Sohn wieder Militär, doch bereits angekränkelt von den heraufdämmernden neuen Zeiten. Mehr dem Alkohol als dem Ethos der Pflichterfüllung verfallen, wird er sich am Ende im Ersten Weltkrieg doch ermannen – und fallen. Er ausgerechnet, als er für die Kameraden Wasser holen will.

Simons entblößt seine Spieler bis auf fast die nackte Haut. In vergilbter Unterwäsche stehen sie da, entkleidet damit symbolisch auch ihrer Würde oder eines möglichen Würdevoll-Seinwollen, dazu nur ein bezeichnendes Stück Kostüm, wie einen Uniformrock oder einen Zylinder, turnen sie sich durch die Luftballons, Andrea Wenzl einmal auch durch die Herren im Publikum. Der letzte anständig gekleidete ist der Bürokrat, Vater Bezirkshauptmann, der aufrechtstehend wie ein stur insistierender Kapitän sein k.u.k.-Schiff untergehen sieht, an Bord des Narrendampfers seinen Sohn, der sich durchs Leben wie über Wellen treiben lässt. Falk Rockstroh gestaltet ersteren ganz fabelhaft.

Philipp Hauß ist als Sohn Carl Joseph von Trotta gerade Elegiebürschchen genug, um noch erotischer Abenteurer zu sein. Er trägt den Abend in seiner gewohnten Großartigkeit, gibt einen überhitzten, neurotischen, die Schultern hängenlassenden Trotta, den nur der „Neunziggrädige“ abzukühlen vermag. Mit Hauß im Zentrum, wie er vom Zaudern ins fast Hysterische kippt, dabei das Roth’sche „Ich-hab‘-wollen-sagen“ beherrscht, nimmt die Aufführung alsbald Fahrt auf, schnelle Szenenwechsel, Schauspielertheater ohne viel Chichi. Dazwischen verströmen Simons und Tachelet den An-/Schein des Heraufdämmernden. Das rote Wien steht auf, genauso wie der Nationalismus immer stärker wird. Roth schrieb sein Werk nicht nur retrospektiv, sondern erschrocken weise vorausblickend.

Bilder prägen sich ein. Johann Adam Oest als ein Franz Joseph, der an seinem Alter (ver)zweifelt. In starken Momenten macht er klar, dass sich hier ein halber Kontinent in den Fängen eines greisen Kaisers windet, dann wieder stammelt er hilflos „An meine Völker!“, die Kriegserklärung im Nachthemd dargebracht. Hauß als Trotta, der sich mit Kapellmeister Slama, Daniel Jesch, und dessen Frau, seiner Geliebten, bei einem Totentanz umringt (denn sie stirbt bei der Geburt ihres/seines? Kindes). Schließlich Steven Scharf als Graf Chojnicki, beim großen Schlussfest fröhlich den Untergang herbeisehnend, herbeifeierend. Das Gespenst der Monarchie geht da um, und mit ihm die Geister seiner Untergebenen.

Bis auf weniger schlüpfen alle in mehrere Rollen. Andrea Wenzl verkörpert alle Frauenfiguren mehr oder weniger oversexed. Jesch gibt außer dem Kapellmeister auch noch diverse resche Militärs, den Zoglauer und den antisemitischen Tattenbach. Scharf ist außerdem als dessen Feindbild, Regimentsarzt Demant, exzellent, Merlin Sandmeyer als Diener Jacques und Onufrij und als Skowronnek.

Johann Adam Oest als Kaiser. Bild: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

Der Krieg ist endlich ausgebrochen: Die Schauspielstudierenden sind in Aktion. Bild: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

Fazit: Johan Simons „Radetzkymarsch“-Interpretation ist eine der anderen, der ungewohnten Art. Sie ist die neue Spielart von etwas altösterreichisch gut Bekanntem. Darauf muss man sich einlassen wollen. Dann kann man genießen. Einigen, natürlich, werden die Haare zu Berge stehen – und das wird nicht nur mit der von den Luftballons erzeugten Reibungselektrizität zu tun haben.

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  1. 12. 2017