Theater in der Josefstadt: Anna Karenina

September 2, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Unterkühlte Erotik auf dem Eislaufplatz

Der Josefstädter Eislaufverein: Alexandra Krismer, Alexander Absenger, Alma Hasun, Claudius von Stolzmann und Silvia Meisterle. Bild: © Moritz Schell

Zum Auftakt der Wiener Theatersaison hat Regisseurin Amélie Niermeyer, die 2019 mit ihren Ideen zu Tschechows „Kirschgarten“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36654) am Haus so großartig reüssierte, fürs Theater in der Josefstadt „Anna Karenina“ inszeniert – immerhin mit dem Vermerk „nach Leo Tolstoi“, in einer Fassung von Armin Petras, die Niermeyer um ihr spannend erscheinende Aspekte aus

dem 1000-Seiten-Weltliteratur-Wälzer ergänzte. Das Ergebnis, bei der gestrigen Premiere präsentiert, ist … so lala, oder positiver formuliert: Ein Abend, auf den man sich einlassen wollen muss, doch selbst wenn’s wie hier am guten Willen nicht fehlte, sind die drei Stunden Spieldauer sehr lang. Längen die gar nicht notwendig wären, würde Niermeyer auf mehr Energie und weniger elegische Überdehnung der Szenen setzen. Das Ensemble dafür hätte sie allemal an der Hand, nur dass dieses im auch schon überstrapazierten Mix aus Dialog/direkter Rede, innerem Monolog und epischem Erzählton in der dritten Person in seltenen Momenten zum Spielen kommt.

Eine Kunst ist es jedenfalls, Tolstois 29-köpfiges Gesellschaftspanorama auf ein Acht-Personen-Kammerspiel zu reduzieren. Niermeyer konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Anna Karenina, Alexej Karenin und Alexej Wronski, den die Aberkennung der Offizierswürde zum hauptberuflichen Erben mit Rich-Kid-Anwandlungen degradiert, Stepan und Dascha Oblonskij, die beiden alles andere als ein Fürstenpaar, sondern biedere Mittelstandspleitiers, sowie Daschas Schwester Kitty mit Verehrer Kostja Ljewin.

Letzteren hat Niermeyer als ihren Spokesman deutlich aufgewertet, der Sozialrevolutionär ist es, der sich über „Das Kapital“-Themen wie Neuordnung von Besitzverhältnissen und Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse auslassen darf, ein ewig Zweifelnder und unablässig Sinnsuchender, wobei ihm Niermeyer laut Programmheft-Interview gleich auch noch die CoV19-Pandemie samt nihilistischen Todesfantasien und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zum Theoretisieren mit auf den Weg gibt. Dass ausgerechnet dieser Gutsbesitzer Lewin mit seinen Plänen zur Reformierung der Landwirtschaft an der Trägheit des Bauernstands scheitert, mag als Fingerzeig auf bevorstehende Wahlen gedeutet werden.

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Mit diesem ersten Satz Tolstois beginnt auch Niermeyer, der Text läuft über einen semitransparenten Vorhang, bis der sich hebt und man sich auf einem Eislaufplatz wiederfindet. Auf diesem – wie sich bald herausstellen wird – dünnen Eis dreht der Josefstädter Schlittschuhverein seine Kreise: Alexander Absenger als depressiv-tollpatschiger Philosoph Lewin, der sich von Alma Hasuns exaltierter Hyper-Hyper-Kitty einen Korb holt, weil die Eisprinzessin den Wronski liebt, Claudius von Stolzmann, der sich mit einer Pirouetten-Drehung aus der Dreier-Situation nimmt, nur um jetzt mit einem Doppeldreier aufzukommen: Anna Karenina, die auf dem Bahnsteig steht.

Silvia Meisterle, Cornelius Bruckmann, Raphael von Bargen. Bild: © M. Schell

Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Als diese zeigt Silvia Meisterle eine ihrer besten Leistungen bisher, ihre Karenina ist modern, mondän, ausgestattet mit der zynisch-unterkühlten Erotik einer Femme fatale. Mit ihrem Trolley könnte sie glatt als Businessfrau anno 21. Jahrhundert durchgehen, längst hat sie an Karenins Seite gelernt ihre Emotionen auf Eis zu legen, und dann ist da plötzlich einer, der das Eis crushen will. Diese Anna ist mehr Schwester von Nora oder Hedda Gabler als eine der Russinnen ihrer Zeit. Zu dieser Anna passt, dass Niermeyer unter Verwendung der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze den Frauenfiguren Textpassagen, die im Original von Männern gesprochen werden, von ihr so genannte „inhaltlich relevante Passagen“ zuschreibt.

Zu den zeitgenössischen Outfits von Christian Schmidt hat Bühnenbildnerin Stefanie Seitz in Rechtecke unterteilte Wände erdacht, die verschiedenfarbig beleuchtet werden können, mitunter lässt sich ein häuslicher Wolkenstore gleich Gitterstäben herunter  – und um Rilkes Poem über Selbstentfremdung und Im-Kreise-Gehen zu bemühen: „hinter tausend Stäben keine Welt“. Auf der Bühne steht außerdem ein für Loops an einen Laptop angeschlossenes Keyboard, an dem Kitty die anderen mit ihren „Kompositionen“ quält, Imre Lichtenberger Bozokis eigens für die Aufführung geschaffene Musik erklingt, oder auch mal „Rasputin“ von Boney M., Schostakowitsch und Chick Coreas „Childrens’s Song No.6“ – gespielt von Raphael von Bargen als berührend gequältem Karenin.

Auch diesen hat Niermeyer in ein interpretatorisch neues Gewand gehüllt, der Charakter oft als spießiger und engstirniger Aktenvernichter gelesen, ist bei ihr ein sympathischer, dessen fatale „Sünde“ es ist, zu lange zuzuwarten: „Durchdenken, entscheiden, ad acta legen“, auch dieses Motto eines Staatsdieners hochaktuell. Doch lässt er sich erst noch von Sohn Serjoscha, Cornelius Bruckmann, im Holzschwerter-Duell auf lustigeste Art besiegen, lässt er alsbald seinen Frust an dem Buben aus, der daraufhin zum seelischen Krüppel mutiert, während der Vater am Sorgerechtsstreit zerbricht. Ach ja, die russischen Neurosenkriege!

Alexandra Krismer und Alma Hasun. Bild: © Moritz Schell

Alexander Absenger und Alma Hasun. Bild: © Moritz Schell

Robert Joseph Bartl als „Tanzmeister“. Bild: © Moritz Schell

Auch Kittys Unglücksball findet als Holiday on Ice statt, zu „Stepan“ Robert Joseph Bartls Anweisungen als „Tanzmeister“ wird sich zur Quadrille in Pose geworfen. Bartl kommt die Aufgabe als fröhlichem Hedonisten zu, der um sein Ablaufdatum weiß. Stepan ist einer, der den unfairen Bonus und die Privilegien seiner gewichtigen Position mit Vergnügen und ohne Skrupel genießen will, und glaubhaft erzählt Alexandra Krismer von einer Frau, Dascha, die einzig wegen der sechs Kinder beim notorischen Fremdgeher und gleichzeitigem Pantoffelheld bleibt, und seit langem an ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter ver-/zweifelt.

Das alles wird mehr geschildert denn gespielt. Das große Problem des Abends ist, man hört, aber man fühlt nicht. Weder, dass Anna wie angesagt zum ersten Mal Liebe, Lust und Leidenschaft erfährt, ihr Inneres scheint kalt und leer bis zum bitteren Ende, noch dass mit Wronski endlich befriedigender Sex im Spiel ist – trotz nackter Umarmung. Dass Claudius von Stolzmann Umberto Tozzis „Gloria“ zu einem Karaoke-„Anna Wronskaja“ umdichtet, wird zwar mit Szenenapplaus bedacht, aber bitte wieso wird diese Figur mit allerlei Schnickschnack so verjuxt? Warum sich Anna und Wronski am Schluss bis aufs Blut entzweien, es geschieht so unvermittelt, dass es schleierhaft bleibt. Okay, er hat die Allüren dieser Frau endgültig satt, aber war da zwischen zwei Buchdeckeln nicht noch mehr Inhalt? So bleibt Annas Selbstzerstörungstrip im Eisenbahndampf nebulös.

In den zweifellos unterhaltsamen Passagen (Lewin wirft Heuballen auf die Bühne, dazu Quieken und Muhen im Stall Schwein und Kuh; später fragt Wronski im Wohnsalon irritiert: „Was machen eigentlich diese Heuballen hier?“) zerfasert die Inszenierung nach der Pause auch ästhetisch in zwei Teile: Plötzlich Videozuspielungen von Annas und Wronskis Europatrip, oligarchischer Großeinkauf von Kunst, Meisterles hysterisches Lachen eine Schmierenkomödie für von Stolzmann, ein Palais in Venedig, das nach erster Euphorie über die Kronleuchter – der der Josefstadt senkt sich – schnell als modrig stinkend wahrgenommen wird. (Der Anna traumatisierende Tod der gemeinsamen Tochter Annie ist weniger als eine Fußnote.) Also zurück: Nach Moskau! Nach Moskau! In die Gefühlskälte. Wo Anna wiederum via Video von Spukbildern Karenins, Wronkis und Serjoschas heimgesucht wird. Der Pas de deux auf Kufen ist ausgetanzt.

Dieser zweite Teil, wiewohl besser als der langatmige erste, zeigt: Es fehlt dem Ganzen an Stringenz und einheitlicher Linie. Man versteht Niermeyers Intentionen bezüglich Zeitlosigkeit, betreffs schneidend klar wie Firn, aber der große Zusammenhang, der große Wurf gelingt ihr mit dieser frostigen Regiearbeit nicht. Vielmehr verheddert sich Niermeyer auf ihrer Suche nach einer so aktuellen wie allgemeingültigen Aussage in den „Liebesg’schichten und Heiratssachen“ statt aus Tolstois Meisterwerk eine wirkmächtige Essenz zu destillieren. In der Josefstadt kommt nach dem unvermeidlichen Zug noch der große Regen. Auch im Roman wird nach Annas Freitod 80 Seiten lang das Weiterleben der anderen beleuchtet: Kitty und Lewin lassen ihren Sohn Mitja taufen. Und trotz des schweren Gewitters schließt Kitty mit dem Satz: „Überhaupt war der ganze Tag so angenehm.“ Tja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben …

www.josefstadt.org

  1. 9. 2022

Erste Selenskyj-Biografie / Robert Misiks Putin-Analyse

Juni 30, 2022 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Heute Abend: Das erste Selenskyj-Interview in Österreich

Gebannt blickt die Welt seit Monaten auf die Ukraine und deren Präsidenten. Nun erscheint am 25.  Juli, das E-Book bereits am 11. Juli, auch hierzulande die erste Wolodymyr-Selenskyj-Biografie des ukrainischen Journalisten Sergii Rudenko, die vom Autor für die deutschsprachige Ausgabe freilich aktualisiert wurde. 

„Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“. Im Februar 2022 geht dieser Satz um die Welt. Über Nacht wird Wolodymyr Selenskyj vom angeschlagenen Präsidenten der gefühlt fernen Ukraine zur zentralen Figur im Kampf für ein freies Europa. So wenig sich der Westen trotz des Kriegs im Donbass für die Ukraine interessierte, so wenig war bekannt über den Mann, der vom Juristen zum Komiker zum Staatsmann geworden war und nach den Maidan-Protesten gegen Korruption und für eine Annäherung an Europa antrat.

Sergii Rudenko, seit vielen Jahren Journalist in Kyjiw, hat Selenskyjs erste Biografie geschrieben. Sein Buch ist die ausgewogene Geschichte eines ungewöhnlichen Politikers, das lebendige Porträt eines Helden, der keiner sein wollte – und eine unverzichtbare Quelle für alle, die den Mann verstehen wollen, der

Putin die Stirn bietet und mit seinem Land längst zum Verteidiger der freien Welt geworden ist. Das große politische Buch über ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – ein notwendiger Blick in die jüngere Geschichte der Ukraine …

Über den Autor: Sergii Rudenko, geboren 1971, ist ein in Kyjiw beheimateter ukrainischer Journalist. Im ukrainischen Programm der Deutschen Welle ist er mit einer wöchentlichen Kolumne vertreten. Außerdem ist er leitender Redakteur beim privaten Informationssender Espreso.tv, der 2014 aus der Maidan-Bewegung hervorgegangen ist. Sein in der Ukraine 2020 erschienenes Buch ist die erste Biografie Selenskyjs und wurde für die internationale Publikation aktualisiert.

Hanser Verlag, Sergii Rudenko: „Selensky. Eine politische Biografie“, Sachbuch, 224 Seiten. Übersetzt aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten und Jutta Lindekugel. 

www.hanser-literaturverlage.de

Über Wolodymyr Selenskyj: Wolodymyr Selenskyj ist seit Mai 2019 der Präsident der Ukraine. In seinem Heimatland wurde er außerdem bekannt als Schauspieler, Kabarettist, TV-Moderator und Filmemacher. Er war Mitinhaber und künstlerischer Leiter des Filmstudios Kvartal95/Wohnblock 95 und Produzent des Fernsehsenders Inter. Selenskyj wurde 1978 in einer jüdischen Familie in Kriwoi Rog in der Ukraine geboren. Sein Vater ist ein ehemaliger Kybernetik-Professor, seine Mutter Ingenieurin. Nach der Matura 1995 studierte er Rechtswissenschaft in Kyjiw, arbeitete jedoch nie als Jurist. Stattdessen zog es ihn in die Unterhaltungsbranche: Ab 1997 war er mit seiner Kabarettgruppe Kwartal 95, mit der später eine Fernsehproduktionsgesellschaft entstand, auf Tour durch Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Durch die Teilnahme an der ukrainischen Version der TV-Show „Dancing with the Stars“  wurde Selenskyj 2006 landesweit bekannt. Weitere Popularität erlangte er als Schauspieler: 2015 war er in der satirischen TV-Serie „Sluha narodu“/“Diener des Volkes“ zu sehen. Ähnlich wie in seiner eigenen Lebensgeschichte wird auch seine Figur Wassilyj Petrowytsch Holoborodko zum Präsidenten der Ukraine gewählt. 2016 wurde ein Film zur Serie ausgestrahlt. Danach mehrten sich Gerüchte, dass Selenskyj für das Amt des Präsidenten kandidieren werde.

Bild: pixabay.com

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Im März 2018 wurde tatsächlich die nach dem Fernseherfolg genannte Partei Sluha narodu gegründet. Am Silvesterabend 2018 gab Selenskyj dann seine Präsidentschaftskandidatur bekannt. Er siegte in der Wahl und wurde am 20. Mai 2019 zum sechsten Präsidenten der Ukraine. In seiner teils auf Ukrainisch, teils auf Russisch gehaltenen Antrittsrede erklärte er die Aufhebung der Annexion der Krim durch Russland sowie das Vorgehen gegen die prorussischen bewaffneten Separatisten in den ostukrainischen Oblasten Donezk und Donbass zu seinen vorrangigen politischen Zielen – militärische Konflikte, die seit 2014 zunehmend eskalierten.

Selenskyj kündigte außerdem an, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben und eine Initiative gegen Bereicherung im Amt einleiten zu lassen. Zusätzlich strebe er die Entlassung des Generalstaatsanwalts und des Geheimdienstchefs an und legte der gesamten Regierung den Rücktritt nahe. Bei den Neuwahlen gewann seine Partei 424 von 254 Parlamentssitzen. Selenskyj verabschiedete mithilfe des neuen Parlaments ein Lobbygesetz, das den Einfluss der Oligarchen offenlegte und beschnitt. Seit Geltung dieses Gesetzes ist es Oligarchen in der Ukraine verboten, Parteien zu finanzieren. Amtspersonen müssen zudem jedes nicht-öffentliche Treffen mit Oligarchen deklarieren.

2020 machte Selenskyj das jüdische Neujahrsfest Roch ha-Schana zum nationalen Feiertag. Weitere Kernanliegen vor dem derzeitigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine waren die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Schaffung eines Marktes für Agrarland sowie die geographische Lage der Ukraine stärker zu nutzen, um sie als Transitland zwischen Europa und Asien attraktiv zu machen. Auch sollte die Ukraine unabhängiger von russischer Energie werden. Natürlich ist auch Selenskyj – zumindest bis vor seinem aktuellen Heldenstatus – nicht unumstritten gewesen, sei es wegen seiner Nähe zum ehemaligen PrivatBank-Gründer Ihor Kolomojskyj oder seinen Entwürfen zu einem neuen Arbeitsrecht mit At-Will-Employment und Null-Stunden-Verträgen, gegen die nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch Human Rights Watch protestierten. Im Oktober 2021 wurde im Zuge der Pandora Papers vermutet, dass Selenskyj eine Briefkastenfirma in einer Steueroase betrieben haben soll.

Erstmals in die internationalen Schlagzeilen geriet Selenskyj, nachdem ihn der damalige US-Präsident Donald Trump in einem Telefonat im Juli 2019 aufgefordert hatte, Ermittlungen gegen Joe Biden, seinen Gegenkandidaten im Präsidentschaftswahlkampf, anzustellen. Als Gegenleistung sollte die Ukraine Militärhilfe erhalten. Nach Bekanntwerden des Telefonats musste sich Trump einem Amtsenthebungsverfahren stellen. Selenskyj erklärte, dass ihn als Präsident eines unabhängigen Landes niemand unter Druck setzen könne. „Ich bin eine absolut unabhängige Person. Ich möchte niemanden beleidigen, aber derjenige, der mich kontrollieren wird, ist noch nicht geboren“, so Selenskyj. Privates: Selenskyj ist seit 2003 mit Olena Selenska erheiratet. Das Paar hat zwei Kinder, Oleksandra, geboren 2004, und Kyrylo, geboren 2013.

4GAMECHANGERS: Das erste Interview mit Wolodymyr Selenskyj in Österreich

Heute Abend, 20.35 Uhr, holen die Kooperationspartner ORF und PULS 4 Wolodymyr Selenskyj – unter Vorbehalt aktueller Ereignisse – für ein Livegespräch zum 4GAMECHANGERS Festival virtuell nach Wien. Via Live-Schaltung wird der ukraininsche Präsident vor vor 4.000 ZuseherInnen in der Marx Halle und vorm Fernsehpublikum einen Appell an die ÖsterreicherInnen richten und über die humanitäre Situation und die aktuelle Lage in der Ukraine berichten. Er spricht  im Beisein von Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Karl Nehammer.

Link zum Live Switch In / Wolodymyr Selenskyj beim 4Gamechangers-Festival: 4gamechangers.io/de/s/wolodymyr-selenskyj

Robert Misik: Putin. Ein Verhängnis

Ebenfalls im Juli erscheint „Putin. Ein Verhängnis“ von Robert Misik. Der Journalist und Sachbuchautor zeichnet ein Regime und das Charakterbild eines rücksichtslosen Despoten, der Europa die Friedensordnung raubt, an die man sich gewöhnt hatte.

Wladimir Putin hat alle an der Nase herumgeführt. In den Neunziger-Jahren galt er als Demokrat, doch bewunderte Augusto Pinochet. Nachdem er sich ins Präsidentenamt trickste, beginnt er mit einer Seilschaft hartgesottener KGB-Leute, Russland zur autokratischen Despotie umzuwandeln. Und genauso schnell bastelt er sich eine Staatsphilosophie. Deren Elemente: autokratischer Führerkult, Patriotismus, Imperium, orthodoxe Spiritualität – und Gekränktheit.

Dabei stützt er sich auch auf faschistische Denker, etwa auf Ivan Iljin, der Hitler und Mussolini hochschätzte. Und er spinnt Netzwerke im Westen, um die Demokratien zu spalten. Putin stilisiert sich zum harten Kerl, zum starken Mann, mit vulgärer Sprache und einer Rhetorik der Gewalt. Nach dieser Lektüre bleibt nur die Frage: Wie konnte die Welt so blind sein?

Über den Autor: Robert Misik, geboren 1966, ist Journalist und politischer Schriftsteller und schreibt regelmäßig für die Berliner tageszeitung, Die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung und den Falter. Zahlreiche Preise, etwa der Bruno-Kreisky-Förderpreis, 2010 Journalist des Jahres in der Kategorie Online, 2009 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen im Picus Verlag „Was Linke denken“, „Ein seltsamer Held“, „Herrschaft der Niedertracht“ und „Die neue (Ab)normalität“. 2022 erscheint „Putin. Ein Verhängnis“. Auf der Homepage des Autors www.misik.at findet sich auch der Link zur zehnteiligen Blog-Reihe „Putin vestehen – Die Serie“.

Picus Verlag, Robert Misik: „Putin. Ein Verhängnis. Warum Wladimir Putin Russland in eine Despotie verwandelte und jetzt Europa bedroht“, Sachbuch, 176 Seiten.

www.picus.at           www.misik.at

Über Wladimir Putin: Putin kam 1952 in Leningrad, heute Sankt Petersburg, als Kind eines kommunistischen Fabrikarbeiters zur Welt und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Er war das dritte Kind der Familie, seine beiden Brüder starben schon im Kindesalter. Schon als Jugendlicher interessierte sich Putin für Kampfsportarten, mit 18 Jahren erreichte er im Judo den schwarzen Gürtel.

Nach der Schule studierte er Jus, um 1975 als Agent in den Dienst des KGB zu treten. In den Anfangsjahren arbeitete er überwiegend in der Auslandsspionage. Mitte der 1980er-Jahre ging er mit seiner Frau Ljudmila, einer Deutsch-Dozentin, die er 1983 geheiratet hatte, nach Deutschland. In Dresden wurde ein Jahr nach der Geburt seiner ersten Tochter Maria in Leningrad, 1986 die jüngere Tochter Jekaterina in Dresden geboren. Während er offiziell für das deutsch-sowjetische Freundschaftshaus in Leipzig zuständig war, warb er tatsächlich Agenten in Ost- und West-Deutschland an. Putin spricht fließend Deutsch.

Bild: pixabay.com

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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte er 1990 zurück nach Russland. Ab 1997 arbeitete Putin im Kreml und wurde dort Leiter des föderalen Sicherheitsdienstes und 1999 Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Boris Jelzin. Im gleichen Jahr übernahm Putin das Amt des Ministerpräsidenten. Ein Jahr später gewann er mit absoluter Mehrheit die Präsidentschaftswahlen und wurde zum Nachfolger Jelzins, der ihn als seinen Wunschkandidaten vorschlug. In Putins erste Amtszeit bis 2004 fallen der erste und zweite Tschetschenienkrieg, doch konnte sich Russland auch wieder als Supermacht etablieren. Die Wahl zum Präsidenten, die Putin inzwischen viermal für sich entscheiden konnte, stufen internationale Beobachter weder als frei noch als fair ein.

Spätestens seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 ist deutlich, dass Wladimir Putin ein Machtmensch ist und dass er den Zusammenbruch des Sozialismus als Demütigung empfindet. Die Annäherungen des Westens und die Ausdehnung des Militärbündnisses Nato in die ehemaligen Sowjetischen Staaten beunruhigen ihn zunehmend. Die weitere Demokratisierung der Ukraine führte letztendlich dazu, dass Russland am 24. Februar 2022 mit einem Großaufgebot an Soldaten und Waffen im „Bruderstaat“ einmarschierte. Täglich berichten seither die Medien vom russischen Terror und von gezielten Anschlägen auf die Zivilbevölkerung.

Wladimir Putin insziniert sich gern als Macho und Naturbursche. Für mediales Aufsehen sorgten seine arrangierten Urlaubsfotos aus dem August 2007, die ihn mit nackten Oberkörper auf einem Pferd reitend zeigten. Er setzt sich für die Sibirischen Tiger ein, gibt für weltweit veröffentlichte Fotos schon mal einem Elchkalb das Fläschen oder geleitete Kraniche im Ultraleichtflieger in die Freiheit.  2014 wurde die Scheidung von seiner Frau Ljudmilla bekannt. Schon vorher, ab 2008, soll er mit der ehemaligen Rhythmischen Sportgymnastin und Olympiateilnehmerin Alina Kabajewa liiert gewesen sein, auch gemeinsame Kinder sollen existieren.

30. 6. 2022

Kammerspiele: Was ihr wollt

April 28, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Weil ich ein Mädchen bin …

Helden in Strumpfhosen: Markus Kofler, Matthias Franz Stein, Alexander Strömer, Dominic Oley, Tamim Fatal, Ljubiša Lupo Grujčić. Bild: © M. Schell

Wer hätte gedacht, dass sich im Josefstädter Ensemble derart viele herrliche Dragqueens verstecken? Auf die man noch dazu nur neidisch sein kann, weil – nackte Männerbrust hin oder her – wow, gibt es da sexy Beine zu sehen … In den Kammerspielen der Josefstadt zeigt Regisseur Torsten Fischer Shakespeares „Was ihr wollt“ in (bis auf Maria Bill als melan- cholischem Clown) männlicher Besetzung. Der Kniff passt zum britischen Barden, durfte doch zu dessen Lebzeiten keine Frau auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stehen. Fischers gemeinsam mit Herbert Schäfer erstellte modernisierte Textfassung sprüht nur so vor Bonmots und Pointen.

Ist an den passenden Stellen derb, an den richtigen elegisch. Die Darsteller scheuen mitunter auch vor tief aus der Klamottenkiste geholtem Klamauk nicht zurück, und sind in ihrem Spiel in dieser irrwitzig wortwitzigen Romantic Comedy dergestalt stark, dass selbst ein gutgetrimmter Dreitagebart der Illusion keinen Schaden zufügen kann. Und wenn’s die Helden in Strumpfhosen gar zu bunt treiben, unterbricht die Bill als Botin aus einem weniger leichten Leben in den hochemotionalsten Momenten und singt Astor Piazzola.

„Rinascerò“ nach dem mit Tamim Fattal und Ljubiša Lupo Grujčić mehrsprachig erlittenem Schiffbruch, „Los Pájaros Perdidos“ wenn Herzen brechen, „Oblivion“ hat sie selbst übersetzt. Tango Argentino, Tango Nuevo, Musik vom Rio de la Plata, die hier Krzysztof Dobrek am Akkordeon und der Geiger Aliosha Biz alternierend mit Nikolai Tunkowitsch interpretieren. Allein diese Augenblicke sind den Besuch der Vorstellung wert und wurden vom gestrigen Publikum auch mit Szenenapplaus bedankt.

Die Handlung ist tatsächlich sehr geschlechterfixiert: In Illyrien schmachtet Herzog Orsino nach der Hand der Gräfin Olivia, die sich jedoch in der Trauer um den hingeschiedenen Vater und Bruder ergeht. Da stranden die Zwillinge Viola und Sebastian an der Küste, allerdings im jeweiligen Glauben das andere Geschwister sei ertrunken. Viola verkleidet sich als Jüngling „Cesario“ und tritt in die Dienste Orsinos. Beauftragt mit dessen Liebeswerben entbrennt Olivia für den „jungen Mann“.

Rehrl, Niedermair und von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Ach, armer Rehrl! – Ich kannte ihn: Mit Clownin Maria Bill. Bild: © Moritz Schell

Dick und Doof: Robert Joseph Bartl und Matthias Franz Stein. Bild: © M. Schell

Alldieweil versuchen Olivias Onkel und Trunkenbold Sir Toby und Kammerkätzchen Maria den um Olivia werbenden, reichen, aber dümmlichen Sir Andrew auszusackeln; der Olivia besitzen und die Schluckspechte ausmerzen wollende Haushofmeister Malvolio wird per Intrige zum Narren gemacht, Stichwort: Komm‘ im gelben Höschen, dann zeig ich dir mein Möschen. Sebastian erscheint. Orsino und Olivia fighten um den schönen Knaben, der sich zum Glück als zwei vom jeweils angemessenen Sexus entpuppt. Ende gut, Torsten Fischer, denn der Regisseur demontiert die altväterische Ordnung. Immerhin Sir Toby heiratet Maria. Das alles ereignet sich auf der reinweißen Bühne der Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos. Vorne gibt es einen Spalt für freiwillige und unfreiwillige Abgänge.

Julian Valerio Rehrl spielt niemals travestiehaft, sondern subtil Viola/“Cesario“ und Sebastian, als zweiterer ein burschikoser Haudrauf, als erstere von einer Delikatheit und Zartheit, die nicht nur den Herzog verwirrt. Als solcher bleibt Claudius von Stolzmann hinter seinen Möglichkeiten, die blass geschminkten Gesichter müssen ja nicht in ebensolches Agieren ausarten, mag aber auch sein, dass man von seinem fulminanten Mackie Messer immer noch in der Weise eingenommen ist, dass jede andere Rolle dagegen bis auf Weiteres …

Claudius von Stolzmann, Julian Valerio Rehrl. Bild: © M. Schell

Die Schiffbrüchigen, Mi.: Rehrl als Viola. Bild: © Moritz Schell

Martin Niedermair als liebestrunkene Olivia. Bild: © Moritz Schell

Dominic Oley als verhöhnter Malvolio. Bild: © Moritz Schell

Martin Niedermair ist ganz großartig als beständig am Rande der Hysterie wankende Olivia, die Lady ein Fashion Victim im schwarzen Reifrock und mit extravaganten Hüten – und in Strapsen hinreißend! Alexander Strömer gibt lustvoll die rachsüchtige Kammerzofe Maria (im Rockabilly-Kleid), die mit Sir Toby, Sir Andrew und Ljubiša Lupo Grujčić als Diener Fabian jenen sinistren Plan gegen Malvolio schmiedet. Wobei Robert Joseph Bartl als nie nüchterner Sir Toby und Matthias Franz Stein als „Ich will nach Hause“ wimmernder Sir Andrew als Doubles von Laurel und Hardy – inklusive Saloontänzchen zu „Jerusalema“ – auftreten: Zwei Herren dick und doof. „Er liebt Verkleidungen und Rollenspiele“, sagt Sir Toby über Sir Andrew. Na dann.

Fischer versteht es, Shakespeare zu aktualisieren, ohne sich zu weit von ihm zu entfernen und doch überkommene Geschlechterrollen aufzuzeigen. Bisexualität auszuleben ist in dieser Welt kaum mehr kontroversiell, dagegen kann man als Mann immer noch misogyne Frauenbilder propagieren. Ein Beispiel: Nicht einmal die frauenfeindliche Tirade des Herzogs  – „Frauen haben kleinere Herzen als Männer“ – kann Violas Gefühle trüben. Allein für Orsino dauert es etwas länger, sich diese einzugestehen, muss er sich doch damit abfinden, sich vermeintlich in einen Mann verliebt zu haben.

Alexander Strömer als Kammerzofe Maria, Bartl und Stein. Bild: © M.Schell

Szenenapplaus: Die Bill singt Astor Piazzolla. Bild: © Moritz Schell

Mit gefälschtem Brief getäuscht: Dominic Oley als Malvolio. Bild: © Moritz Schell

Wer darf wen wie berühren? Was darf wer zu wem sagen? „Ich glaub, du musst mal wieder flachgelegt werden“, meint Sir Toby zu Nichte Olivia – das klingt von einem an den anderen männlichen Schauspieler adressiert schon ganz anders. Zu all diesen Irrungen und Wirrungen gehört ebenso Markus Koflers Seemann Antonio, der Sebastian rettete und bei Fischer als Flüchtlingsschlepper auftritt. Anno 2022 haben Liebeschwüre, Umgarnungen und Küsse zwischen Männern einen anderen, Vienna-Pride-Subtext als vielleicht ums Jahr 1600.

„Ich konnt‘ Euch so nicht lassen: mein Verlangen, / Scharf wie geschliffner Stahl, hat mich gespornt, / Und nicht bloß Trieb zu Euch / Auch Kümmernis, wie Eure Reise ginge … / Bei diesen Gründen / Der Furcht ist meine will’ge Liebe Euch / So eher nachgeeilt!“, so Antonio. Bleibt als einziger Vertreter toxischer Männlichkeit Dominic Oley als moralinsaurer, alsbald um Contenance ringender Malvolio, als der sich Oley jede nur denkbare Blöße gibt. Und immer wieder fällt, von verschiedenen Figuren gesagt, ein: Macht doch, was ihr wollt. Fazit: Das Publikum, darunter zwei Reihen ukrainischer Schülerinnen und Schüler, lachte bis beinah das Zwerchfell barst. Empfehlung: Schauen Sie sich das an!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=QI9FYFf0bQQ           www.josefstadt.org

28. 4. 2022

Theater in der Josefstadt: Rechnitz (Der Würgeengel)

Januar 16, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Tanz der Nazi-Vampire

Sona MacDonald. Bild: © Philine Hofmann

Sona MacDonald singt „Zu Asche, zu Staub“, den Hit aus der Fernsehserie „Babylon Berlin“, wo ihn die mysteriöse Severija performte: „Du bist dem Tod so nah / Und doch dein Blick so klar / Erkenne mich, ich bin bereit / Und such‘ mir die Unsterblichkeit …“ Sprechen wird Sona MacDonald nicht, sie bleibt beinah zwei Stunden ohne Sprechtext, bevor sie am Ende vor dem Vorhang Zeugnis ablegt. Bis dahin ist die glatzköpfige Schönheit der

Geist der Vergangenheit, eine Endzeitdiva, eine Vampirin (der Eindruck bestätigt sich, als sie einmal Tamim Fattal in den Hals beißt) – eine Spiegelung jener Gräfin Margit Batthyány, auf deren burgenländischem Schloss in der Nacht vom 24. auf den Palmsonntag 25. März 1945 ein Gefolgschaftsfest stattfand. Die Rote Armee rückt näher, da will man sich einmal noch amüsieren, und so lösen sich kurz vor Mitternacht 15 Personen von der Party, um im Kreuzstadl 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter zu erschießen, zu erschlagen, zu verscharren – das Massengrab wurde bis heute nicht gefunden. Dies Massaker hat Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ dramatisch aufbereitet. Wie stets hat sie eine Textfläche verfasst, Botinnen und Boten berichten vom Vorgefallenen, widersprechen sich, wissen’s auch nicht so genau.

Seit der Uraufführung durch Jossi Wieler 2008 hat man „Rechnitz“ nun schon einige Male gesehen, und die meisten Inszenierungen hangelten sich an der Wieler-Arbeit entlang. Jetzt hat Regisseurin Anna Bergmann, die an der Josefstadt schon „Fräulein Julie“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=15214) und „Madame Bovary“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=28773) realisierte, einen ganz anderen, außergewöhnlichen Blick auf das Werk geworfen. Sie hat zum einen die Botinnen und Boten zu Typen gemacht: ein Waffenmeister, ein SS-Mann, ein Nazi-Bonze, ein Priester, eine Society-Lady, Köchin, Magd, Chauffeur, Fleischhauer, Oliver Rosskopf als der örtliche Gestapo-Führer Franz Podezin, Götz Schulte als Gutsverwalter Hans Joachim Oldenburg, Dominic Oley als Ehemann Graf Ivan Batthyány …

In der Szene „Eine Vorstadtsiedlung“ hat sich schon die Ur-Wiener Nachkriegsgemütlichkeit breitgemacht. Mit Käsekrainern am Kugelgrill und Robert Joseph Bartl als populistischem Politiker samt Rauhaardackel, der sein „So sind wir nicht“ erklärt, und hofft, „dass die bloß nix ausgraben“. Oder Dominic Oley, Oliver Rosskopf und Götz Schulte als den „Hiesiegen“, denen die bekannte Textstelle: „Es können nicht alle Opfer sein!, jemand muss auch Täter sein wollen, bitte melden Sie sich, wir brauchen jeden Täter, den wir kriegen können, denn dann können wir uns selbst dazurechnen, ohne dass man es merkt …“ nachgeboren, unschuldsvermutend von den Lippen perlt.

Tamim Fattal und Michaela Klamminger. Bild: © Philine Hofmann

Sona MacDonald singt „El male rachamim“. Bild: © Philine Hofmann

MacDonald, Elfriede Schüsseleder und Michaela Klamminger. Bild: © P. Hofmann

Dies der Bergmann zweiter Streich, ihre Spielfassung gliedert den Text in vier Bilder, „Das Fest“, „Die Dienstbotenküche“, „Das Massengrab“, eben „Eine Vorstadtsiedlung“ und einen Epilog für die MacDonald – doch wenn man eine derart grandiose Sängerin an der Seite hat, wäre es eine Schande sie nicht singen zu lassen. Bühnenbildnerin Katharina Faltner hat ein sich drehendes Rundpodest gebaut, die oftmals gewechselten Kostüme sind von Lane Schäfer, in der Mitte Sona MacDonald in Gottesanbeterinnen-Grün, und rund um sie shaken und schütteln sich die Zombie-Blutsauger im Danse Macabre. Tanz der Nazi-Vampire! Ein erstes der folgenden überwältigenden Bilder. Ein Näherrücken-Lassen des Publikums an die Banalität des Bösen, wird doch die Jelineck’sche abstrakte Distanz, die reflexive Ruhe ihrer „Boten“ zum Geschehen durch diese Spielart bis zu einem gewissen Grad ausgehebelt.

Agiert wird intensiv und expressiv. Jede Szene hält für jede Darstellerin, jeden Darsteller – außer MacDonald – eine neue, albtraumhafte Karikatur bereit. Elfriede Schüsseleder ist mal Professorin, mal Köchin, Michaela Klamminger mal Fernsehmoderatorin, mal Magd. Tamim Fatal ist mal Fleischhauer mit blutiger Schürze, dann anrührend das Mordopfer Nikolaus W., dem fröhlich ein Grab geschaufelt wird, in dem der „hohle Mensch“, entleibt seiner Menschenwürde, dem Nichterinnern anheimgegeben, lebendigen Leibes versinken möge. In der Dienstbotenküche singen alle gemeinsam „Is schon still uman See“. Dann senken sich von oben an ein Schlachthaus gemahnende Plastikplanen herab, hüllen die Manege des Grauens ein. Durch die rotmilchigen Folien sieht man einen nackten Männerkörper an einem Fleischerhaken, er zappelt, windet sich, stöhnt.

Das Ensemble beim Untotentanz. Bild: © Michaela Mottinger

Jagdgesellschaft: Robert Joseph Bartl, Tamim Fattal, Dominic Oley, Elfriede Schüsseleder, Michaela Klamminger und Oliver Rosskopf. Bild: © Philine Hofmann

Götz Schulte, Dominic Oley, Robert Joseph Bartl und Elfriede Schüsseleder. Bild: © Philine Hofmann

Sona MacDonald, Tamim Fattal, mit den Schaufeln: Götz Schulte und Dominic Oley. Bild: © Philine Hofmann

Es naht die Zeit der Abschüsse. Sona MacDonald, die brillante Performerin kann auch Oper. Zu „Wie nahte mir der Schlummer“ und „Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen“ aus dem „Freischütz“ kommt die Flinte zum Einsatz. Drei Notenzeilen, drei Mal Anlegen – KlickKnall. In einem fulminanten letzten Auftritt findet Sona MacDonald endlich ihre Sprechstimme, da steht das Schloss schon in Flammen, um die Beweise zu vernichten, und der Daimler zur Flucht bereit. „Ertrage mich jetzt, liebes Land“, fordert die Kriegsverbrecherin von den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Dann die MacDonald auf großer Leinwand, ein stiller Schluss nach all dem vor wütendem Zynismus bebenden Remmidemmi. Sie wandert über den Rechnitzacker zum Kreuzstadl, unterwegs liest sie sterbliche Überreste der Opfer auf, es sind nur noch Knochenfragmente. Auf der Bühne bettet sie sie auf einen Tallit. Sie singt „El male rachamim“, ein Gebet für Begräbnisse, Gemeuchelte der Shoa und dieser Zeiten auch Terroropfer. Welch eine Aufführung, welche ein eindringlicher Appell gegen kollektives Schweigen und lautstarkes Verdrängen. Einmal wirft Elfriede Schüsseleder den Satz in die Arena: „Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch.“ Das ist zwar aus Brechts „Arturo Ui“, deswegen nicht weniger wahr.

Anna Bergmanns Trauerarbeit, die der Jelinek ihr Debüt an der Josefstadt bescherte, überzeugt durch Klugheit, Einfallsreichtum und großem Respekt vor dem Werk der Literaturnobelpreisträgerin. Bergmann hat Jelinek gelesen, neu gelesen. Das exzellente Ensemble, dass sich in seinen Rollen immer wieder selbst erschießt, nur um als Wiedergänger um die nächste Ecke zu biegen, denn solcherart weiß Jelinek, weiß Bergmann stirbt nicht aus, tut das Übrige. Es mag dies der Beginn der etwas anderen Jelinek-Rezeption sein. Und nachdenklich auf dem Nachhauseweg sinniert man über den Spießrutenlauf beim Hinweg zum Theater. Samstag war’s, Corona-Maßnahmen- und Impfgegner-Demonstration am Ring. 27.000 Teilnehmende samt rechtem, nein: nicht Rand, rechter Mitte am historisch missbrauchten Heldenplatz. Und auf dem Podium kreischend geifernd … tja, ja …

www.josefstadt.org           Trailer: www.youtube.com/watch?v=Ahb-OZfVFrs

  1. 1. 2022

Burgtheater: Die Ärztin

Januar 8, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine brillante Fortschreibung des Professor Bernhardi

Die Ärztin vor dem Tribunal einer TV-Talkshow: Sophie von Kessel, Bless Amada, Zeynep Buyraç und Gunther Eckes. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Sich in Wien an eine Schnitzler-Fortschreibung zu wagen, da mag die Angelegenheit andernorts noch so bejubelt worden sein, ist ein Wagnis. Der britische Autor und Regisseur Robert Icke hat gewagt und gewonnen. Icke, von der Orestie bis „Onkel Wanja“ bekannt für diese Arbeitsweise, hat sich den „Professor Bernhardi“ als Vorlage für sein Stück „Die Ärztin“ hergenommen, die hervorragende Übersetzung ins Deutsche stammt von Christina Schlögl.

Entstanden ist so die hochintelligente, hochenergetische, am Ende mit viel Applaus bedankte deutschsprachige Erstaufführung am Burgtheater. Mit einem sich die Seele aus dem Leib spielenden Ensemble, Leib und Seele ja sozusagen die Metareflexion des Dramas, angeführt von der famosen Sophie von Kessel, doch gab’s auch einige – zumindest für einen selbst – neue Gesichter zu entdecken: den in Togo geborenen Bless Amada, seit dieser Spielzeit am Haus, den deutsch-ghanaischen Theater- und Filmschauspieler Ernst Allan Hausmann. Sandra Selimović kennt man unter anderem aus dem Kosmos Theater und dem Werk X, wo auch Zeynep Buyraç künstlerisch verwurzelt ist.

Skurril mutet im Kontext an, wie schubladendenkend Buyraç von den Medien als „erste türkischstämmige Burgtheaterschauspielerin“ präsentiert wurde, ist derlei doch genau das, was Icke nicht will. Icke hält sich in Wien ans erprobte Konzept seiner 2019-Uraufführung am Londoner Almeida: Cross-Casting sowohl was Geschlecht als auch Hautfarbe betrifft. Erst aus den Dialogen entschlüsselt sich, wer hier Mann/Frau, Schwarz/Weiß ist, und diese Erkenntnisse sind allemal für Überraschungen gut – und über allen thront Teresa Müllner am Schlagwerk, die zweieinhalb Stunden lang, auch in der Pause, für Atmosphäre sorgt, einem Herzschlag, einer Hektik, die sich zum Crescendo steigert, einem sanften Vibrieren der Becken für die wenigen stillen Momente.

Die Story, die sich im mit London identen, da ebenfalls von Hildegard Bechtler besorgtem Bühnenbild abspielt, ist auf den ersten Blick nicht allzu weit von Schnitzler entfernt: Professor Ruth Wolff, P.W. – böser Wolf witzeln ihre Kollegen anfangs noch, verweigert einem Priester den Zutritt zu einem an einer Sepsis nach Abtreibung sterbenden Mädchen. Lange ist Wolff wie Bernhardi im Original überzeugt, dass sie es sich leisten könne, sich aus den Querelen und Machtspielen herauszuhalten. Worin sie sich täuscht. Das Ganze gerät zum Skandal, Wolff, die säkulare Jüdin, ins Kreuzfeuer der Kritik. Hier wendet sich das Blatt von 1912, denn Wolff, Leiterin einer prestigeträchtigen Alzheimer-Klinik und -Forschungseinrichtung, muss sich jäh die Frage stellen lassen, ob sie etwas gegen das Christentum oder, denn der Pfarrer ist einer, gegen Schwarze habe, ob sie eine Rassistin sei.

Sophie von Kessel als spitzzüngige Ruth Wolff. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Mit Maresi Riegner, oben am Schlagwerk: Teresa Müllner. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Sandra Selimović als Lebenspartnerin Charlie und Sophie von Kessel. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Entlang dieser Bassline entwickelt Icke seinen Bernhardi 2.0. Themen wie Postenschacher, Religion gegen Wissenschaft, wobei die eine Seite um nichts weniger fanatisch ist, als die andere, das Ringen darum, wer über Ethik und Moral zu werten habe, scheinen als epochenübergreifende Praxis auf. Darüber hinaus allerdings verhandelt „Die Ärztin“ eine toxische „Identitätspolitik“, dies der neue Kampfbegriff für die Zuordnung von Menschen zu einer bestimmten Gruppe. Verhandelt „Die Ärztin“ Zuschreibungen in einer Welt, in der auch Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft zum gesellschaftspolitischen Stolperstein werden können.

Sie fühle sich keiner Gruppe zugehörig, sagt Ruth Wolff denn auch mehrmals. Da ist der Shitstorm längst über sie hinweggefegt, hat sie die selbstgerechte Political Correctness der Social Media Communities längst erfahren, „ich trende“ sagt sie dazu, sitzt sie bereits im Fernsehstudio dem Tribunal der Talkshow „Im Ring“ gegenüber, wo sie sich der in einen Topf geworfenen Ressentiments bald nicht mehr erwehren kann – ihre Gegenüber etwa eine Abtreibungsgegnerin, ein Aktivist „mit Schwerpunkt postkoloniale Theorie“ oder die Leiterin einer „nationalen Aktionsgruppe zur Bekämpfung unbewusster Vorurteile“, das hat schon Witz.

Von Kessel agiert in diesem Diversitätsdilemma als spitzfindige, scharfzüngige Ruth. Das Paradoxon ihrer Performance heißt: eiskalt emotional. Ickes Text ist, was man im Englischen witty nennt, und wofür es keine adäquate Übersetzung gibt: geistreich, galgenhumorig, die Sarkasmen zugespitzt zu Satzpfeilen, jede Medisance ein Treffer, und ja, darüber wird im Saal gelacht. „Hexe in Weiß“ nennt sich Ruth als die Hexenjagd, die mediale Hinrichtung im digitalen Zeitalter beginnt. Ihr Leitsatz „Es ist vorbei, wenn es eine Leiche gibt“, wird sich schlussendlich als radikale, das Publikum atemlos zurücklassende Lösung anbieten.

Als Ruths Gegenspieler, der nationalistische, antisemitische Professor Roger Hardiman, kommt Zeynep Buyraç zum Zug, sie gestaltet mit Verve einen schlauen Intriganten und Zyniker. Einen Karrierestrategen, der niemals die Contenance verliert, will er für alle, für allem für sich doch nur das Beste. Einen Machtmenschen, der weiß, wie er mit einem Minimum von Anstrengung dominieren und sich dabei auch noch amüsieren kann. Derlei Figuren kennt man aus der hiesigen Politik. Und apropos: Stacyian Jackson gibt die Gesundheitsministerin, vormals Ruths Assistenzärztin, die es mit dem Kalkül einer Politikerin versteht, ihr Fähnlein nach dem Wind der öffentlichen Meinung zu hängen.

Philipp Hauß, Bardo Böhlefeld, Melanie Sidhu, Ernest Allan Hausmann, Gunther Eckes, Bless Amada und Sophie von Kessel. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Intrigant Hardiman übernimmt das Team: Gunther Eckes, Bardo Böhlefeld, Zeynep Buyraç, Melanie Sidhu und Ernest Allan Hausmann. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Stacyian Jackson als Gesundheitsministerin, Sophie von Kessel und Ernest Allan Hausmann. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Ähnliche Ansprüche, unterschiedliche Anschauungen: Sophie von Kessel und Philipp Hauß. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Bless Amada spielt den loyalen, weiß-jüdischen Dr. Michael Copley, Ernest Allan Hausmann macht aus Klinik-Grandseigneur Professor Brian Cyprian einen herrlich cholerischen Charakter. Bardo Böhlefeld im Herrenanzug ist erst Krankenhaus-Pressesprecherin Rebecca, dann der Talkshow-Moderator. Gunther Eckes als katholisch geifernder Dr. Paul Murphy und Melanie Sidhu als Assistenzarzt Junior machen sich ob der Krise übers wirtschaftliche Überleben des Krankenhauses Gedanken, auch diesen aktuellen Aspekt der Ökonomie um jeden Preis bringt Icke ein.

Philipp Hauß ist mal als schwarzer Pfarrer, mal als bigotter Vater des verstorbenen Mädchens zu lesen, ein Vater, dem sich die Schwangere offensichtlich nicht anzuvertrauen traute. Wie stets überzeugt Hauß mit seiner ruhigen, überlegten Art zu spielen. Ihn auf der Bühne zu sehen, ist immer ein Gewinn. Die anderen agieren wie auf einem Pulverfass, Sophie von Kessel hält den ganzen Abend die Lunte in der Hand und beeindruckt auf ihrem Weg von der selbstbewussten Medizinerin hin zur gebrochenen Existenz.

Die Situationen eskalieren, die Entgleisungen nehmen zu, zum Feindbild wird die weiße, jüdische Frau. Management stellt sich gegen Menschlichkeit und der Ministerin Definition von Opportunismus lautet „offen und transparent sein“. Auch einen Seitenhieb auf Covid-19-Debatten verkneift man sich nicht, wenn Bless Amada festhält: „Menschen, die lieber sterben, als technischen Fortschritt anzunehmen – Menschen, die sich vor jeder neuen Idee fürchten, worauf ich nur sagen kann: ‚Sterbt ruhig, wenn ihr wollt, aber meine Kinder werden geimpft'“.

Im Gegensatz zur aggressiven Klinikwelt, scheint Ruth daheim eine heile zu haben. Mit Nachbars-Transkind Sami aka Maresi Riegner und Sandra Selimović als Lebensgefährtin Charlie. Umso mehr schockiert, als sich bei einem finalen Besuch des Pfarrers und dem gemeinsamen Versuch, die wissenschaftliche und die religiöse Weltanschauung auf einen Nenner zu bringen (und wieder Schnitzler: von allen Figuren sind sich der Gottesmann und die Klinikchefin am nächsten, braucht’s doch für beiden Professionen Mitgefühl, Idealismus und Glaubensstärke), Charlies Rolle enträtselt. Beglückt, benommen, betroffen, macht man sich zur 22-Uhr-Sperrstunde auf dem Nachhauseweg.

Teaser: www.youtube.com/watch?v=9LyWkpdtyu4          www.burgtheater.at          roberticke.com

TIPP: Am 13. Jänner um 18.45 Uhr spricht Sophie von Kessel im Online-Talk-Format „Werk im Fokus“ des Burgtheaters über „Die Ärztin“. Live auf Zoom. Die Teilnahme ist kostenlos. Der Link geht an alle Newsletter-Abonnentinnen und -Abonnenten.

8.1. 2022