Volkstheater: Die Politiker

September 5, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sozialsystem reimt sich auf Hände in der Creme

Andreas Beck, Rebekka Biener, Bettina Lieder, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Samouil Stoyanov, Stefan Suske, Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

„Gibt es Fragen bis hierher?“, so wendet sich Samouil Stoyanov zwischendurch ans Publikum. Äh – jein? Dessen fast noch neuer Intendant Kay Voges eröffnete die neue Saison am Volkstheater mit Wolfram Lotz‘ „Die Politiker“. Eine österreichische Erstaufführung, die Anmerkung dazu später. Was Lotz liefert und Voges ausstellt, ist dramatisierte Lyrik, ein für die Bühne erdachtes Gedicht, ein Sprachsoundtrack, aus dessen Wortkaskaden vor allem eines deutlich wird: Politiker, Politika, Politikae, Politiker et cetera pp …

Daraus Erkenntnisgewinn ziehen zu wollen, ist ebenso sinnvoll, wie einem Frosch das Singen beizubringen, vielmehr muss man sich von diesem Gedankenstrom, diesem Un-/Bewusstseinsstrom mitreißen lassen, der die Akustik politischer Gegenwärtigkeiten unter reichlich Rauschen über die Rampe schwappt, hinein in einen Zuschauerraum Fleisch gewordener Fragezeichen. Die Assoziationskette wie der Geduldsfaden, sie reißen mancher und manchem schon beizeiten.

Was man aus diesem Abend jedenfalls mitnehmen kann, ist dies: Das renovierte Haus kann technisch Tausend, was gut ist, denn Voges ist mit dieser Grandiositätsapparatur offensichtlich nicht angetreten, um zu kleckern, sondern zu klotzen. Und er hat dafür ein wunderbares, wortdeutliches Ensemble um sich versammelt, Charakterköpfe, wie von FX Messerschmidt gemeiselt, die mit einer Verve durch den Textraum turnen, die Gefühle, Zitate, Gerüchte, Beobachtungen derart hochmusikalisch ineinander morphen, dass man sich auf weitere Begegnungen mit ihnen freut.

Bevor Andreas Beck, Rebekka Biener, Bettina Lieder, Lavinia Nowak, Nick Romeo Reimann, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Samouil Stoyanov, Stefan Suske, Friederike Tiefenbacher und Anke Zillich zum Zug kommen, ist aber erst mal ein kleiner Kameraroboter in Reihe sieben dran, der Naturaufnahmen des kanadischen Filmemachers Michael Snow mit Livebildern des Publikums überblendet. Zu leuchtend-luziden 3D-Anmutungen, die Lotz‘isch kaleidoskopisch rotieren, während die Live-Musik von Dana Schechter und Paul Wallfisch dröhnt, dass die Tribüne es einem durch Mark und Bein vibriert.

Uwe Schmieder, Samouil Stoyanov, Nick Romeo Reimann, Stefan Suske und Christoph Schüchner. Bild: © Marcel Urlaub

Die großartige Gitte Reppin2 dank der Live-Kamera. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Andreas Beck vor dem gläsernen Büro-Karussell. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Bettina Lieder, Samouil Stoyanov, Rebekka Biener und Uwe Schmieder. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

„Die Politiker“, da wird nicht nur für die Augen was geboten, da gibt’s auch ordentlich was auf die Ohren. Aus dem Halbdunkel schälen sich dreizehn Gestalten in Weiß, noch schlafen sie in ihrer Brutstätte, doch gleich werden sich die Areopagiten erheben, als choreografierter Chor à la griechischer Tragödie, in die Jetztzeit geworfen, um die Polis über „Die Politiker“, die πολιτικά/politiká zu unterrichten. Im Setting von Michael Sieberock-Serafimo- witsch – Kostüme: Mona Ulrich, Video Art: Max Hammel, Marvin Kanas, Roboter-Programmierung: Mauritius Luczynski, Live-Kamera: Manuel Bader – dreht sich ein Karussell gläserner Büros um eine Art Agora, der antike Eindruck verstärkt durch die mit Bildschirmen bewehrten David von Michelangelo und Nike von Samothrake.

Was nun auf diversen Screens, groß, klein, überdimensional, multiperspektivisch anhebt, ist ein Klagelied, und ja, der Chor singt auch, eine poetische Überflutung an Erwartungen, Entsolidarisierungen, Verärgerungen, Klischees, alternativen Wahrheiten, Stammtisch-Weisheiten, Paranoia – und Absurdität. „Die Politiker“, sie sind Hass-Subjekte, Hoffnungsträger, Un-/Heilsbringer, Projektionsfläche, Verantwortliche für eigenes und fürs eigene Versagen. All dies ist nicht bis zum heraufdämmernden Erklärungsnotstand durchdekliniert. Kay Voges‘ Inszenierung ist ein Gesamt-Überforderungs-Kunstwerk, Theater der Grausamkeit reloaded, dass der alte Artaud seinen Spaß daran gehabt hätte.

Voges‘ Albtraum-Ringelspiel ist intensiv, aufwühlend, amüsant, irrwitzig, ironisch, und wer die Sogwirkung der Performance leugnet, der lügt. Lotz fabuliert nach reim dich, oder ich fress dich, Sozialsystem auf Hände in der Creme; eins der lässigsten Gadgets ist die Gesichterparade von Caesaren über Stalin, Mao, die Kennedys, Obama, Putin … bis zu Super Mario. Die Spielerinnen und Spieler sind allesamt Autoren-Ichs (einmal auch Lotz‘ Katze), die – mal die, mal der – aus der Reihe und zu einer spezifischen Suada antreten.

Bettina Lieder, Ensemble, vorne: Uwe Rohbeck. Bild: © Marcel Urlaub / Volkstheater

Zwischen hausbackener Kauzigkeit, Marktschreierei und dem Aufzählen von Salatsorten, zwischen Hauskatzen und Hitler fällt einem Anke Zillich auf, Andreas Beck nach dem „Theatermacher“ einmal mehr, ebenso wie Uwe Rohbeck (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=46859), immer wieder Stefan Suske, Gitte Reppin2 dank der Live-Kamera, Nick Romeo Reimann mit den

totenweißen Augen, Heimkehrer Christoph Schüchner, der in Sofia geborene, in Linz aufgewachsene Samouil Stoyanov, der die Sympathiewerte, wie’s die Wienerinnen und Wiener so gern haben, zum Publikumsliebling mitbringt – wie Beck und Stoyanov fassungslos einem flüchtenden Zuschauerpaar nachgaffen, wirkt’s wie bestellt.

Uwe Schmieder schließlich, per se ein Teiresias, dem die zweifelhafte Ehre eines Arschfickerei-Monologs zukommt, dada-gaga, doch ein bundesdeutsches Namedropping, zu dem sich hierzulande kaum Bezug herstellen lässt. Eingedenk der Tatsache, wo die Herrschaften nunmehr Theater machen, und da Lotz bei der Premiere ohnedies anwesend war, ließe sich dieser Absatz vielleicht verösterreichern?

„Wollen wir in so einer Kultur leben?“, fragt Schmieder. Durchaus. Zumal als nächstes eine Dostojewski-Dramatisierung und Susanne Kennedys „Drei Schwestern“ nach Tschechow anstehen. Theater, dies nicht zu vergessen, darf polarisieren, die Geister scheiden und erboste Buh-Rufe provozieren. Es darf nur eines nicht: langweilen. Und das tun Kay Voges und Team keineswegs. In diesem Sinne ist „Die Politiker“ eine Herausforderung, eindreiviertel pausenlose Stunden an genüsslich zelebrierter Repetitionserotik mit einem Ensemble, dass sich mit Lust die Lotz’schen Un-/Sinnsätze auf der Zunge zergehen lässt. Was das Weitere betrifft: Herausforderung angenommen!

www.volkstheater.at

  1. 9. 2021

Volkstheater: Der Theatermacher

Mai 27, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Thomas. Bernhard. Dekonstruktion

Der Theater-Blutwursttag war manchem im Publikum nicht Blunzn: Uwe Rohbeck, Nick Romeo Reimann, Anna Rieser und Anke Zillich. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

„Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“, das ist seit 35 Jahren des Publikums liebstes Thomas-Bernhard-En­t­rée, in launiger Runde längst zum Zitat geworden, und man erinnert sich: Traugott Buhre, Kirsten Dene, Josefin Platt, Martin Schwab, Bibiana Zeller, der sprachlos seine Hängebäckchen schwabbeln lassende Hugo Lindinger. „Als ob ich es geahnt hätte“, brachte der neue Volkstheaterdirektor Kay Voges, wie’s alle antretenden Intendanten tun, seine

bühnenerprobte Inszenierung vom „Theatermacher“ mit nach Wien. Gestern Dortmund, heute V°T, übermorgen …? … Fotzbach. Hatte man auch schon überlegt, diese Rezension zu titeln. Oder: Thomas. Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall. Doch das ist ja aus dessen Prosa, und mit seinem „Mein Gott / nicht einmal zum Wasserlassen / habe ich diese Art von (Gast-)Häusern betreten“, fährt Andreas Beck den ersten Lacher ein, denn – Text-Bild-Schere – das Volkstheater glänzt derart in seiner frischrenovierten Pracht, dass es eine Freude ist. Von wegen Utzbach wie Butzbach, die zum House Warming angetretene Truppe wird sich damit arrangieren müssen, dass Wien sich für den Theaternabel der Welt hält.

Immerhin: Voges und Team wurden freundlicher empfangen, als ihre VorgängerInnen, bis auf ein paar vehemente Buh-Rufer gab’s viel Applaus, vor allem absolut verdient für die Darstellerinnen und Darsteller. Der Rest wird die Geister scheiden, in jene, die jedes Bernhard’sche Wort für sakrosankt halten, und jene, die dem postmodernen Dekonstrukteur und notorischen Theatertechnikinnovator Kay Voges bereit sind, auf seinem Weg zu folgen. Die zuletzt verloren gegebene Schlacht ums Stammpublikum – tja, man wird sehen. Leicht konsumierbar ist, was zu erwarten war, jedenfalls nicht.

Zum Atemanhalten also die Frage, ob’s und wie’s den – schon wieder – deutschen Theatermachern gelingen wird, den urösterreichischen Nestbeschmutzer über die Rampe zu bringen. Und die erste Dreiviertelstunde wird man tatsächlich im Alles-Roger-Glauben gehalten. Die Bühne von Daniel Roskampf ist eine Baustelle, wie‘s das Dortmunder Schauspielhaus weiland war. Sichtbeton, Staub, eine Sprinkleranlage, zwei Rolltore, vier Feuermelder, fünf Notbeleuchtungen, neun Feuerlöscher. Alles sehr vorschriftsmäßig.

Auch Andreas Beck, ein Bär (den’s später aus der Requisite geben wird) von einem Mann, der den Bruscon ohne die üblichen Mimen-Mätzchen anlegt, mit funkelnder Sprache und glasklaren Schimpftiraden, hinter denen die Gefährlichkeit der Verzweiflung lauert. Kongenial an seiner Seite Uwe Rohbeck als wieselflinker, spindeldürrer Wirt des „Goldenen Hirschen“, in dessen Tanzsaal der Staatsschauspieler mit seiner Sippschaft seine selbstverfasste Menschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“ aufführen will.

Jeder darf Bruscon sein: N. R. Reimann. Bild: © N. Ostermann / Volkstheater

Anke Zillich, hi.: Uwe Rohbeck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

und Punk Anna Rieser. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Beck ist ein mächtiger Bruscon, der sich dessen überschnappende Suada auf der Zunge zergehen lässt. Zu den Schwerfälligkeitsmenschen, den Inkompetenzschmierern, der hustenden Gattin, den untalentierten Kindern, dem Machtmenschen Feuerwehrhauptmann Attwenger, im Saal sitzend, „seltsam verwachsene Menschen, hässlich, mit Masken, wahrscheinlich eine Seuche, Schweinepest“, fügt er andere hinzu: „Intendantenpipi, Intendanten- pimmel“, „Ist doch alles zu, nur bis 22 Uhr offen“, „Die nächsten 14 Tage werden entscheidend sein“. Und etwas stutzig macht hier der queere Wirt und wie er seinen enormen Gast studiert, ihn kopiert. Warum das alles?

Weil sich hier das Rad der Geschichte unablässig dreht, nach ein wenig Verdi beginnt alles von vorne, die Theaterwiederholungsqual, die lebenslängliche Theaterkerkerhaft. Oben am Portal leuchtet von neunen nun die Zahl zwei auf, jahaha, so oft wird’s revolviert werden, „Was hier / in dieser muffigen Atmosphäre“. Runde zwei ist schneller, härter, schnoddriger. Beck spielt mit verschärftem Tempo, gelockerter Zunge und würzt den Text mit mehr und mehr improvisiert-aktuellen Anspielungen.

Ein Eisbär, dessen Augen rot glühen, wird auf die Bühne geschoben und schließlich, um deutlich zu machen, wer der wichtigste Theatermacher im Lande ist: eine Hakenkreuz-Parodie. Die eingegipsten Arme von Sohn Ferruccio, Nick Romeo Reimann, verdoppeln sich von eins auf zwei. Wieder bei der Frittatensuppe angekommen, geht’s zur #3, Beck und Rohbeck tauschen die Rollen, die beiden ein grandioses Komödiantenduo und der spillerige Rohbeck im Nadelstreif eindeutig ein Kay-Voges-Lookalike. Wohingegen Beck nun der denkbar schlechteste Stichwortgeber ist, körperlich ein Rohbeck hoch3, der dem hippelig hampelnden Hochkulturgenius hinterherhinkt.

Das beiläufige „Heute ist Blutwursttag“ wird zum Minimelodram, nicht jeder auf den Rängen goutierte die dazu servierten Hakenkreuz-Tutus. Wie auch immer, Beck und Rohbeck werden dem Wiener Prädikat Publikumsliebling wohl nicht mehr entgehen. Und weiter geht’s zur Leuchtziffer vier unterm Castorf’schen Räuberrad. Nun wird Sohnemann Reimann zum hellblau-gestreiften Theatermacher und singt den Bruscon-Text im grausigen Musicalton, während Andreas Beck als voll vergipster Sohn im Elektrorollstuhl herumfährt. Das Tempo beschleunigt sich weiter, die Späße werden gröber.

Tauschen alsbald die Rollen: Andreas Beck und Uwe Rohbeck. Bild: © Birgit Hupfeld / Volkstheater

So stellt man sich den Theatermacher vor: Uwe Rohbeck. Bild: © Birgit Hupfeld / Volkstheater

Andreas Beck, Anna Rieser, Nick Romeo Reimann und Eisbär. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Nick Romeo Reimann und im Ganzkörpergips Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Danach rast das Ensemble bei den Nummern 5 bis 8 in die Abgründe eines Albtraums, in dem die Mutter, Anke Zillich, die Theaterhölle dirigiert. Sie und Tochter Sarah, die herrlich koboldhafte Anna Rieser als Macho-Punk, den Busen mit schwarzen Klebestreifen ausgeixt und die Schrift „Fickt die Väter“ auf dem Jackett tobt sie durch die Zuschauerreihen, sind jetzt die Theatermacherinnen und verkehren alle Machosprüche in ihr Gegenteil: „Mit Männern Theater zu machen ist eine Katastrophe.“ Das ist das ultimative Gendern der Kunst. So manche freut’s, so mancher, der Herr hinter einem etwa, reagiert, als hätte es wer gewagt, die Bibel umzuschreiben.

Theaterblut fließt am Blutwursttag, die Spielregeln zwischen dies- und jenseits der Bühnenrampe, diese „jahrtausendealte Perversität, in die die Menschheit vernarrt ist“, löst sich auf in chaotische Effekte. Die Theatertechnik zieht ein Register nach dem anderen. Harte Beats, rotierende Scheinwerfer, wirbelnde Schriftprojektionen von Schimpfwörtern, verzerrte Stimmen. Nebel und horrorbunte Farben fluten die Bühne, an den Wänden schlängeln sich grandiose halluzinogene Videos von Mario Simon.

Dass die Echoräume des Bernhard’schen Stücks sich verschoben hätten, wo heute doch jede und jeder seine Rants und rückkoppelnden Empörungsschleifen in den Social Media loswerden könne, beschreibt Kay Voges seine Arbeit. Sein Performance-Parforceritt ist eine Tiefenbohrung sowohl in Text als auch zeitgenössische Theatergeschichte, von Apostel Peymann zu Zertrümmerer Castorf, von Musical-Kitsch zu aktionistischem Feminismus, von Diskurstheater zu toxischer Männlichkeit. Ein Horror. Ein Horror, der nicht ohne sich stetig schneller drehenden Empörungsspirale, theatraler Selbstironie und kritischer Selbstbefragung abgeht. Wie noch Schauspiel, wie Volkstheater machen im post-post-post-Zeitalter?

Voges fördert zutage, was Bernhard heute und für alle Zeiten ausmacht. Eine Aktualität, die in den Eingeweiden der Theaterhäuser rumort, und Voges sticht mitten hinein ins Schweizerhaus-Stelzenfett* der hiesigen Bernhard-Verehrung. Nun heißt es gespannt sein auf Lucia Bihlers, sie die Hausregisseurin der Berliner Volksbühne, Version der „Jagdgesellschaft“ am Akademietheater. Prognose: So frisch, provokant und kontroversiell wie im Jahr seines 90. Geburtstages hat man den mittlerweile Salonklassiker Thomas Bernhard auf heimischen Bühnen lang nicht mehr gesehen.

[Anm.: www.youtube.com/watch?v=hh4haKOmm68]

www.volkstheater.at

  1. 5. 2021