Wiener Festwochen: Orest in Mossul

Juni 8, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Theater aus der Todeszone

Bild: © Michiel Devijver

Von „Breiviks Erklärung“ bis „Kongo Tribunal“, von Ceausescus Rumänien bis zum Völkermord in Ruanda – der Schweizer Theatermacher Milo Rau ist einer, der den Finger in die Wunden dieser Welt legt, und dies nicht in der geschützten Werkstätte eines Stadttheaters, sondern vor Ort, mitten im Krisengebiet. Wobei Rau ein solches zur Verfügung steht, das Nationaltheater Gent, dessen Leiter er ist, und mit dessen Ensemble er das sogenannte „Genter Manifest“ veröffentlicht hat.

Erster Satz: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.“ Oberste Maxime: Mindestens eine Produktion pro Jahr in einer Gefahrenzone zu erarbeiten – „wörtliche Adaption verboten“. In Wien, wo Raus Arbeiten bisher selten zu sehen waren, präsentiert er nun im MuseumsQuartier seine jüngste, „Orest in Mossul“, für die das NTGent vergangenen Winter in den Irak reiste. Mossul, nördlich von Bagdad, nach diesem die zweitgrößte Stadt des Landes, 2014 vom Islamischen Staat eingenommen, drei Jahre später von irakischen Streitkräften zurückerobert, liegt in Trümmern. Auch durch die Bombardements der britischen und amerikanischen Verbündeten. Der IS ist zwar vertrieben, aber keineswegs komplett besiegt.

In diese Ausgangssituation stellte Rau nun „Die Orestie“ des Aischylos, gespielt von flämischen, deutschen und irakischen Schauspielern, für letztere das Ganze mit einem Workshop verbunden, sie sind nun via Video als Chor zu sehen. Die Aufnahmen wurden in der zerstörten Kunstakademie von Mossul gedreht. Mit der Produktion durch Europa zu touren wird den Irakern nicht gestattet, Behörden befürchten Asylanträge.

Rau liebt das symbolisch Bedeutungsschwangere, hier ist es Mossul gleich Mykene, die endlose Reihe von Gewalt und Rache und Gegengewalt im Geschlecht der Atriden gleich der Lage der Menschen in Mossul. Doch während in der antiken Tragödientrilogie Pallas Athene den Mörder Orest freispricht, durch quasi Einführung der Demokratie dessen Taten tilgt – und auch noch die Erinyen zu Eumeniden besänftigt -, muss die Bevölkerung Mossuls die Waagschalen von Vergebung und Vergeltung ohne göttlichen Richtspruch austarieren. Und ist, um dies gleich vorwegzunehmen, zum Verzeihen nicht bereit. Am Schluss der Aufführung steht ein Weder-Noch: Nicht töten, aber auch nicht von der Schuld lossprechen. Da braucht’s nicht lang nachzudenken, wieviel Konfliktpotenzial das birgt.

Bild: © Michiel Devijver

Bild: © Michiel Devijver

Was Rau an der „Orestie“ interessiert, die Einführung eines modernen Rechtssystems, ein Ende der blutigen Abwärtsspirale durch einen Prozess, der eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft erlaubt, findet in der Realität nicht statt. Die Darstellerin der Athene, Khitam Idress, und ihre Familie waren direkt vom IS-Terror betroffen, so gibt sie bei der Abstimmung zwar wie vorgeschrieben Orest ihre Stimme, nicht aber gefangengenommenen Kämpfern des Kalifats. Derart spiegelt Rau jede Szene, lässt Filmsequenzen von Moscheeruinen und menschlichen Überresten auf Schutthalden mit auf der Bühne Gespieltem reagieren und umgekehrt. Die Ankunft von Agamemnon und Kassandra, Johan Leysen und Susana AbdulMajid, ist als Live-Video zu sehen, ein Begrüßungsmahl mit zunehmend gereiztem Smalltalk. Elsie de Brauw gestaltet die Klytaimnestra mit hoher Intensität und einer Anspannung, die sich elektrisierend auf den Zuschauer überträgt.

Dann wieder fällt Rau vom Künstlerischen ins Brisant-Politische. Nach dem Bild eines Hochhauses von dessen Dach der IS Homosexuelle in den Tod stürzte, zeigt er Orest und Pylades, Duraid Abbas Ghaieb und Risto Kübar, als schwules, sich küssendes Paar – keine ganz neue Idee, die hatte weiland schon Pasolini, und in der Halle E nicht der Rede wert, in Mossul hingegen ein lebensgefährlicher Protestakt und von Athene natürlich als „haram“ verteufelt. Auch die als Reenactment vorgeführten Hinrichtungen können in diese Kategorie eingeordnet werden.

Eine Neudeutung der „Orestie“ darf man sich von Milo Rau nicht erwarten, was „Orest in Mossul“ auslösen will, ist Betroffenheit. Und über diese ein weiteres Nachdenken. Das gelingt perfekt. Wenn einer der Darsteller sagt, laut Aischylos habe man aus dem Leiden zu lernen, die Frage sei nur: Was?, dann lässt einem dieser er/lösungsfreie Satz kaum Luft zum Atmen. Im Wissen, dass das Drama hier ja Wirklichkeit ist, und ein antiker Familienfluch ganz nah an einer heutigen Kriegsbiografie.

Video: www.youtube.com/watch?v=YzJlCzvLpII

www.festwochen.at

7. 6. 2019

Rawi Hage: Spinnen füttern

Februar 13, 2014 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Rastloser Wanderer

produkt-8546Rawi Hages Romane bürgen für höchste Qualität. Bei „Spinnen füttern“ ist es nicht anders. Wunderbar literarisch verleiht er dem Dasein in den Schattenbezirken unserer modernen Städte eine surreale Note. Absurdität trifft auf Realität, Tiefsinn und Witz.
Unterhaltsam, amüsant, manchmal etwas rau, poetisch, und immer voller Herzenswärme, erzählt Rage die Geschichte eines Taxifahrers: Fly. Nachts streift er auf der Suche nach Fahrgästen durch die Straßen und bringt dabei Prostituierte zur Arbeit, Drogendealer zum „Geschäftstermin“, jemanden, der gerade aus dem Irrenhaus entlassen worden ist, nach Hause und transportiert natürlich auch ganz normale Leute, die aber doch nicht ganz so normal sind, wie sie scheinen. Wie ein guter Engel versucht er allen Bedürftigen zu helfen, etwa dem jungen Tammer, Sohn einer bekannten Prostituierten, allerdings ohne Erfolg. Fly tut sich allerdings schwer, auch für sich selbst ein wenig Glück zu finden: Seine Nachbarin Zainab, die er innig verehrt, weist seine Annäherungsversuche hartnäckig ab. Und so träumt er sich hinein in Romane und Geschichtsdarstellungen, masturbiert, in literarische Szenerien hineinschlüpfend, auf dem fliegenden Teppich seines Vaters und erlebt auch die Welt, durch die er sich mit seinem Taxi bewegt, wie einen Roman. Er ist selbst eine romanhafte Gestalt: ein Don Quijote des 21. Jahrhunderts, ein „Taxi Driver“ im Großstadtdschungel, aber auch ein Heimatloser, der sich an den Buchstaben festhält und an Sätzen durch das Leben hangelt.

Fly hinterfragt seinen Job nicht. Er ist ein Teil von ihm. Allerdings unterscheidet er zwei Sorten von Taxifahrern: Die Fliegen und die Spinnen. Die Spinnen warten geduldig am Stand auf einen Auftrag aus der Zentrale. Aber die Fliegen sind rastlose Wanderer – sie durchstreifen die Straßen, immer auf der Suche nach einer winkenden Hand. Fly ist in vielerlei Hinsicht ein solcher Wanderer. Er ist im Zirkus großgeworden, als Sohn einer goldhaarigen Trapezkünstlerin, die sich erhängt, und des Manns auf dem Fliegenden Teppich, der bald Frau und Kind verlässt. Fly lebt in einem Labyrinth aus Büchern – die Gänge zwischen den deckenhohen Stapeln sind so schmal, dass er gerade noch hindurchpasst. Dieses Zuhause ist seine Zuflucht vor einer Welt, deren Hässlichkeit und Ungerechtigkeit er in seinem Taxi täglich erlebt. Als der Karneval beginnt, verschwimmen alle Grenzen. Der Karneval wird bei Hage zum Bild für eine sich aller Regeln entledigenden Gesellschaft. In der Ausgelassenheit kann man sich dabei, als Fremder unter Fremden, gut verstecken. Aber das hat auch etwas Bedrohliches. Denn nicht immer ist klar zu erkennen, wer sich hinter den Masken verbirgt, was die Herumtreiber im Schilde führen.

Und so beginnt sich die Geschichte zu verdüstern. Otto, der ihn wie einen Ziehsohn behandelt, ist Anarchist und gerät nach dem Tod seiner Frau total aus der Bahn, wird zum Mörder, doch Fly steht seinem Freund bis zum unausweichlichen Ende zur Seite. Ein Serienmörder, dem mehrere arabische Taxifahrer zum Opfer fallen, treibt sein Unwesen in der Stadt. Vorurteile und Rassismus haben wieder einen Nährboden gefunden. Ist der Täter wirklich ein Schwarzer? Aber auch Personen des „Establishments“ werden ermordet – aus anderen Motiven. Fly verliert am Schluss alle Menschen, die ihm nahe stehen und so beschließt er mit seinem Teppich davonzufliegen. Absolut lesenswert!

Über den Autor: Rawi Hage, geboren 1964, aufgewachsen in Beirut und auf Zypern, erlebte den libanesischen Bürgerkrieg am eigenen Leib. 1982 ging er nach New York, wo er Fotografie studierte. Seit 1991 lebt er als freischaffender Künstler und Autor in Montreal. Für „Als ob es kein Morgen gäbe“ wurde er für den Internationalen Literaturpreis 2009 nominiert und mit dem höchstdotierten Literaturpreis der Welt für ein Einzelwerk, dem IMPAC-Award, ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Kakerlake“ und  „Spinnen füttern“.

Piper, Rawi Hage: „Spinnen füttern“, 304 Seiten. Aus dem Englischen von Gregor Hens.

www.piper.de

Wien, 12. 2. 2014