Bühne Baden: Hurra, wir spielen!

Juni 10, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

„Die blaue Mazur“ mit Oliver Baier als Conférencier

Bild: Lukas Beck

„Hurra, wir spielen!“, heißt es vonseiten der Bühne Baden, wo man dank der #Corona-Lockerungen ab dem 31. Juli wieder Operette live präsentieren will. Hausherr und Regisseur Michael Lakner hat die für diesen Sommer geplante Hommage an Franz Lehár – „Die blaue Mazur“ – neu bearbeitet. Daraus entstanden ist eine komplett andere Fassung:

Eindreiviertel Stunden ohne Pause, ohne Chor und Ballett – aber dafür mit enormen Schwung und Wortwitz. Mit dabei ist Publikumsliebling und  TV-Star Oliver Baier als Conférencier und Comedian, der mit seinem unvergleichlichen Humor durch das Stück führen wird.

„Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, diese Würdigung Lehárs doch noch diesen Sommer zu spielen. Wir feiern doch heuer gleich zwei wichtige Geburtstage: Zum einen den 150. Geburtstag dieses großen Komponisten,

der rast- und ruhelos immer wieder neue exotische musikalische Welten entdeckt hat, die er dann in sein Werk einfließen ließ. In unserem Fall holte sich Lehár seine Inspirationen aus dem Sehnsuchtsort Polen und all seinen betörenden polnischen Rhythmen und Tänzen“, so Lakner. „Zum anderen feiert ,Die blaue Mazur‘ just auch in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen.“

Genug Anlass für Lakner also, dies Bijou von seiner Patina zu befreien. Lakner: „Die exklusiv für Baden geschriebene Fassung ist ein spritziges, kammermusikalisches Lustspiel im modernen Kleid einer „well made comedy“ – also ein lustvolles Tür auf/Tür zu-Verwechslungsspiel mit schwungvoller Musik.“ Gemäß des diesjährigen Spielzeitmottos „Religion und Glaube“ ist die Handlung im Wiener jüdischen Milieu Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt – und erzählt eine On/Off-Liebesbeziehung zwischen einem polnischen Grafen jüdischer Herkunft, gespielt von Clemens Kerschbaumer und einem Wiener Mädel, dargestellt von Sieglinde Feldhofer.

Um das richtige Maß an Authentizität für die jüdische Kultur und den berühmten jüdischen Witz zu erlangen, hat sich Lakner Ezzes von Ruth Brauer-Kvam geholt. Die humoristische Würze erhält das Stück durch die Doppelrolle des Buffotenors: Der brave, angepasste Studiosus, der in einem bizarren Männerhaushalt lebt, verwandelt sich nächstens in einen leidenschaftlichen Draufgänger. „Eine wunderbare Rolle für Ricardo Frenzel Baudisch, um sein komödiantisches Können unter Beweis zu stellen,“ ist sich Lakner sicher. Zusätzliche Komödiantik ergebe sich dadurch, „dass wir in dieser neuen Fassung nicht alle handelnden Personen mit Darstellern besetzen können“.

„Deshalb wird Oliver Baier als Conférencier immer wieder in verschiedene Rollen – von Freyhoff, Alois Putz, Galina Vodkarova, aber auch in die eines Chaffeurs – schlüpfen, um auszuhelfen“, erklärt Lakner. Das, in Verbindung mit den schwungvollen, mitreißenden Lehármelodien, verspricht ein amüsanter Abend zu werden.

www.buehnebaden.at

10. 6. 2020

Ricardo Menéndez Salmón: Medusa

August 6, 2014 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Was darf Kunst?

9783803132567„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, wird Walter Benjamin zu Beginn des Buches aus seinem posthum erschienenen Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“ aus dem Jahr 1940 zitiert. Und unter diesem Motto steht auch Ricardo Menéndez Salmóns Roman „Medusa“, in dem der Ich-Erzähler (ein Historiker) einem Fotografen auf der Spur ist. Zwar hat das Buch nur knappe 140 Seiten, birgt jedoch jede Menge Sprengkraft, kreist es doch um die zentralen Fragen: Was ist Kunst – und was darf Kunst, im Angesicht des Todes? Die Geschichte liest sich wie die „Biografie“ des Protagonisten Karl Gustav Friedrich Prohaska, ist aber erfunden. Der 1971 in Asturien geborene spanische Autor erzählt sie jedoch so überzeugend, gestützt von genau recherchierten historischen Fakten, dass man meinen könnte, er hätte wirklich gelebt.

Geboren zu Beginn des Ersten Weltkriegs irgendwo an der norddeutschen Küste, erlernt Karl Gustav Friedrich Prohaska in Berlin das Handwerk des Fotografen und begleitet fortan die nationalsozialistische Todesmaschinerie mit dem unerbittlichen Auge einer Kamera: Für das Reichspropagandaministerium fotografiert und filmt er Szenen des Genozids im Baltikum, tote Kinder, die am „Rande des Geschehens“ einfach verhungert sind, ebenso wie medizinische Experimente an KZ-Häftlingen in Dachau, wo sein jüdischer Freund und späterer Biograf Stelenski interniert ist. Mit diesem bleibt er auch nach dem Ende des Weltkriegs in Kontakt. Auf diesen Stelenski und dessen Prohaska-Biografie stößt der Erzähler, als er für eine Doktorarbeit über die Ikonographie des Bösen recherchiert hat und nun beginnt er diese mit zusätzlichen Informationen zu vervollständigen.

Der Leser erfährt über das Leben Prohaskas, seinen Werdegang, wie er nach der Naziherrschaft zum künstlerischen Archivar sämtlicher Schrecken des 20. Jahrhunderts wird – er dokumentiert in Gemälden und Fotografien die Diktaturen in Südamerika ebenso manisch wie das Leiden der Überlebenden von Hiroshima –, aber auch von seinen privaten Schicksalsschlägen, die ihn heimsuchen. Seine Arbeit macht ihn zu einem Besessenen. Doch ob im NS-Deutschland oder in Hiroshima: Prohaska möchte Distanz zu seinen „Objekten“ wahren, nüchtern auf die Geschehnisse blicken. Nicht urteilen, nur Auge sein, auch wenn das jeweilige Bild oder Foto für sich selbst spricht. Dabei entwickelt er auch immer neue Montage- und Schnitttechniken, um das scheinbar perfekte Kunstwerk zu schaffen. Nur einmal scheint er Skrupel zu bekommen. Doch das bleibt Spekulation. Als er seinen Film über die Hinrichtungen im litauischen Kaunas abgedreht hat, verschwindet er für neun Monate spurlos, und auch der Historiker findet keine Daten über seinen Verbleib. Salmón gelingt es eindringlich, in kühler Sprache, emotionslos die Biografie Prohaskas mit der Erzählung des Historikers über seine Recherchen zu verschmelzen. Dazu gibt es zahlreiche Exkurse in die Kunstgeschichte, und das Wechselspiel von Wirkung und Macht steht immer im Raum.

Dieser Karl Gustav Friedrich Prohaska hat also nie gelebt, doch Prohaskas wie ihn hat es immer gegeben, in jedem Regime, in jeder Epoche. Und auch die Frage: Wo hört die Chronistenpflicht auf und wo beginnt die Mittäterschaft? Kurz vor seinem Tod malt Prohaska sein letztes Bild, inspiriert von Michelangelos Meisterwerk „Das Haupt der Medusa“, ein Abbild des Ungeheuers aus den florentinischen Uffizien. Anders als beim großen italienischen Meister erblickt seine Medusa jedoch nicht den reflektierenden Schild, der sie in Stein verwandelt, sondern „das bereits ältliche Antlitz eines ausdruckslosen Mannes ohne wiedererkennbare Züge, ein Mann in der Menge, das Gesicht eines Bürokraten des Bösen, das Fleisch gewordene Testament eines Menschen jenseits von Schuld und Gewissen.“

Ein großes, kleines Buch. Hoffentlich folgen weitere Übersetzungen von Salmóns Werken!

Über den Autor:
Ricardo Menéndez Salmón wurde 1971 in Gijón geboren und ist bereits jetzt Autor eines beträchtlichen Werks in sämtlichen literarischen Gattungen. Mit der Trilogie seiner ersten Romane (2007–2009), die den Zweiten Weltkrieg ebenso wie die Terroranschläge in Madrid thematisieren, hat sich Menéndez Salmón als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens etabliert. Mit seinem fünften Roman „Medusa“ wurde er nun erstmals auf Deutsch vorgestellt.

Verlag Klaus Wagenbach, Ricardo Menéndez Salmón: „Medusa“,144 Seiten. Aus dem Spanischen von Carsten Regling.

www.wagenbach.de

Wien, 6. 8. 2014