Werk X Eldorado: Protokolle von Toulouse

November 17, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Abzugbereiter Finger auf der gesellschaftlichen Wunde

Felix Krauss, Martin Hemmer Bild: © Chloe Potter

Felix Krauss, Martin Hemmer
Bild: © Chloe Potter

Schon das erste Bild ist stark. Einer betet, einer richtet die Waffe auf Menschen. Das Publikum als Zielscheibe, das ist die Absicht von Regisseur Valentin Werner. Er zielt mit seiner Message aufs Denken. „Don’t pray – think“, wie Harald Posch, der künstlerische Leiter des Werk X, anlässlich der Anschläge in Paris formulierte. Der, der betet, ist ein Terrorist, der Schütze ist ein Polizist.

Das Theaterkollektiv achtungsetzdich! zeigt in Kooperation mit dem Werk X an dessen Spielstätte Eldorado die österreichische Erstaufführung der „Protokolle von Toulouse“. Ein Text, den kein Dramatiker, sondern das Leben geschrieben hat, als Verhörsituation, als ein Gespräch zwischen Mohammed Merah und dem RAID-Mitglied Hassan – die Recherche Assistance Intervention Dissuasion ist eine Einheit der französischen Police nationale zur Bekämpfung des Terrorismus. Mohammed und Hassan sind gläubige Muslime. Aus den Aufzeichnungen der Polizei entstand ein dokumentarisches Kammerspiel. Und es ist gut zu wissen, dass man hier O-Ton hört, sonst wäre man versucht zu sagen: Nicht dieses Klischee auch noch!, denn vieles von dem, was wiedergegeben wird, gleicht den medial verbreiteten Kommentaren der letzten Tage. Journalistin Karen Krüger hat die Polizeiprotokolle ins Deutsche übersetzt.

Mohammed Merah ist tot. Er starb nach einem Schusswechsel in seiner Wohnung, in der er sich stundenlang verschanzt hatte. Durchsiebt von beinah zwei Dutzend Kugeln. 2012 war das. Der 24 Jahre alte Franzose algerischer Abstammung, der sich selbst als al-Qaida-Kämpfer bezeichnete, ist der Prototyp eines homemade problem. Schwankend zwischen Null-Job-Chance und Kleinkriminalität radikalisiert er sich im Gefängnis, wo er wegen Minimaldelikten unverhältnismäßig lang einsitzt, reist dann nach Algerien und Pakistan „zur Ausbildung“, wie er sagt. Da hat der französische Inlandsgeheimdienst ihn und seinen Bruder schon als Gefährder auf dem Radar – kann aber nichts tun. „Wenn wir alle bärtigen Islamos beschatten würden, hätten wir nie Feierabend“, sagt Hassan auf der Bühne. Demokratie ist die schutzloseste aller Staatsformen. Der selbsternannte Mudschahed tötet Soldaten und Juden. Sieben Menschen, auch Kinder, sterben. Nachbarn sprechen nachher von einem höflichen jungen Mann, seine Freunde von einem, der gern feiert. Trockene Socken und Disco, das sind westliche Werte, die auch der Mohammed im Toulouse-Text zu schätzen weiß.

Im Eldorado leiht Martin Hemmer dem Mohammed seine Stimme, Felix Krauss ist Hassan. Die beiden trennt eine Bretterwand, ein Holzschutzwall, den der eine aufrichtet, während ihn der andere abbaut. Es ist erfreulich, wie viel Aktion Valentin Werner zur Wiedergabe des Gesagten einfällt. Krauss pirscht sich an Hemmer heran. Innen und außen wechseln, die Sicht auf beide Positionen soll deutlich werden. Man kann sich Allah auf verschiedenen Wegen nähern. Um diese größte Anstrengung, Jihad Akbar, lohnt es sich zu kämpfen, die Steine aber, die du auf andere wirfst, werden auf dich zurückfallen. Das Gespräch der beiden, teilweise über Mikrophon als Walkie-Talkie-Ersatz, ist lakonisch, wie nebenbei führen sie ihre Verhandlung, wie eine fade Fußballdiskussion. Hassan, Muslim ohne Mission, wie er sagt, nutzt in heiterem Tonfall die Freundlichkeit um Hintergründe zu erfahren. Doch er will auch tatsächlich ein Leben retten. Mohammed weiß, dass ihm in Frankreich maximal eine Haftstrafe droht. Wie selbstverständlich er über das Töten spricht. Eine Objektivierung der Opfer. Eine antrainierte Objektivierung, deren erstes Opfer er selber ist. Als Geschädigter einer Ideologie, deren perverses Weltbild er unreflektiert übernommen hat. „Für uns Muslime ist Terrorismus eine Pflicht“, sagt er. Wie viel feiger als leichtes Ziel eine Konzerthalle als eine schwer gesicherte Kaserne anzugreifen. Europa muss sich nun mit seinen stärksten Waffen ausrüsten: Humanismus und Hard Rock.

Die „Protokolle von Toulouse“ finden keine Entschuldigung, sie sind kein Erklärungsversuch. Es gibt kein Verständnisgesülze, nur Darstellung. Mohammed redet sich mit stereotypen Argumenten seinen Revanchismus schön. Rache für Palästina, natürlich. Kein Respekt vor Muslimen, natürlich. Die Ungläubigen auf eigenem Boden treffen. Aufruf an die Glaubensbrüder seiner Tat zu folgen. Den verbalen Rundumschlag beherrscht, bei rechtem Licht betrachtet, die andere Seite auch. Es ist interessant, dass sich die an wenigsten mögen, die einander am ähnlichsten sind: nichts ist schwerer, als den gelten zu lassen, der andere nicht gelten läßt. Nicht nur in diesem Sinne ist dieser hochaktuelle Abend ein wichtiger Beitrag zur derzeit laufenden Debatte; das Werk X legt den Finger einmal mehr auf die gesellschaftliche Wunde.

Am 25. November findet im Anschluss an die Vorstellung eine öffentliche Podiumsdiskussion zu den Themen Islam, Terror und Integration statt. Es diskutieren Tarafa Baghajati, Kulturreferent der Islamischen Religionsgemeinde Wien,  Maximilian Lakitsch vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaften, und Regisseurin Aslı Kışlal, die im Eldorado in der Ausnahmeproduktion „Gegen die Wand“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=283) zu sehen ist.

werk-x.at

Wien, 17. 11. 2015