Burgtheater: Nebenan

November 4, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Irgendwie ist das alles ein Missverständnis

Norman Hacker und Florian Teichtmeister. Bild: © Matthias Horn

Einerseits. Die Kritik mancher Kolleginnen und Kollegen am unverändert gebliebenen Setting Prenzlauer Berg, weil man doch die Berliner Zustände – Stichwort: Gentrifizierung – nicht auf Wien übertragen könne, zielt ins Leere. Dies nicht nur, weil das Burgtheater dann auch keine Stücke aus dem antiken Griechenland oder dem viktorianischen England zeigen dürfte. Sondern auch. Wer annimmt, eine Kiezkneipe wie die Schankstube „Zur Brust“

gebe es an der schönen blauen Donau nicht, hat noch nie vom Floridsdorfer Tschocherl oder dem Kagraner Kistl gehört – und von den an deren Gestade angeschwemmten Stammgästen, die an dieser Lethe das Vergessen im Alkohol suchen. Und hinter jeder dieser Gestalten ein Mensch, ein Charakter, ein Schicksal. Darauf hat Martin Kušej bei seiner Inszenierung von „Nebenan“ vergessen.

Er macht vor allem aus den Nebenfiguren Karikaturen, Knallchargen, haucht ihnen kein Leben ein, er verweigert ihnen eine eigene, fürs Publikum unterschwellig wahrnehmbare Geschichte. Ein Kardinalfehler, weil man gerade in dieser Art von Endstation Sehnsucht jene antrifft, die man in Wien gern Originale nennt.

Kušej bezeichnet diese Arbeit im Programmheft-Interview als „komplettes Neuland“, seinen Versuch, „eine Situation auf der Bühne sehr realistisch umzusetzen“. Aber auch wenn Jessica Rockstroh im 30 Meter langen Spielraum eine 1:1 Kiezkneipe samt Dartscheibe und funktionierendem Zapfhahn, mit waberndem Schlagersound im Hintergrund und anzunehmend vom Zahn der Zeit angenagten Toiletten aufbaut, macht eine Kulisse noch keine großartige Aufführung. Irgendwie ist das alles hier ein Missverständnis, das Elend der sozial schlechter Gestellten als herbeizitierte Ausstattung.

Zum Anfang. Martin Kušej brachte am Burgtheater Daniel Kehlmanns „Nebenan“ zur Uraufführung. Der Text basiert auf dem gleichnamigen Film von Daniel Brühl und Daniel Kehlmann, entstanden aus einer Brühl’schen Idee, der den Freund fragte, ob er ihn und seine Schauspielkunst und seinen zunehmenden Starstatus in satirische Worte fassen könne. Als Kammerspiel für die Leinwand funktioniert das dermaßen gut, dass Debütant als Filmregisseur und Hauptdarsteller Brühl um den Goldenen Bären konkurrierte.

Norman Hacker, Katharina Pichler als Walküren-Wirtin, Florian Teichtmeister und Stefan Wieland. Bild: © Matthias Horn

Lieber klar trinken als klar sehen: Florian Teichtmeister, Katharina Pichler und Norman Hacker. Bild: © Matthias Horn

Katharina Pichler und Stefan Wieland als regungsloser Wutbürger Micha. Bild: © Matthias Horn

Norman Hacker, Elisa Plüss als hipper Florian-Fan, Katharina Pichler und Florian Teichtmeister. Bild: © Matthias Horn

Nun am Burgtheater. Sind der zuagraste Wiener Mime mit dem Fuß in der Hollywood-Tür Florian Teichtmeister und sein Widersacher Ossie Bruno – Norman Hacker, und ohne Frage ist die aberwitzige Tragikomödie ein Fest für zwei Spitzenklasse-Darsteller. Bruno, eigentlich kein Wendeverlierer, sondern mit gutem Kreditkartenfirmenjob, beginnt seinen Rachefeldzug also gegen einen Ösi statt gegen einen Wessi. Der gstopfte Fremdling hat sich das Mietzins-Hinterhaus mit einem gläsernen Aufsatz und nur ihm zugänglichen Lift verschönert, Bruno im Vorderhaus sieht dessen Treiben, hört dessen Lachen mit Frau und Kindern tagtäglich.

Darob hat er beschlossen den Eindringling ins Proletarier-Biotop zu zerstören. Munition liefert ihm das beiderseitige Fremdgehen der Eheleute, Bruno hat Informationen wer weiß woher – und stets lässt er in der Schwebe, ob er bei der Stasi oder deren Häftling in Hohenschönhausen war. So weit, so dünn der Handlungsfaden: Alteingesessene gegen neoliberale Modernisierung. Die „Känguru-Chroniken“ können das besser, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=38517

Fußnote nur um nochmal eine Verbindung aufzubauen, natürlich ist die Gentrifizierung in Wien nicht so forsch wie in Berlin, doch auch hier werden Unorte von einer einschlägigen Klientel zur Kultgegend mit dem Namen Szeneviertel auserkoren …

Die Zeit ist eingefroren, sichtbar an der großen Wanduhr über dem Tresen, die längst aufgegeben hat, anzuzeigen, wie spät es ist. Wer sich als erster hier bewegt, hat verloren. Teichtmeisters Florian, den es vor einem Flug nach London, zum Casting für ein Superhelden-Movie in die Kneipe spült, und der ihn erwartende Bruno Hacker im Infight, inmitten der eskalierenden Tatsachen sind freilich famos anzuschauen, der präzise und gnadenlose Bruno, Florian, der seine Lügen mit Charme und Schmäh zu tarnen versucht.

Stefan Wieland, Norman Hacker, Katharine Pichler und Florian Teichtmeister. Bild: © Matthias Horn

Stefan Wieland zuckt immer noch mit keinem Muskel, und Arthur Klemt als Obdachloser Guido. Bild: © Matthias Horn

K. o., aber nicht in der letzten Runde: Norman Hackers Bruno geht nach einem Faustschlag zu Boden. Bild: © Matthias Horn

Florian Teichtmeister und als angetraute, fremdgehende  Ärztin Clara – Elisa Plüss. Bild: © Matthias Horn

Bis Florians Fassade bröckelt heißt das Match schnöselige Süffisanz vs. staubtrockenen Sarkasmus, dann explodiert Teichtmeister fachmännisch aus dem vorbildlich-verständnisvollen Rahmen eines Bobo-Bildes. Mit etwas mehr Verve hätte daraus eine Faust’sche Mephisto-Story entstehen können – die allgemeine Ungewissheit, die schemenhaft im Schatten lauert.

Immerhin hat man Spaß mit Katharina Pichler, als Wirtin eine volltätowierte Walküre mit prallem, in schwarzes Kunstleder verpacktem Popo, die ihre gefallenen Krieger an der Flasche hält. Grandios ihre Mimik, mit der das Schankmädchen in ortsansässigen Walhalla die unerwarteten Vorkommnisse kommentiert. Wie sie dem angeekelten Florian ihr Sülzchen, passend zum Begriff sülzen, serviert, das der unter Todesverachtung verspeist, nachdem er schon – Achtung: Piefkewitz! – ihren „Kaffe“ ertragen musste – das ist vom Feinsten.

Im Umfeld Stereotype mit den ihnen anhaftenden Klischees: Stefan Wieland als Wütbürger Micha, dessen ehrlich gemeint tolle Leistung es ist, zwei Stunden lang auf einem Barhocker sitzend mit keinem Muskel zu zucken, und wie er in sein abgestandenens Bier starrend und von der Wirtin regelmäßig gemaßregelt krude Widerstands- parolen kräht; Arthur Klemt als türkischer Taxifahrer, als Obdachloser Guido mit seinem Hab und Gut in zwei Ikea-Tragtaschen und als Sauerstoffflaschen abhängiger Hartz-IV-Empfänger Fatsuit-Dirk. Elisa Plüss erscheint kurz als exaltierter Florian-Fan und gewinnt als Ärztin-Ehefrau Clara mit Oscar-Regisseur-Pantscherl kein Profil, weil die Regie ihr nichts zu spielen gibt. Brunos Motive enträtseln sich nie. Anders als im Film fehlt der Theaterfassung die bitterböse Schlusspointe.

Was an diesem künstlichen Duell Teichtmeister-Hacker am meisten nervt, ist Kušejs Annahme, aus Kehlmanns gefälligem Geplänkel eine Gesellschaftlich-Abgehängten-Saga zu gerieren, als könne die groteske Überzeichnung des Ganzen aufs Authentizitätskarussell des Bühnenbilds aufspringen. Abschließend der Refrain von Brunos verwichener Band „Die Bruchbuden“ (Kai Lüftner und Moritz Friedrich): Und ich warte, und warte, und warte, und warte … So ist das. Man wartet und wartet, dass endlich etwas passiert. Aber es kommt nichts. Ende.

Teaser: www.youtube.com/watch?v=toyMjC2UPKg          www.burgtheater.at

  1. 11. 2022

Burgtheater: „Komplizen“ von Simon Stone

September 27, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Wer im Glashaus sitzt …, oder: Das Warten auf die wahrhaft neue Volkspartei

Birgit Minichmayr, Michael Maertens, Lilith Häßle und Roland Koch. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Es sind zwei Sätze, die Peter Simonischek als Matthias spricht, die die Klammer dieses Abends und damit die Rotationsachse der derzeitigen Geschehnisse bilden – der erste: „Ich habe nichts gegen Nächstenliebe, aber sie ist ein Privileg, dass diejenigen von uns, die sich nach oben gekämpft haben, denen gewähren, die unten geblieben sind“, der letzte: „Es ist alles aus, und wir sind selber schuld daran.“ Dazwischen entfaltet Regisseur Simon Stone ein in

doppeltem Sinne beziehungsreiches Gesellschaftspanorama, und setzt dafür seine Figuren einer künstlerisch-wissenschaftlichen Upperclass vs. der sogenannten wirtschaftlich Abgehängten in ein derart träges Karussell aus Räumen, dass man sich Fortschritt hier schier unmöglich denkt. Das heißt, Stones Figuren sind’s und sind doch geborgte, die gestern am Burgtheater als „Komplizen“ ihre Uraufführung hatten. Getreu Mark Twains „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ hat der Australier mit europäischem Background, der 2018 am Haus für sein „Hotel Strindberg“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=28131) gefeiert wurde und der statt Twain lieber Friedrich Nietzsches zentralen philosophischen Gedanken der Ewigen Wiederkunft des Gleichen zitiert, Maxim Gorkis Dramen „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ in aktuellem Kontext neugeschrieben.

Das eine vom russischen Autor 1905 in der Peter-und-Paul-Festung verfasst, wo er wegen seines Aufrufs zum „brüderlichen Kampf gegen die Autokratie“ inhaftiert war, ein Stück über einen großbürgerlichen Intellektuellenkreis, der seinen Ennui und sein Unglück pflegt, während vor seinen Toren Cholera-Aufstände wüten. Das andere von einer Amerika-Reise im Jahr 1906 mitgebracht, Gorki von Lenin nach Übersee verfrachtet, um einer neuerlichen Gefangennahme zu entgehen und Propaganda für die kommunistische Sache zu machen, „Feinde“, in dem es zum in Gewalt eskalierenden Konflikt zwischen einem Fabrikbesitzer, dessen Direktor und den Arbeitern kommt.

Diesen „Komplizen“, und Stone meint damit wohl jene Kontrahenten, die ihr Klassendenken, ihr Klassenzwang in Tateinheit mit ihrer elitären Unbeweglichkeit und einem narzisstischen Kollektiv-Egoismus zu Systemerhaltern eines sozialpolitischen Stillstands macht, diesen Komplizen hat Bob Cousins eine Grinzinger Glasvilla auf die Bühne gestellt, Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad voll funktionsfähig, und hebt sich der Vorhang, sieht man zuallererst das Personal die unzähligen Fensterscheiben putzen. Das modernistische Manor rotiert träge, alldieweil die Intelligenzija nicht minder behäbig um sich selbst kreist – wiewohl immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird, dass Behäbigkeit, schweizerisch für die Eigenschaft, wohlhabend zu sein, und Hysterie einander nicht ausschließen.

In diesem Glashaus, der Vergleich mit einem Museumsschaukasten drängt sich auf, sitzt nun Michael Maertens, vor fast 120 Jahren noch der Chemiker Protassow, anno 2021 schlicht Paul genannt, nach einem alkoholintensiven Abend und muss sich die kommenden vier verkaterten Stunden von Freud, Freund, Feind und Familie quälen lassen. Maertens legt das bei der Nobelpreis-Vergabe vergessene Genie mit der seiner Rollengestaltung eigenen Quengelei an, wie überhaupt das ganze Star-Ensemble perfekt einem beiläufigen, herrlich voneinander angeödetem Konversationston huldigt. Man hat sich Status und Lifestyle mit einer Selbstgewissheit angeeignet, mit einem Abgehoben-Sein, das sich durch Finanzstärke rechtfertigt.

Roland Koch und Mavie Hörbiger. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Birgit Minichmayr und Michael Maertens. Bild: © M. Ruiz Cruz

Rainer Galke und Michael Maertens. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Lilith Häßle und Michael Maertens. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Peter Simonischek gibt den leutseligen, mit einer Noblesse-oblige-Rücksichtslosigkeit gesegneten Fabriksbesitzer Matthias Prositsch, Pauls Onkel, Mavie Hörbiger Pauls revoltierende, NGO-engagierte, vom Depressiven ins Manische changierenden Schwester Lisa, von der sofort klar ist, dass sie emotional ebenso wenig stabil ist, wie die exaltiert und hypernervös agierende Birgit Minichmayr als in erster Linie autokommunikative Anwältin Melanie, ehemals Melanija Kirpitschowa, die den versponnenen Mikrokosmonauten Maertens stalkt.

Melanies Bruder, Felix Rech als Botho, ist vom Veterinär zu Lisas in sie verliebten Psychotherapeuten geworden. Pauls Frau Tanya, Lilith Häßle, ist eine durchaus unliebenswerte, krisengebeutelt-egomanische (Burgtheater-)Schauspielerin, die Roland Koch, als Dietmar nicht mehr Maler, sondern Filmemacher und Fotograf, zu einem Porträt und einer Affäre überreden will – und sage nun keiner, Simon Stone könne es weniger delikat-diffizil als die russischen Literaten.

Auf der Gegenüberseite stehen: Der brillante Rainer Galke als Hausmeister Igor, ein Handwerker mit Golfhandicap und dem Hausherrn unentbehrlicher WLAN-Auskenner, Safira Robens als Reinigungsfrau Farida, Falk Rockstroh – wie von Gorki in die Gegenwart gezaubert – und Reinhardt-Seminarist Dalibor Nikolic als Fabriksarbeiter Jürgen und „Gastarbeiter“ Goran, und irgendwo dazwischen Annamária Láng als Pauls Haushälterin Anita sowie Bardo Böhlefeld als Matthias‘ Geschäftsführer Raschid nebst verteufelt schlauer Ehefrau und Bankangestellter Cleo, Stacyian Jackson – diese beiden der Mittelstand zwischen den Standesdünkeln von Arm und Reich, und wenn man so will, bei Simon Stone am Ende die Gewinner.

In der Übersetzung von Martin Thomas Pesl wird’s einem mit trocken-zynischem Humor so richtig reingesagt. Die schwelenden Konflikte in den Dioramen sprengen bald den Rahmen, ein Durchräuspern des Textes, ein gelegentliches Husten, die Erwähnung von Quarantäne und PCR-Tests, weisen auf die aktuelle Infektionsgefahr hin, auch wenn die Nachrichten von draußen, übervolle Intensivstationen und bald brennende Autos, der Arbeitsk(r)ampf und die sozialen Verwerfungen dieser Tage die Scheibenwelt nur glasig gefiltert durchdringen. Doch die umstürzlerische Durchseuchung macht auch vor tollem Design nicht halt, wie sich alsbald erkennen lässt, Geschäftsführer Raschid, ganz Typ Slim Fit, will die Fabrik wegen Streikandrohung der Gewerkschaft – es geht um Maskenpausen für die Belegschaft – schließen. Was ihn, wie den erschossenen Michail Skrobotow, beinah das Leben kosten wird.

Peter Simonischek und Stacyian Jackson. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Mavie Hörbiger mitten im Nerven- zusammenbruch. Bild: © M. Ruiz Cruz

Peter Simonischek, Bardo Böhlefeld und Stacyian Jackson. Bild: © M. Ruiz Cruz

Beide von Gorkis Vorlagen wurden von der zaristischen Zensur mit einem Bühnenbann belegt, zu regional beschränkt glaubte man die ersten Erschütterungen, die ein Jahrzehnt später zur Oktoberrevolution führen sollten. Ähnliches ortet und verortet Stone in seinem Gegenwartsdrama, und dieser Gedankengang lässt doch gehörig Gänsehaut aufkommen – das dumpfe Gefühl einiger, Manövriermasse der obszönen Geliebten Politik und Wirtschaft zu sein, das Rumoren im Souterrain bei gleichzeitigem Champagnisieren einer Jeunesse dorée in der Beletage, Turbokapitalismus, während der ehrenwerte Proletarier, die Proletarierin zum Prekariat degradiert wurde. Stone nimmt diese Zustände um nichts weniger ernst als weiland Gorki.

Und er nimmt, zwischen gutmenschlichem Gedankengut bei schleunigstem Rückzug in die bourgeoise Deckung, sobald es ans Eingemachte geht, dies vor allem Lisas von Mavie Hörbiger glänzend fahrig verkörperte Charakterisierung, auch die eigene Zunft aufs Korn. In Lilith Häßle als Tanya mit der Künstlerseele, die in ihrem Nichtwissen(-wollen), durch ihre Realitätsflucht vor allem Ruhe fürs Rollenstudium will. Härtester Spruch, als sie Igor-Galke ins Krankenhaus zu dessen an COV19-verstorbener Ehefrau fährt und sie seinen Schmerz mitansieht: „Merk dir das Tanya für die Bühne, das ist echter Verlust!“ In Roland Kochs Dietmar, dem Salonsozialisten, der sich auf seiner Suche nach Authentizität selbst links von Ken Loach wähnt, während er doch nur ein von der Sozialfotografie in die Konventionen der Kulturschickeria aufgestiegener Auswegloser im Maßanzug ist.

Versteht sich, dass Stone, alldieweil er Innerstes offenlegt, auch Situationskomik kann. „Komplizen“ vergeht wie im Flug, nur zum Ende hin bei den Erklärungsmonologen könnte man die Schraube ein wenig anziehen, und apropos, Authentizität: Auf die verstehen sich vor allem die „Unterschicht“-Darstellerinnen und Darsteller, der grundaggressive Galke, ein zwielichtiger Geselle, der, was Farida betrifft, am Rande von #MeToo balanciert, was aber Paul angesichts seiner Internet-Qualitäten ohnedies wurscht ist, bis er sich in einer ergreifenden Schlussszene bei seinem Opfer entschuldigt. Der wie fürs Burgtheater gemachte Dalibor Nikolic, dessen Goran – siehe Raschid – Täter und Opfer zugleich ist. Falk Rockstroh als brav-ergebener Vorarbeiter Jürgen, den seine lebenslange Nähe zum Establishment lähmt.

Schließlich Annamária Láng als dienstbarer, guter Geist Anita, bis ihr im Selbstmitleidssumpf ihrer ignoranten Arbeitgeber deren Dreck bis hier steht. Mit der aus Ungarn kommenden Schauspielerin und dem serbischen Nikolic greift Simon Stone auch Themen wie – welch ein Unwort – „Migrationshintergrund“ und Multikulturalität auf. Einer wie Theatermacher Stone, weiß auch jeder und jedem in seinem Cast eine Sternstunde zu verschaffen, was diese mit scharfkantiger Rollengestaltung weidlich zu nutzen wissen, mit bravourösen Auftritten und grandios aufgeblähten Ansagen, die die Versagensangst und das schlussendliche Versagen der Figuren gar nicht verschleiern wollen, sondern als eine Art „C’est la vie!“ ausstellen, dann wieder mit leisen Augenblicken des Zweifels und der Verzweiflung – Felix Rechs Botho, der die selbstmörderische Konsequenz zieht und sich – Tschepurnoi hatte sich einst an einer Weide am Fluss erhängt – statt zwischen die sich verhärtenden Fronten vor die Wiener U-Bahn wirft.

Bardo Böhlefeld und Safira Robens. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Felix Rech und Mavie Hörbiger. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Michael Maertens und Annamária Láng. Bild: © M. Ruiz Cruz

Rainer Galke, Falk Rockstroh und Dalibor Nikolic. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Es wird der Moment dräuen, da die aufgebrachte, aufgestachelte Masse an die Glasfassade ein „Fickt euch alle!“ sprayen wird, wer sich erinnert, denn damals sorgte dies für öffentliche Debatten, bei Achim Benning 1988 zog die Arbeiterschaft mit wehenden roten Fahnen an der demolierten Datscha vorbei, und es ist als größtes Kompliment an Simon Stones „Komplizen“ gemeint, dass dies eigenständige Stück Dramatik, so nah es auch der Gorki-Dramaturgie ist, auch versteht, wer den Gorki nicht studiert hat.

Es kommt – Achtung: Spoiler! – zum großen Aufräumen. Nicht nur der Glasscherben, sondern auch der Gesellschaftssplitter. Der wiederauferstandene, zumindest im Rollstuhl sitzende Raschid hat sich via Wertpapiere zum Mehrheitseigentümer von Matthias‘ Fabrik gemacht, der Spross eingewanderter Gemüsehändler als Big Boss im Eingelegte-Gurkerl-Business, und man sieht die Kündigungswelle schon anrollen, Cleo sich der Paul’schen Hypotheken bemächtigt, was diesen um Haus und Hof bringt. Die neoliberale Ausbeuterin mit dem königlichen Namen hat schon Pläne für Tennisplatz und Swimmingpool, der Mittelstand steigt auf und entpuppt sich als Neureiche als noch gnadenloser als der alte, sich noch vom Gemeindebau ins Villenparadies hochgearbeitet habende Geldadel. Welch ein Symbolbild.

Und zwischen denen, die ihren Kummer über den „toten Traum“ (© Matthias-Simonischek) im Wein ertränken, den „vertrottelten Spielen von Stolz und Vorurteil“, dem Nachsinnen über „Besitz als neue Waffe der Unterdrückung“, den Wohlstandsverlierern da wie dort, den Generationen- und Familienkonflikten, den Betroffenen und den Performern von Betroffenheit, Anitas Zornesausbruch und dem endgültigen Irre-Werden von Lisa und Melanie ob Bothos Suizid, Wissenschaftler Paul-Maertens‘ Furor und Revolutionsästhet Dietmar-Kochs Resignation, alle entfremdet oder: jeder überlebt für sich allein, steigt ein Phönix aus den Trümmern. Safira Robens als Unterste-der-Unteren-, wie’s auf Wienerisch heißt: -Bedienerin, die ihre Zulassung zum Medizinstudium geschafft hat.

Was bleibt zu sagen? Am Premierenabend hat in Graz die KPÖ die Gemeinderatswahl gewonnen. Laut Wählerstromanalyse mit Stimmen, die bisher für andere Parteien abgegeben wurden und einem großen Zulauf von bis dato Nichtwählerinnen und -wählern. „Es ist alles aus, und wir sind selber schuld daran“, sagt Simonischeks Prositsch. Doch wer weiß, vielleicht lugt an der Wahlurne endlich eine echte, wahrhaft neue Volkspartei aus der Zukunft ins Heute?

Teaser: www.youtube.com/watch?v=BO2R6ZllyYY&t=1s           www.burgtheater.at

  1. 9. 2021

Burgtheater: Mein Kampf

Oktober 10, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Den Witz versteht nur, wer dabei gewesen ist

Und hereinbricht Hitler: Markus Hering als Schlomo Herzl, Marcel Heuperman als Braunauer Bildermaler und Oliver Nägele als Lobkowitz. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Zusammengefasst, das Ganze entwickelt sich vom jüdischen Witz zur Furz-Farce zu einer Brachialgewalt, die durch George Taboris Groteske schlägt, wie die Heiligen Nägel durch Schlomos Hände. Itay Tiran inszenierte am Burgtheater also „Mein Kampf“, er hat sich am Akademietheater als Regisseur schon in „Vögel“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34508), als Schauspieler in „Der Henker“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36623) von seiner besten Seite gezeigt.

Nun berichtet der im israelischen Petach Tikva geborene Künstler im Programmheft anrührend von seiner „Kämpferin“, Großmutter Deborah Fixler Yahalom, Shoah-Überlebende und Geschichtenerzählerin und Virtuosin eines Überlebenshumors, mit dem sie ihrem Enkel den Horror beschrieb. „Shoah“, sagt Tiran, „ist für sie, wie für viele andere, kein datierbarer Zeitpunkt in der Geschichte, sondern ein Zustand, der anhält und andauert“, und im Interview, dass er, als seine Regiearbeit angefragt wurde, zweifelte, ob er sich mit dem Familientrauma auseinandersetzen möchte, nicht wissend, was er dem in Wien oft und grandios gespieltem Stück an noch nicht Gesagtem hinzufügen könne.

Dies hier erwähnt als Eckpunkte einer Besprechung, die über ein „Ja, so kann man’s freilich auch machen“ hinauskommen möchte, ist es unsachlich zu sagen, man möge von Themen, die einem zu nah sind, die Finger lassen?, kurz: der gestrige Premierenabend hat seine Momente, skurrile und schwere und solche, die es einem nicht leicht machen.

Jessica Rockstroh hat die Vorderbühne mit einem Jossi-Wieler-Rechnitz-Gedächtnisguckkasten zugebaut, ein Vergleich, dem stattgegeben wird, als Frau Tod Herrn Hitler ihren eben rekrutierten Würgeengel nennt. Bis dahin ist es ein mehr als zweistündiger Weg durch diesen gefinkelten Wandverbau, der sich hoch- und wegklappen lässt, die Paneele mal Bett, mal Bügelbrett, und dessen Teile von Anfang bis Ende durchbrochen und zertrümmert werden, wenn die Schauspieler aus ihnen fallen, drängen, drücken. Kein heiles Heim, dafür ein Heil! im Männerwohnheim, der Hitler und der Himmlisch kommen!

Davor, man weiß es, ein heiterer G’tt aus wenig heiterem Himmel, einer, der sich an nichts erinnern kann, solch aktuelle Hinterlist gibt’s von Schnitzel und Flüchtlingsstrom bis zum Jammern der Tödin übers Aussterben der Pandemien (Publikum: Gelächter!). Der Herr und sein Auserwählter sind, man weiß auch das, Koscherkoch Lobkowitz und Buchhändler Schlomo Herzl, Oliver Nägele und Markus Hering, und im Wortsinn über die beiden hereinbricht Marcel Heuperman als Hitler. Der sich erst in einer hochgeschraubten Schwadronade, dann seinen Darm in einen Kübel entleert. Scheiße aus allen Körperöffnungen, wie gesagt, am Furz- und Kotztheater wird hier nicht gespart. Heupermans unappetitlicher Hitler ist ein Theatraliker ennet der Grenze des Geschmacklosen.

Hering, Heuperman und Hanna Hilsdorf als Gretchen, hi.: Huhn Birne als Mizzi. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Ein händewachelndes Ojojoj der Menschenopfer: Makus Hering und Oliver Nägele. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Rekrutiert ihren Würgeengel: Sylvie Rohrer als Frau Tod und Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Itay Tiran, und dies sein Pluspunkt, stellt die Schauspieler in den Mittelpunkt, er gibt ihnen all den Raum, der zwischen drei Wänden möglich ist. Es ist ein einfaches, ein Armes Theater, das er zeigt, mit einem Stück Kreide zeichnet Herings Schlomo Hitlers neues Zuhause wie den Teufel an die Wand; die Kostüme von Su Sigmund wie aus der Kleidersammlung, Trainingsbuxe, Bademantel, die Kippa eine Strickmütze. Heuperman ist ein feistes, berserkerndes Baby, ein hysterisch wütendes Kleinkind, kindisch-grausam, sobald es nicht nach seinem Kopf geht, die schmutzigen Strümpfe auf Halbmast, die versiffte Unter- eigentlich eine beständig rutschende Windelhose, die Heuperman ebenso beständig über dem nackten Hintern hochzieht.

Hering und Nägele geben sich als zwei Käuze, die mit einem händewachelndem Ojojoj ihre Opferbestimmtheit kundtun, Lobkowitz schon ein jenseitiger Mehlzerstäuber, Herzl noch ein herzergreifend Verzweifelter – am jüdischen Glauben und am jüdischen Witz, der mit mütterlichem Masochismus den Braunauer Bildermaler zum Massenmörder stylt und coacht. In diesem Szenario ist allerlei Bärtchen- und Youth-Cut-Slapstick möglich, so weit, so schön läuft der Abend am Schnürchen, mit komischen Typen und ihren Hals- wie Wortverdrehern. Jede Pointe sitzt, auch wenn man hier bereits den Sinn für Taboris nadelspitzen Sarkasmus und seine beißende Tieftraurigkeit vermisst.

Den schönsten und sie bestimmenden Moment schöpft Itay Tirans Aufführung aus der Verkehrung von Schlomo Herzls Satz zu seinem Buch, titelgebend: „Mein Kampf“, der bei Deborah-Enkel Tiran als Schlomos „letzte Chance endlich zu vergessen, woran ich mich seit meiner Jugend erinnern muss“ dasteht. Lässt er doch den Hering bei ins Gelbe gedimmten Standbildern die Mitakteure nach Schlomos Willen arrangieren, auf dass seine Inszenierung unter greller Glühbirne Szene für Szene ins Grauen entgleise.

Herings Schlomo Herzl mit der KZ-Tätowierung auf dem Unterarm fantasiert aus dem Orkus die Schlächter neu herbei. Und er weiß es und er kann es nicht verhindern, kann das Geschehene nicht umschreiben. Aus seinem Transistorradio hört man HC Strache im Wahlkampfmodus. Geschichte wiederholt sich nur als Farce, um Karl Marx abzukürzen.

Keine Akademie? Hitler ist am Boden zerstört: Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Der Schnauzer wird zum Bärtchen gestutzt: Markus Hering und Marcel Heuperman. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Goldene Göttin statt deutsches Mädl: Markus Hering und Hanna Hilsdorf, hi.: Oliver Nägele. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Und wieder wird ein Jude gekreuzigt: Rainer Galke als Himmlisch und Markus Hering. Bild: Marcella Ruiz Cruz

Von der allerdings ist Tiran mittlerweile weit entfernt. Er hat zur verlangt feinschnittigen Sichel, um noch mal Marx zu bemühen, den dumpfen Hammer hervorgeholt, die Geräuschkulisse von Ludwig Klossek klingt nach Maschinengewehr, Grölen, Stöhnen, Hohngelächter. Mit Bettfedern hereinschneit Gretchen als Goldene Göttin, Hanna Hilsdorf allerdings weder Varganin noch bodenständig deutsches Mädl, sondern in dieser Schlüsselepisode, wie man dem Volk die Stimmung umdreht, deutlich unterbeschäftigt. Am spannendsten und bei Weitem die beste Komödiantin ist die Henne Birne als legendäre Mizzi, die in ein Wandbord gesetzt wird – und man dem Tier am Schnabel ansieht, wie’s überlegt: Wie komm‘ ich da nur wieder runter?

Bleibt: Die großartige Sylvie Rohrer als sich zur Kunstfigur verrenkende Frau Tod, ein bizarrer, kalter Todesengel, als der die Rohrer hier eine Glanzleistung hinlegt: Bleibt: Rainer Galke mit Axt – als Himmlisch von einer Herrenmensch-Rage, der eine Sauerei anrichtet, die Taboris subversives Zotenspiel, seine Assoziationskette von Schmerz zu Scherz zu Ausch-/Witz endgültig zerreißt. Schlomo wird an die Wand gekreuzigt, Mizzi vergast, der Titel „Mein Kampf“, denn ein Buch gibt es nicht, wechselt den Besitzer und Hitler zieht mit seiner Bagage und seinem an den Deportationskoffer gemahnendes Gepäckstück ab, als hätte er Schlomo sogar den gestohlen.

Zusammengefasst, im Dickwanst ist punkto dramatischer Dichte noch Luft drin. Die drastische Oberfläche bräuchte Tiefgang. In Zeiten da Rechts von einer zustimmend nickenden Mitte übernommen wird, braucht es (kultur-)politisch Radikaleres als Horrorclowns wie einen sich ausscheißenden Hitler und einen randalierenden Himmlisch. Ja, George Taboris „Mein Kampf“ ist im Getriebe des Repertoirebetriebs angekommen, kann man ihn aus diesem nun bitte weiterziehen lassen?

Lobkowitz und Robkowitz sitzen im Garten Eden auf einer Bank. Sagt Lobkowitz: Erinnerst du dich noch, wie du auf der Seife ausgerutscht bist und dir den Schädel zerschlagen hast, bevor sie uns vergasen konnten? Robkowitz schüttelt sich vor Lachen und erwidert: Ja, aber weißt du noch, wie du dich beschwert hast, sieben Mann seien zu viel für ein Bett? Kommt G’tt vorbei, böse und aufgebracht darüber, was es denn da zu lachen gebe. Sagt Lobkowitz: Ach Herr, den Witz versteht nur, wer dabei gewesen ist …

www.burgtheater.at           Video: www.youtube.com/watch?v=7x8ihcvJKbQ

  1. 10. 2020

Burgtheater: Die Hermannsschlacht

November 29, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Zersägte Jungfrau in fünfzehn Einfriersackerln

Im Liebesblutrausch nach der Jagd auf den Auerochsen: Bibiana Beglau als Thusnelda und Bardo Böhlefeld als Ventidius, Legat von Rom. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Auf der Innenseite des Programmhefts sind die Standorte der Cherusker, Sueven und Cimbern verzeichnet, und mitten drin der Stamm der Miss- vergnügten, und nein, das ist kein Feixen punkto Zuge- hörigkeiten, so dramatisch ist es nicht. Eher ist es das zu wenig. Weshalb mit folgenden Anmerkungen begonnen werden soll, nämlich, dass zum einen kaum jemals ein Burgtheater-Ensemble seinen Text so wortundeutlich vor sich hingemurmelt hat.

Als auf der Bühne der Satz fällt „Ich verstehe kein Wort“, ertönt aus dem Publikum ein belustigtes „Wir auch nicht!“ – und Lacher!, und nur, weil das Nachbarhaus genau dafür seit Jahren gescholten wird, Ringseitenwechsler Rainer Galke als Sueven-Fürst Marbod ist der bei Weitem Bestverständliche. Zum anderen aber, und das scheint tatsächlich schwerer zu wiegen, ist die Lesart der Thusnelda eine fatale, nicht nur aus frauenbewegter Sicht, sondern auch aus dramaturgischer, wurde der Figur doch jede tragische Fallhöhe genommen. Bei einem werkeinführenden Gespräch leitete Darstellerin Bibiana Beglau vom einstigen Kosenamen ihres Charakters zum nunmehr salopp abwertenden „Tussi“ über – und bei dieser Rollenzuschreibung ist sie auch geblieben.

So weit, so … also: Martin Kušej hat gestern seine erste Neuinszenierung für Wien präsentiert, der Chef, weil die Betitelung Direktor mag er gar nicht, der sich gern als kontroversieller Regisseur gibt, ein ebensolches Stück für diese Auftaktarbeit ausgewählt, Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“, und am Ende mit gutgelaunter Castorf’scher Geste die gelegentlichen Buh-Rufer zu einem „Mehr! Mehr!“ eingeladen. Allein, dazu verebbte der Applaus allzu bald.

Von Kleist 1808 geschrieben und angesiedelt 9 n. Chr., verweist der stets jenseits der etablierten Literaturlager stehende Außenseiterautor mit der Vernichtung der Varus-Legionen im Teutoburger Wald auf der Deutschen Virtualität gegen die napoleonischen Truppen, die „Hermannsschlacht“ ein fünfaktiger Aufruf zu Widerstand und Waffengang, die Cherusker ganz klar die Preußen, die Römer gleich den Franzosen und die Sueven eine Handvoll Österreicher. Doch waren’s nicht Kleists Zeitgenossen, sondern erst die Nationalsozialisten, die das Historiendrama als teutschen Mythos und Appell zum totalen Krieg freudig aufführten.

Aufgedonnert für die Römer: Markus Scheumann und Bibiana Beglau. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Die Ehe ist ein Ringelspiel: Markus Scheumann und Bibiana Beglau. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Feldherr Varus hat „Tussi“ Thusnelda reich beschenkt: Bibiana Beglau. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Zwischen diesem ideologisch kontaminierten Pol und dem des baskenbemützten Peymann’schen Partisanenkämpfers aus dem Jahr 1982 bewegt sich Kušej, der als seine Referenz die Schriften von Barbara Vinken, vor allem ihre Monografie „Bestien. Kleist und die Deutschen“ nennt, und in Kenntnis dieser wird offenkundig, dass Kušej deren Thesen vollinhaltlich spielen lässt. Heißt: „Die Hermannsschlacht“ nicht als Propaganda-, sondern als Lehrstück in Sachen derselben, heißt: Hermann als zynischen Hetzredner, Vinken nennt seine bevorzugte Rhetorik die der Rhetoriklosigkeit, Kušej ihn einen „Bruder im Geiste aller Fake-News-Populisten“, Hermann ein Kriegs-Führer ohne Schlachtenmoral, ein Gatte, der seine Frau Thusnelda systematisch vom sexuellen Lockvögelchen für Ventidius zur Bestie entmenscht.

Auf der Bühne des Burgtheaters hat Martin Zehetgruber einen Wald aus phallischen Betonwellenbrechern aufgebaut, und ein rotierendes Pferdekarussell. Doch bevor dies zu sehen ist, findet Stefan Wieland als Römer Scäpio in der den Abend dominierenden Düsternis noch einen ausgeweideten Frauenkörper. Das Opfer einer Kulthandlung, mit Hirschgeweih/Dornenkrone und in Blut gezeichnetem, hakenkreuzähnlichem Symbol auf der Schulter, eine Warnung an alle, dass weitere Gräueltaten folgen werden. Siehe die bei Kušej eindeutig von Hermann als Befehl an seine Schergen ausgegebene und den Gegnern angelastete Massenschändung eines germanischen Mädchens.

Die Hally-Szene, die hier darin gipfelt, die zersägte Jungfrau als sozusagen fachmännisch aufgebrochene Jagdtrophäe in fünfzehn Einfriersackerln den ebenso vielen Stämmen zu übermitteln – ein Anblick, der je nach Betrachtung von freiwillig gewählter oder unfreiwilliger Komik ist, während Kušej den Ventidius‘schen Bärenfraß deutlich dezenter andeutet, ist im lichtlosen Zwinger ja nichts zu erkennen, dafür umso mehr zu erahnen. Thusnelda wurde von Hermann zu dieser hasserfüllten Handlung heißgemacht, der Bärendienst einer Barbarin, und Kušej lässt, wie im Fall Hally, keinen Zweifel daran, dass der Brief, in dem Thusneldas römischer Lover seiner Kaiserin Livia deren Goldhaar als Kriegsbeute verspricht, vom Cherusker-Fürsten fingiert ist.

Wie gesagt, Bibiana Beglau macht die manipulierte Rachsüchtige, erst mit Ventidius halbnackt-erotisch vom rohen Auerochsenfleisch fressend, dann hundehechelnd zu Hermanns Füßen, wenig später sich blöd-begeistert mit Varus‘ Goldgeschenken behängend, der Dressurakt von Weib zu Weibchen zu wildem Tier frühzeitig vollzogen, vorweggenommen, Effekt im Eimer. Wobei von der von Kušej angekündigten einzigen Humanistin weit und breit von Anfang an keine Spur ist, und er letztlich auch ihr entsetzliches Ehedrama verschenkt. Stattdessen spielt die Beglau eine an die Schmerzgrenze gehende Stupidität. „Schau mal!“, schreit dieser Blondinenwitz auf Beinen den Hermann an, damit er sieht, wie sich seine Landpomeranze, in Highheels stöckelnd, mit grellblauen Augen-Makeup, ihr zerzaustes Haarnest als Römerinnen-Style ausgebend, für den Besuch der Besatzer zurechtgemacht hat.

Der römische Schreiber Scäpio findet im Wald ein ausgewaidetes Frauenopfer: Stefan Wieland und Valerie Martin. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Gipfeltreffen: Scheumann, Wieland, Falk Rockstroh als Varus, Böhlefeld, Wolfram Rupperti als Aristan und Till Firit als Septimius. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Fackelzug in Gauleitergelb: Dietmar König als Egbert, Scheumann, Paul Wolff-Plotegg als Eginhardt und Max Gindorff als gemeuchelter Bote. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Die österreichischen Sueven bei Bratwürstl und 16er-Blech: Marcel Heuperman als Attarin, Rainer Galke als Marbod und Robert Reinagl als Komar. Bild: Matthias Horn / Burgtheater

Markus Scheumann hingegen ist als Hermann ein intellektueller, listenreicher, vornehmlich jedoch leiser Intrigant, der fast unmerkbar fein Freund und Feind verhöhnt, und der vor der Pause vorwiegend so agiert, als ginge ihn das alles nichts an. Mit moralinsaurer Miene ordnet dieser Teflonmann die ärgsten Monstrositäten an, motiviert andere eiskalt zu Meuchelmorden, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass das alles nicht in seinem Interesse geschehe – umso abscheulicher die Verwandlung im zweiten Teil, wenn er Gift und Galle spuckend mit den dumben, deutschen Ochsen abrechnet, die seine Intentionen nicht begreifen können, Scheumanns Hermann nun mutiert zum rechtsnationalen Demagogen, vom völkischen Beobachter zum Gewaltherrscher.

Als sein Kontrahent Varus bleibt Falk Rockstroh so blass, als hätte er sich bereits mittels des eigenen Schwertes entleibt, der Rest, Paul Wolff-Plottegg, Dietmar König, Sabine Haupt, Daniel Jesch, Till Firit, Wolfram Rupperti, Arthur Klemt …, verkörpert Diverse und dies durchwegs unauffällig. Zur Kennzeichnung der allesamt Anzugträger sind die germanischen Haudraufs barfuß, die römischen Politfunktionäre in schicken Schuhen unterwegs. Die Sueven, Rainer Galke, Marcel Heuperman und Robert Reinagl, trinken zu ihren Würsteln Ottakringer aus der Dose, einige Sätze der Römer sind in ein Küchenlatein übertragen, durch welches holpernd sich nur Bardo Böhlefeld als Ventidius mit leicht italienischem Idiom tapfer schlägt.

Es war von Kušej vorab vermeldet, er werde „Die Hermannsschlacht“ zur politischen Positionierung des Burgtheaters benutzen, ergo geschieht der Hinterhalt gegen Varus als Fackelzug in gauleitergelben Langmänteln samt Fasces-Armbinden. Unter der Montur sind die Germanen nackt, so wie die Jünglinge, die das Ringelspiel hereinrollt – ob das als Seitenhieb auf SS-Homosexualitäten zu interpretieren sein soll, bleibt einem selbst überlassen. Und das Resultat – fad: Kleists Splatterorgie kommt in Kušejs langatmiger Auslegung nur bedingt zu ihrem Recht. Zwar gelingen Zehetgruber starke, mitunter giftgrüne oder schwefelgelbe Nebelbilder, zwar dröhnt die Musik von Bert Wrede äußerst unheilvoll zu den – no na – Blackouts, doch insgesamt kommt die Angelegenheit nicht in die Gänge. Warum nur wurden die Darsteller dazu angehalten, derart zu unterspielen?

Als Schlussbild jedenfalls stehen die geeinten Mannen als Burschenschafter im Festwichs und mit glänzenden Stiefeln da, Thusnelda nun ein BDM-Gretchen in grau-biederem Kostüm, und rufen ihrem Hermann „Heil!“. Die Grußbotschaft verstanden? Aber ja!

www.burgtheater.at

TV-TIPP: ORF III zeigt am 1. Dezember, 20.15 Uhr, eine Aufzeichnung der Inszenierung „Die Hermannsschlacht“: tv.orf.at/program/orf3

  1. 11. 2019

Burgtheater: Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

September 18, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Ehe-Exzess auf Scherbenhaufen

Noch verläuft die Party gesittet: Norman Hacker als George, Nora Buzalka als Honey, Bibiana Beglau als Martha und Johannes Zirner als Nick. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater

Als dritte Premiere seiner Amtszeit übersiedelte Martin Kušej seine 2014er-Inszenierung von Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ vom Münchner Resi ans Burgtheater. Wohl kaum ein Theatergeher, der’s nicht schon gesehen hat, dies Ehe-Gemetzel, für das ein älteres Paar ein jüngeres vorgeblich zum Absacker nach einer Party beim Collegerektor in sein Haus einlädt, tatsächlich um ein Publikum für sein scheußliches Schauspiel zu haben.

Und so verstricken Geschichtsdozent George und Rektorentochter Martha den neu am College engagierten Biologieprofessor Nick und dessen Bessere-Hälften-Hascherl Honey immer tiefer in ihre grausamen Rituale. Es wird einander verhöhnt und gedemütigt und es dem jeweils anderem mit gleicher Münze heimgezahlt. Das von Jessica Rockstroh dafür entworfene Schlachtfeld ist ein klinisch weißer Laufsteg, ein unterkühlt-stylischer Raum für die bald erhitzten Gemüter. Im symbolträchtigen Abgrund darunter lauert der sprichwörtliche Scherbenhaufen aus zerschmissenen Flaschen und Gläsern, der stetig wachsen wird, wenn in der nun folgenden alkoholtriefenden Atmosphäre Geheimnisse enthüllt und Glückslügen entlarvt werden.

Mit der giftgrünen Leuchtschrift „Fun and Games“, Albees Betitelung des ersten Akts, eröffnet Kušej den mutmaßlich berühmtesten Ehe-Exzess der Dramengeschichte, bezeichnen doch Martha und George ihre kriegerische Auseinandersetzung als „Spiele mit festen Regeln“. Am Burgtheater wissen Bibiana Beglau und Norman Hacker mit gezielten Verbalschlägen ins Schmerzzentrum des anderen zu treffen, bis es ihnen selbst wehtut. Ihnen zur Seite stehen Nora Buzalka als Honey und Johannes Zirner als Nick. Kušej nimmt sich des Seelenzerstückelungsstücks als – Zitat – „ganz große Liebesgeschichte“ an. Er lässt Beglaus Martha und Hackers George ihre tiefenpsychologische BDMS-Beziehung auf der Bühne mit einem Infight um Georges Hosenreißverschluss beginnen.

Das verbale In-die-Ecke-Treiben wird zum sexuellen Akt: Bibiana Beglau und Norman Hacker. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater

Dank zu viel Alkohol wird daraus mit Sicherheit kein Nick-Fick: Johannes Zirner und Bibiana Beglau. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater

Das In-die-Ecke-Treiben wird somit vom Wortgefecht zum greifbar sexuellen Akt, doch wie bei Kušej Albees Protagonisten heftig aufeinanderprallen, so hart trennt er sie wieder – mittels Blackouts, als müsste per Stromausfall die Hochspannung abgemildert werden. Dass der derart in Tableaux geteilte Text nichts an seiner emotionalen Intensität, sie scheint Kušej wichtiger als der scharfanalytische Gesellschaftskritikblick, den man aus anderen Aufführungen kennt, verliert, ist dem grandiosen Darstellerquartett zu danken. Allen voran der prima inter pares dieses Abends, Bibiana Beglau, die ihre Martha zetern und keifen, wimmern und anklagen lässt. Mit großer Lust am Vulgären gestaltet sie diesen im Wortsinn Man-Eater, doch kann in Windeseile von tyrannischer Verführungskunst zu würgender Traurigkeit, von furioser Salonlöwin zu gehässiger Megäre wechseln.

Gleichzeitig verletzend und verletzlich wirbt sie um ihren Mann, dem Norman Hacker Kontur verleiht. Sein George ist alles andere als der übliche Schwächling, im Gegenteil mimt er den abgeklärten Intellektuellen, für den die akademische Laufbahn angeblich bedeutungslos ist, der aber in Wahrheit seine Wunden mit süffisantem Sarkasmus und einer schaumgebremsten Schadenfreude pflegt. So beklemmend erst Marthas und Georges Versuch, sich vor den Gästen heiter zu geben, ist, so furchterregend wird die Stimmung je mehr sich die Gewaltspirale in die Höhe schraubt. „Gut, besser, am besten, bestialisch“, steigert der bis aufs Blut reizende George seine Martha, und gibt sich nach ihrem misslungenem Fick mit Nick vollkommen gleichgültig. Da mutiert Martha kurz zum nackten Elend, und die kleine Geste, mit der George der unbekleidet Hingestreckten schnell sein Sakko überwirft, sagt mehr über die beiden aus, als ihr fortwährendes Geplänkel. Sie rafft sich aber rasch wieder auf, um dem Koital-Versager den Rest zu geben.

Und während solcherart die Handgreiflichkeiten handfester werden, es George gelingt, der Runde Geständnisse zu entlocken, die er im Handumdrehen gehen sie einsetzt, versucht Johannes Zirner als erst herzenskalter, nun in Grund und Boden erniedrigter Ehrgeizling Nick zumindest seine Männlichkeitsfassade aufrecht zu erhalten, indem er sich Honey gegenüber immer brutaler und unflätiger benimmt. Schon glaubt man, dass die Jungen jederzeit die Plätze der im eigenen Wahnwitz brodelnden Gastgeber einnehmen werden. Doch Nora Buzalkas Honey ist nicht bereit sich unterkriegen zu lassen, sie stattet die sonst meist unbedarft Naive stattdessen mit aufbegehrendem Stolz und trotziger Würde aus. Es ist dieser Charakter von dem es anzunehmen gilt, dass er diese durchsoffene Nacht am ehesten unbeschadet übersteht.

Smalltalk überm Scherbenhaufen: Norman Hacker, Bibiana Beglau, Nora Buzalka und Johannes Zirner. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater

Bis dahin aber brechen die Krusten der Gutbürgerlichkeit auf, darunter fließt ein Lavastrom alles verzehrender Leidenschaften, und Martha begeht den Kardinalfehler, das einzige ihr von George verbotene Thema aufs Tapet zu bringen, den „verstorbenen Sohn“, die gemeinsame, vor der Außenwelt bis dahin beschützte Illusion des nachkommenlosen Paares – mit der Folge: totale Eskalation, inmitten der George Martha zwingt, sich von der Flucht in ihre Vater-Mutter-Kind-Fantasiewelt zu verabschieden. Nie traf Sartres Spruch „Die Hölle, das sind die anderen“ trefflicher zu, als auf Albees Viererbande.

In der Kušej-Produktion strecken Martha und George am Ende erschöpft die Waffen, bevor sie nach seiner Hand tastet und sie schließlich in die ihre nimmt. Man wünscht den beiden, dass sie’s vom von Kušej mit Verve befeuerten Ehe-Inferno jetzt endlich über den Läuterungsberg im Purgatorio schaffen.

www.burgtheater.at

  1. 9. 2019