Schauspielhaus Graz via VR-Brille: Der Nestroy-Preis-Gewinner „Krasnojarsk: Eine Endzeitreise in 360°“

November 22, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Virtuelles Theater, das direkt ins Haus geliefert wird

Mitten in der Postapokalypse trifft der Anthropologe auf eine Frau, die er „Kreuzberg“ nennt: Nico Link und Katrija Lehmann. Bild: © Johanna Lamprecht

Bei der gestrigen Nestroy-Preis-Verleihung mit dem Corona-Spezialpreis ausgezeichnet, kann die mit einer 360-Grad-Kamera produzierte Virtual-Reality-Inszenierung des Schauspielhaus Graz jetzt wieder via VR-Brille mit dem auf ihr gespeicherten Film bei  www.vr-firstrow.com österreich- und deutschlandweit bestellt werden (Infos unten). Gleiches gilt auch für die Kafka-Erzählung „Der Bau“, Regie von Elena Bakirova, mit Florian Köhler als Protagonisten.

VR-Schulpaket

Neu ist ein Angebot, das sich an Schulen wendet: Sowohl „Krasnojarsk“ als auch „Der Bau“ sind ab morgen für Schulen in ganz Österreich als Paket zu vergünstigten Preisen bei Vertriebspartner Firstrow buchbar: die VR-Brillen werden dabei per Post direkt in die Schule zugestellt. Die beiden Produktionen sind in Paketen von jeweils 20, 25 oder 30 VR-Brillen buchbar. Die Preise belaufen sich dabei auf 12,90 € pro Brille (zzgl. Versandgebühr). Das Lieferdatum immer donnerstags ist frei wählbar, das erstmögliche Datum ist der 2. Dezember. Die Brillen stehen den Lehrpersonen ab dem Lieferdatum eine Woche zur Verfügung. Weitere Infos dazu auf der Website von Schauspielhaus Aktiv: www.schauspielhaus-graz.com/schauspiel-aktiv. Hier noch mal die Rezension vom März:

Österreich endzeitlich: Katrija Lehmann und Nico Link in der Weizklamm. Bild: © Johanna Lamprecht

Der zweite Anthropologe: Frieder Langenberger als Bösewicht. Bild: © Johanna Lamprecht

Der Beobachter wird beobachtet: Frieder Langenberger beim Dreh. Bild: © Johanna Lamprecht

Am Lagerfeuer der Postapokalypse

Es hat bis zur Nestroy-Preis-Jury bereits die Runde gemacht, wie in jeder Bedeutung des Wortes fantastisch die Virtual-Reality-Produktion „Krasnojarsk: Eine Endzeitreise in 360°“ des Schauspielhaus‘ Graz ist. Nun ist es generell erfreulich, mit welch innovativen Ideen Theaterschaffende auf die Corona-Kulturkrise reagieren, mit welcher Verve sie sich in intermediale Welten werfen, doch etwas wie „Krasnojarsk“ hat man noch nie gesehen. Es ist ein Erlebnis, dass jeder und jedem anempfohlen ist! Mittels VR-Brille und Controller, beides einfacher zu handhaben, als die Beschreibung auf den ersten Blick vermuten lässt, erwacht man in der sibirischen Steppe aka Neusiedlersee, gedreht wurde auch im Freilichtmuseum Vorau und in der Weizklamm, einem spooky Lost Place mit ehemaligem Kalkwerk samt Fassspundfabrik, und das erste, das man sieht, ist möglicherweise ein Sonnenuntergang am Horizont.

Möglicherweise, denn beim von Regisseur Tom Feichtinger und Bildgestalter Markus Zizenbacher ausgeklügelten Projekt, entscheidet die Blickrichtung, wen und was man sieht. Der Film läuft rund um einen, im Falle eines Wasserturms und einer Großstadtsequenz sogar über einem. „Krasnojarsk“ des norwegischen Dramatikers Johan Harstad ist dafür wie geschaffen, dieser dystopische Einakter aus Monologen und Berichten, dessen Verfasser die Theater explizit dazu ermutigt, damit zu machen, was immer sie wollen.

Das Sitzmöbel der Wahl ist also ein Drehstuhl, und am besten ist die zu sehende Rundumrealität mit dieser Rückblende oder Traumfantasie zu erklären: Ennuyierte Ehefrau und Mann, der diese längst über hat, sitzen im Heute am gläsernen Esstisch, eine Drehung, man sieht Designercouch, Flat-TV, Terrasse, der Mann, ein Historiker, des Schweigens im trauten Heim überdrüssig, imaginiert eine liebevolle Mittelalter-Gattin, eine Drehung, man sieht sie am hölzernen Esstisch Brot schneiden, eine Schar Kinder rumtoben, das Feuer im Herd, eine Drehung – und von vorn die aktuelle Tristesse.

Zuerst aber folgt man den Spuren des Anthropologen, den Nico Link darstellt. Man begleitet ihn und sein Handwägelchen voller Wasserkanister, Solarpanel und RFID-Transponder. Eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes, schildert er, hat die gesamte Erdoberfläche vernichtet, nur eine Handvoll Menschen dürfte überlebt haben. Eine kleine Gruppe etwa in Krasnojarsk, von wo aus man den Wissenschaftler mitten ins Nirgendwo geschickt hat, um Zeichen von Leben und nach Relikten der untergegangenen Zivilisation zu suchen. Doch 4655 ist der Code, den er täglich funkt: kein Fund von Wert. Von Schwarzweiß wird’s komplett schwarz in der Brille, Bildausfall?, nein, Nico Link hat sich weiterbewegt, heißt: weiter drehen und drehen, um nur ja nichts zu verpassen. Schon sitzt man mit Link am Lagerfeuer der Postapokalypse.

Schauspieler und Steppe und See lösen sich im Nichts auf, als würden sie verwehen, dies Gemahnen an Vergänglichkeit und Auslöschung die wehmütig-melancholische Grundstimmung des Films. Gearbeitet wird mit Überblendungen, Zeitebenen überlappen, was ist wahr?, was war?, suggestive Bilder, Szenen von sinnlicher Schönheit entstehen. Der Duft des Grases, später die abgestandene Luft in aufgelassenen Nutzgebäuden reichen bis an die Nase heran.

Da, ein neuer Exkurs, Freunde, die die Erste-Weltkriegsschlacht an der Somme nachspielen – mit echter Munition, um Ex-Freundinnen um die Ecke zu bringen, blutrot glühende Explosionen rechts von, ein Liebespaar im Rosenblätterbett hinter einem, die Frauen siegen … die Figuren überlebensgroß, zum Greifen nah, und – schwöre! – ein-, zweimal gehen sie durch einen hindurch.

Der Drehort in der Steiermark, ein ehemaliges Kalkwerk samt Fassspundfabrik. Bild: © Johanna Lamprecht

Kreuzbergs kostbare Koffer werden aus dem Wasser gefischt: Katrija Lehmann. Bild: © Johanna Lamprecht

Keine Angst vor nassen Füßen hat Katrija Lehmann beim Dreh mit Markus Zizenbacher. Bild: © Johanna Lamprecht

Bildgestalter Markus Zizenbacher und Regisseur Tom Feichtinger mit VR-Brille. Bild: © Johanna Lamprecht

Sie, denn der Anthropologe trifft eines Tages auf eine Frau, die zwei Koffer mit kostbarsten Artefakten mit sich trägt, Handschriften, Briefe und Lebensbeichten, und somit „eindeutige Beweise, dass die Menschen auf den verschwundenen Kontinenten nicht nur gelebt hatten, sondern auch, dass ihre Leben bedeutsam gewesen waren, voller Siege, Sorgen und Verluste, unwiderruflicher Niederlagen“. In einem Anfall von Berlin-Nostalgie nennt er sie „Kreuzberg“, und ihre Spielerin Katrija Lehmann wird bald die sein, der die Sympathien der Betrachterin, des Betrachters gehören – nicht zuletzt, weil sie einen immer wieder direkt anspricht, und mit einem ihre Besorgnis, ihre Belustigung über den komischen Kauz, dem sie in die Hände gefallen ist, teilt.

So gelangt man über Fluss und verlassene Häuser, eine Küche, Kinderspielzeug, bemerkenswert, wie liebevoll detailreich die Sets von Tanja Kramberger ausgestattet wurden!, zu einer Scheune, die sich mitunter aber auch als alte Industrieanlage materialisiert. Atmosphärisch enorm dicht ist das alles. Ein Plattenspieler wird gefunden – dies der Mensch: Musik und Schrift, ein Tänzchen wird gewagt – Sounddesign und 3D-Audio Mix von Elisabeth Frauscher, die Briefe werden gelesen, ein Kuss … und mehr …

Doch kann der Verliebteste nicht seiner Retroromantik frönen, wenn es dem bösen Zweiten Anthropologen nicht gefällt. Der erste, der gerade dabei ist, sich hausherrlich einzurichten, glaubte sich von Krasnojarsk vergessen, da taucht sinister wie ein SS-Offizier Schauspieler Frieder Langenberger auf, mit einer Schar von Schergen. Ein grausamer Gegner, ausgesandt von der Organisation „Neustart“, der es auf den Inhalt der Koffer abgesehen hat und die erkrankte Kreuzberg darob foltert und verstümmelt, während Anthropologe Nummer eins mit den Hartschalensammlungen schnöde das Weite sucht. Wasser flutet das nun zu sehende Theater und überflutet einen selbst, in einer letzten Anrede verrät Kreuzberg das Geheimnis ihrer Briefe …

Fazit: Der Faszination von „Krasnojarsk“ kann man sich nicht entziehen. Die deutschsprachige Erstaufführung ist großes Heimbrillenkino, das Immersionserlebnis schlechthin. Enigmatisch, elegisch, exzeptionell. Visuell kühn, versponnen poetisch, verstörend. Das Stück von Johan Harstads, wiewohl in einer Zeit nach unserer Zeit angesiedelt, ist eines der Stunde. Eine Reflexion über Gemeinschaft und Gesellschaft, erzählt es von Vereinsamung und Verlorensein, aber auch von der Bedeutung, die das Geschichtenerzählen für das Leben und das Weiterleben besitzt. Es fragt nach dem Wert von Kultur und deren Wichtigkeit zum Fortbestehen der Menschheit, ja, der Menschlichkeit – und stellt gleichzeitig deren Begehren und Verlangen und Sehnsüchte aus.

Die Produktion beweist, dass der Theater-Lockdown auch die Chance ist, neue spannende Wege auszuprobieren und auszufeilen – und mit den fabelhaft agierenden Nico Link, Katrija Lehmann und Frieder Langenberger, denen das aberwitzige Kunststück gelingt, die 360° an die Wand zu spielen, dass – Technik hin oder her – das Herz jeder Art von Aufführung sowieso stets die Schauspielerinnen und Schauspieler sind und sein werden. Zum Schluss ein Hoffnungsschimmer auf einem Schimmel: Zu Pferd ist das Mittelalter vielleicht näher als gedacht …

Infos zur VR-Brille für Privatpersonen

Die Virtual-Reality-Produktion „Krasnojarsk: Eine Endzeitreise in 360°“ des Schauspielhaus‘ Graz ist nun österreich- und deutschlandweit bei der VR-Plattform Firstrow erhältlich. Unter www.vr-firstrow.com kann die Aufführung ab sofort bestellt werden. Diese wird im Anschluss auf einer VR-Brille an die Heimadresse geschickt. Nach zwei Tagen Mietdauer wird die VR-Brille einfach wieder zurückgesendet. Die VR-Erfahrung kostet 18,90 € zzgl. Versandgebühren. Ab morgen gilt für Grazerinnen und Grazer wieder, dass die VR-Brillen (mit „Krasnojarsk“ oder der zweiten 360°-Inszenierung „Der Bau“) innerhalb des Grazer Stadtgebietes per Fahrradkurier zugestellt werden. Diese Versandoption kann man hier buchen: shop.ticketteer.com/SchauspielhausGraz. Oder direkt über die Seite des Schauspielhauses

Trailer: www.youtube.com/watch?v=3KO3BTylhjw           www.schauspielhaus-graz.com            Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=44995

„Krasnojarsk“ international

Auch über eine internationale Anerkennung für „Krasnojarsk“ kann sich das Schauspielhaus Graz freuen: Die Inszenierung wurde zum australischen Melbourne Lift-Off Film Festival 2021 eingeladen. Die Filme der Festivalauswahl sind ab 22. November ein Monat lang via Vimeo On Demand einem globalen Publikum zugänglich. Dabei können in erster Instanz das Publikum und danach eine Fachjury „Krasnojarsk“ für einen Preis vorschlagen. Die Gewinnerfilme der weltweit 11 Lift-Off Festivals werden anschließend Rahmen des jährlich live stattfindenden Lift-Off Festivals in den Pinewood Studios England gezeigt werden, wo die Season Awards des Lift-Off Global Network verliehen werden. liftoff.network/melbourne-lift-off-film-festival

22. 11. 2021

Kunsthalle Wien Preis: Abiona Esther Ojo & Huda Takriti. Weaving Truths, Untangling Fictions

Dezember 13, 2020 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Geschichten vom Afro-Haar und von der Diaspora

Abiona Esther Ojo & Huda Takriti. Bild: Kunsthalle Wien

Die Kunsthalle Wien zeigt seit 11. Dezember am Karlsplatz die Schau „Abiona Esther Ojo & Huda Takriti. Weaving Truths, Untangling Fictions“ – die beiden Künstlerinnen ausgezeichnet mit dem Preis der Kunsthalle Wien 2020. Abiona Esther Ojo, Absolventin der Akademie der bildenden Künste Wien, und Huda Takriti, Absolventin der Universität für angewandte Kunst Wien, beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit Fragen ihrer Positionierung in verschiedenen kulturellen, historischen und auch persönlich-biografischen Kontexten.

Durch das Verweben von dokumentarischen mit narrativen Elementen, die Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart, das Durchbrechen der Grenzen von Raum und Zeit sowie die Reflektion gesellschaftlich wirksamer Momente des Zusammenlebens entstehen Erzählungen, die das Reale mit dem Fiktionalen verknüpfen und Letzteres immer wieder auch entflechten. In ihrer Installation „Die Magie steckt in jeder Strähne“ fächert Abiona Esther Ojo die sozial-politischen Implikationen von „Afro-Hair“ aus kulturhistorischer wie auch der eigenen Perspektive auf.

Unter Einsatz skulpturaler, analog-reproduzierender und digitaler Medien gelingt es ihr, die mit Wissen, kollektiver Erinnerung, mit Ritualen und intimen Prozessen verbundene Praxis des Kreierens von Afro-Frisuren mit generellen Fragen nach Identität und Repräsentation – von der Botschaft als Zeichen des Protestes bis hin zu einem etablierten Zugehörigkeitscode – zu verknüpfen.

Huda Takritis perfekt ausgeführte Multimedia-Installation „of cities and private living rooms“ verwebt faktische und fiktionale Elemente, private und kollektive Archive, analoge und digitale Bilder zu einer polyphonen Erzählung, die wie ein politisches Unterbewusstsein funktioniert. Ihr Unterfangen ist, die Komplexität von Migrations- und Diasporageschichten, geopolitischen Realitäten und Identitätsprojektionen zu entwirren, ohne sie auf Aspekte von Identitätsstiftung und die Suche nach einer allgemeingültigen Wahrheit herunterzubrechen.

Der Eintritt in die Kunsthalle Wien Karlsplatz ist frei.

Ausstellungsansicht Preis der Kunsthalle Wien 2020: Abiona Esther Ojo, Die Magie steckt in jeder Strähne, 2020, Courtesy die Künstlerin, Bild: Kunsthalle Wien

Ausstellungsansicht Preis der Kunsthalle Wien 2020: Huda Takriti, of cities and private living rooms, 2020, Courtesy die Künstlerin, Bild: Kunsthalle Wien

Über die Künstlerinnen: Abiona Esther Ojo, geboren 1992 in Hellmonsödt, Oberösterreich, lebt in Wien, studierte Bildhauerei und Raumstrategien an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Monica Bonvicini und Stefanie Seibold, Diplom 2020 bei Iman Issa. Huda Takriti, geboren 1990 in Damaskus, lebt in Wien und Damaskus, studierte Zeichnung und Malerei an der Fakultät für bildende Künste in Damaskus. 2020 absolvierte sie das Masterstudium an der Abteilung TransArts der Universität für angewandte Kunst Wien, Abschluss bei Roman Pfeffer und Kathrin Rhomberg.

kunsthallewien.at

  1. 12. 2020

Werk X in der Spielzeit 2020/21: Der Preis des Geldes

Oktober 8, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Als Sensationscoup inszeniert Christine Eder Preciados „Testo Junkie“; Nestroy-Preis für „Dunkel lockende Welt“

Das Werk X in Meidling. Bild: © Thea Hoffmann-Axthelm

Willkommen in der „neuen Normalität“. So begrüßt das Werk X sein Publikum zur Spielzeit 2020/21, deren Motto „Der Preis des Geldes“ ist. „Eine unsichtbare Bedrohung namens #COVID19, vulgo #Coronavirus, hat unser aller Leben im erstickungs- gefährdenden Würgegriff wie seither nur das freie Spiel der Finanzmärkte. Dieser Vergleich zeigt, dass vor Corona in Wirklichkeit nach Corona ist. Es ist kein neues System entstanden, sondern das alte muss aufgrund seiner Infektiosität mit Masken

bestritten werden. Es wird somit nur offensichtlich, was die Denkschule des neoliberalen Monetarismus seit den 1950iger Jahren für den Kapitalismus als angenommenes Naturgesetzt postuliert hat: Survival-of-the-fittest. Doch nun zeigt sich dieses ,Naturgesetz‘ als das, was es in Wirklichkeit ist: Eine Krankheit. Nämlich eine hoch ansteckende mit Todesfolgen“, so das Statement der beiden Intendanten Harald Posch und Ali M. Abdullah.

Von denen Posch mit Der G´wissenswurm- The unintentional end of Heimat (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41468) nach Ludwig Anzengruber und seiner Auseinandersetzung mit dem Stadt-Land-Gefälle und der daraus resultierenden ökonomischen sowie sozialen Ungleichverteilung der Ressourcen bereits den Anfang machte. Gefolgt vom Gastspiel Bürgerliches Trauerspiel des aktionstheater ensembles (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41710 ).

Für die zweite Produktion ist dem WERK X ein Coup gelungen: Die bisher heiß umkämpften Aufführungsrechte von Paul B. Preciados Testosteron-Selbstexperiment-Essay Testo Junkie konnten eingeholt werden. Regisseurin Christine Eder, zuletzt am Haus mit „Proletenpassion 2015 ff“(Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=13411) erfolgreich, wird sich mit Fragen nach pharmazeutisch-hergestellter geschlechtlicher Körperlichkeit und Identität kapitalismuskritisch auseinandersetzen. Premiere: 5. Dezember.

Matthias Rippert stellt sich in seiner ersten Regiearbeit für das WERK X im März mit der Bedrohung eines unbescholtenen Bürgers, einer Stückentwicklung von ihm und Jakob Nolte, anhand der dramaturgischen Prämisse der Spielfilmreihe „Final Destination“ den einzig wahren Naturgesetzen: Der Unausweichlichkeit von Tod und Vergänglichkeit. In Ripperts Fall innerhalb der Logik des Spät-/Kapitalismus. Eine Produktion von Ali M. Abdullah im Jänner und eine Überraschungsproduktion werden weitere Facetten des Spielzeitmottos auf der Bühne des WERK X diskursiv verhandeln.

Der „Geleemann“ ist Opfer und Täter: Johnny Mhanna und Simonida Selimović. Bild: © Alexander Gotter

In „Ein Staatenloser“ symbolisieren Stoffbahnen die Repression im Iran: Alireza Daryanavard. Bild: © Alexander Gotter

„Der G’wissenswurm“: Sebastian Thiers, Miriam Fussenegger und Peter Pertusini. Bild: © Alexander Gotter

Bürgerliches Trauer-Gast-spiel: Benjamin Vanyek und Thomas Kolle vom aktionstheater ensemble. Bild: Stefan Hauer

Im Werk X-Petersplatz geht es nach dem Geleemann (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=41554) am 5. November mit Wolga von Stefan Langer weiter, worin in einem multimedialen Horrorszenario der Mythos der sowjetischen Automarke beschworen wird. Gefolgt von Gott ist nicht schüchtern von Olga Grjasnowa in einer Inszenierung von Susanne Draxlern. Premiere: 24. November. Premiere am 11. Dezember hat die Stückentwicklung who can swim, swim! von kochen.mit.wasser und Peter Pertusini, der auch Regie führen wird. Das lang erwartete HORSES von Johannes Schrettle und Imre Lichtenberger Bozoki, #Corona-bedingt um eine Saison verschoben, kommt nun am 18. Februar zur Uraufführung, das ebenfalls verschobene Gruber geht am 17. März. Ein Staatenloser von und mit Alireza Daryanavard (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=30184) wird morgen, am 9. Oktober, wiederaufgenommen.

Der #Corona-Lockdown hat eine der erfolgreichsten WERK X- und WERK X-Petersplatz-Spielzeiten verkürzt: Fünf Eigenproduktionen und eine Koproduktion am WERK X sowie fünf Kooperationen mit der freien Szene am WERK X-Petersplatz konnten bis Anfang März 2020 zur Aufführung gebracht werden. Darunter die Uraufführung des zweiteiligen Mammutprojekts Die Arbeitersaga am WERK X unter vier Regieleitungen (Rezensionen: www.mottingers-meinung.at/?p=36864 und www.mottingers-meinung.at/?p=38734). Die Auslastung betrug bis zum Lockdown 83 Prozent. Das heißt, es konnte insgesamt im Zeitraum von 2018 auf 2019 eine Steigerung der Besucherinnen- und Besucherzahlen an beiden Häusern von 19.000 auf 22.000 erreicht werden.

Nestroy-Preis für „Dunkel lockende Welt“: Wiltrud Schreiner und Wojo van Brouwer. Bild: © Matthias Heschl

Gefeiert wird dieser Erfolg mit drei Nestroypreis-Nominierungen: Der Nino aus Wien in Geschichten aus dem Wiener Wald, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=35284, wurde für den Publikumspreis und Alireza Daryanavard mit Blutiger Sommer in der Kategorie „Bester Nachwuchs männlich“ nominiert. Preisträger ist das WERK X  in der Kategorie „Beste Off-Produktion“ mit Nurkan Erpulats Inszenierung von Händl Klaus‘ boulevardeskem Sprach-Kunstwerk-Krimi Dunkel lockende Welt (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=35553 ). Wiederaufnahme: 16.Oktober.

werk-x.at

8. 10. 2020

Nestroy 2020: Die Preisträgerinnen und Preisträger

Oktober 4, 2020 in Bühne

Lebenswerk: Christoph Marthaler

Bestes Stück – Autorenpreis: Elfriede Jelinek für „Schwarzwasser“, Uraufführung, Akademietheater

Beste Schauspielerin: Caroline Peters in „Schwarzwasser“ von Elfriede Jelinek, Uraufführung, Akademietheater

Bester Schauspieler: Franz Pätzold als Dionysos in „Die Bakchen“ von Euripides, Burgtheater www.mottingers-meinung.at/?p=34408

Beste Darstellung einer Nebenrolle: Alexander Absenger als Charlotta Iwanowna in „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow, Theater in der Josefstadt www.mottingers-meinung.at/?p=36654

Beste Regie: Florentina Holzinger mit „TANZ. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“, Erstaufführung, Koproduktion Spirit mit Tanzquartier Wien

Bester Nachwuchs weiblich: Bérénice Hebenstreit mit der Inszenierung „Urfaust/FaustIn and out“ von Johann Wolfgang Goethe/Elfriede Jelinek, Volkstheater www.mottingers-meinung.at/?p=38575

Bester Nachwuchs männlich: Mathias Spaan mit der Inszenierung „Die Nibelungen“ nach Friedrich Hebbel, eine Produktion des Landestheaters Niederösterreich zu Gast in der Bühne im Hof

Beste Ausstattung: Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo für Bühne, Kostüm, Video „Meister und Margarita“ nach Michail Bulgakow, Akademietheater www.mottingers-meinung.at/?p=35347

Beste Off-Produktion: „Dunkel lockende Welt“ von Händl Klaus, Inszenierung Nurkan Erpulat, WERK X www.mottingers-meinung.at/?p=35553

CORONA-Spezialpreis: „Der Kreisky-Test“ Online-Produktion von Nesterval, Inszenierung Herr Finnland www.mottingers-meinung.at/?p=39561

Beste Bundesländer-Aufführung: „Hamlet“ von William Shakespeare, Inszenierung Rikki Henry, Landestheater Niederösterreich

Beste Aufführung im deutschsprachigen Raum: „Der Mensch erscheint im Holozän“ ein visual Poem von Alexander Giesche nach Max Frisch, Inszenierung Alexander Giesche, Schauspielhaus Zürich

Publikumspreis: Michael Niavarani

4. 10. 2020

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

April 8, 2020 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Der neue Roman der Bachmann-Preisträgerin 2019: Eine tröstliche Tragifarce über Resozialisierung

Arthur sitzt der Frau vom Amt gegenüber. Gesundheitscheck wegen des Therapieplatzes. Befragt nach Hobbys, Sport, Alkohol, Drogen … antwortet Arthur: „Ich bin nicht wirklich Raucher, ich leihe mir nur ab und zu Zigaretten. Oder ich kaufe sie, aber hauptsächlich, um nicht auf andere angewiesen zu sein.“ – „Aha“, sagt Gerhild Rothenberger und notiert etwas. „Ihre sozialen Beziehungen sind also abhängig vom Vorhandensein Ihrer Suchtmittel.“

Das ist die Art Galgenhumor, mit der Birgit Birnbacher ihren neuen Roman „Ich an meiner Seite“ spickt. 2019 für ihren Prosatext „Der Schrank“ mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, versteht es die Salzburger Schriftstellerin auch ihr aktuelles Buch als Mikrostudie von Lebensverhältnissen anzulegen. Mit ihrer knisternden, ergreifenden, manchmal auch gnadenlosen Sprache erzählt sie nach dem realen Vorbild „eines Menschen, der bereits war seine diesbezüglichen Erfahrungen mit mir zu teilen“, von einem 22-jährigen Zufallskriminellen.

Arthur, der gerade 26 Monate Gefängnis hinter sich gebracht hat. Nun soll er nach dem Willen ebendieser in der Gesellschaft wieder Fuß fassen, in der WG „Weitermachen e. V.“ mit

anderen jungen Ex-Straftätern und einem eher eigenwilligen Psychopädagogik-Projekt, dem „Starring“-Prinzip, Starring von Star, heißt: man entwirft sich selbst als Hauptfigur, als Held, als ureigene Optimalversion, und lässt diese sich in brenzligen Situationen „spielen“. Die Rolle „Ich“, die instagramig weichgezeichnete, weltläufige, weitaus klügere als Retter in der Not der Behörden- und Bewerbungsgespräche, die auf einen Haftentlassenen zukommen. Die sich das ausgedacht haben sind das grandiose Gegensatzpaar in Birnbachers Panoptikum, Betty Bergner und Konstantin Vogl, sie das Hirn, er das Herz einer Uni-Studie, sie pedantisch-penible akade- mische Aktenanlegerin, er abgefuckter Bewährungshelfer mit sehr speziellem Rechtsverständnis und Spitzname Börd, gemeinsames Credo: „Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können.“

Beim bärbeißigen Börd, Markenzeichen vorabendliche Alkoholfahne, abgeschmierter Arbeitsmantel, weil Wohnort eine aufgelassene Autowerkstatt, weiß Arthur und mit ihm der Leser nie, woran er ist. Birnbacher zeichnet mit Verve einen Bessere-Zeiten-gehabt-Charakter, der bald zum Stützpfeiler im Leben seines Schützlings wird. Man mag einander, Arthur, weil „es angenehm ist, mit Börd unterwegs zu sein. Immer fällt Börd unangenehmer auf als er selbst.“ Mit Börd dreht Birnbacher ihr Coming-of-Age-Resozialisierungsdrama, denn die Momente, die einem die Luft abschnüren, in denen ein Mensch ohne die richtigen Papiere kein Mensch ist, hat der Roman durchaus, zur skurrilen Tragifarce. Börd, immer lässig und leicht daneben, wiewohl die Autorin auch seinen holprigen Lebensweg in Andeutungen enthüllt, der sich von seinen Klienten nicht vollraunzen lassen will, und sie deshalb veranlasst, was sonst die Sitzung mit dem Therapeuten wäre, lieber solo auf Tonbänder zu sprechen.

Zum Zwecke einer „Dokumentation“, die freilich gar nicht existiert, Arthurs Aufnahmen aber ein zeitversetzter zweiter Handlungsstrang, ein Was-bisher-Geschah von der Jugend bis zur Justizanstalt. Derart erfährt man von einem stillen Kind, „das Räume leise betritt und trotzdem alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als ginge eine stumme Spannung von ihm aus, die es niemandem mehr erlaubt, sich zurückzulehnen. Immer ist er vielen voraus. Denkt schneller und schweigt dann, bis sie soweit sind. Aber die Ungeduld sieht man ihm an den Fingerknöcheln an. Ins Gespräch kommen die wenigsten mit ihm.“ So wird’s auch bleiben. Der Vater haut ab, die Mutter zieht Arthur und Bruder Klaus in der – was Raum und Geist betrifft engen – Bischofshofener Eisenbahnersiedlung auf, bis Georg auftaucht und mit ihm Pläne für ein Luxus-Sterbehospiz in Andalusien.

Arthur arrangiert sich mit dem Staaten- und sozialen Schichtwechsel, Klaus kehrt der Familie den Rücken, aus Arthur, Milla und Princeton, die beiden ebenfalls verpflanzte und umso mehr verwöhnte Rich Kids, wird eine pubertätsgepeinigte ménage à trois. Es kommt während eines bekifften Bootsausflugs zu einem tödlichen Badeunfall, der aus der Bahn geworfene Arthur flüchtet zurück nach Österreich, Wien diesmal, wo der wohlstandsverwahrloste Geschäftsführerinnen-Spross aus Geldmangel zum Phishing-Betrüger mutiert.

Das alles beschreibt Birnbacher nicht so linear wie hier. Beinahe zwei Drittel der Seiten bleibt unklar, wer, was, wie, während sich die Abwärtsspirale in den Rückblenden immer rasanter dreht, in einer Gefängnisvergewaltigung gipfelt, und sich im Jetzt und Heute die Endlosschleife abgelehnter Bewerbungen und erfolgloser Wohnungssuche wie eine Schlinge um Arthur zusammenzieht. Anschaulich, spannend, nachvollziehbar wird das geschildert. Arthurs Traumatisiert-Sein, seine Panikattacken aus der Hinter-Gitter-Zeit, seine akute Angst nach Ablauf seines Jahres in der „Maßnahme“ ohne Schutzschirm und wieder im freien Fall zu sein.

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Ein Glück. Birnbacher vergisst aufs Tröstliche und Komödiantische nicht. Sie beherrscht Sprache in subtilsten Nuancen, kann’s von spitzfedrig bis superempathisch, wechselt im Wortumdrehen zwischen den emotionalen Aggregatzuständen ihrer Figuren, die namenlos bleibende Wendy-Mutter ist ein hingeschriebenes Kabinettstück, Arthurs WG-Zimmergenosse Lennox, Börds „Musterschüler“, weil er sich vom Dealer zum Game-Erfinder gemausert hat, rührt mit seinen hochneurotisch-verzweifelten Versuchen seinen Koks-Kumpels zu entkommen.

Birnbacher ist ihren literarischen Geschöpfen spürbar zugewandt, sie ist scheint’s das erzählerische Commitment eingegangen, anständig mit ihnen umzugehen und auch den größten Loser nicht auflaufen zu lassen. Sie holt selbst kleinste Randerscheinungen in die Mitte des Geschehens und bietet ihnen den Platz, ihr Dasein, wenn auch nur kurz, zu entfalten. Mit großer Sensibilität, viel Gespür fürs Zwischenmenschliche und einer angenehmen autorlichen Zurückhaltung befühlt sie deren Schicksale. Und nimmt sich ungeniert den Freiraum, abseits eines sonst oft bemühten und spröden Sozialrealismus, die schiefe Bahn, über die ihr Personal rutscht, für den Leser zur himmelhoch-erdenschweren Seelenschaukel zu machen. Ihr Tonfall – eine Lakonie, die den Text locker lässt und trotz des Themas, dem Thema zum Trotz jede Moralinsäure verunmöglicht.

Bei Weitem kein Rand-, obgleich ein Phänomen ist „la famosa Grazetta“, die Arthur als Patientin des stief-/elterlichen Hospiz‘ kennenlernt, viel zu kurzes Kleid, Glitzerjäckchen in Knallblau-getigert, spindeldürr, schwer geschminkt mit schwarzen Oberlidbalken, „Kleopatra, denkt Arthur, Nofretete“, auf dem Boden hingestreckt, weil mit dem Rollator ausgerutscht, gewesene Schauspielerin und immer noch in allen Kulissenfarben schillernd, die in Wahrheit gutwienerisch Maria Meischberger heißt, und die bald der Dreh- und Angelpunkt in Arthurs Existenz wird.

Sie gibt im Roman eine famose Abschiedsvorstellung, während sie den Allzu-Kindgebliebenen in das Erwachsenendasein einschult, und als gar nicht so gutes Herzerl den tatsächlich vom „Scheißpech“ Verfolgten, dem sie nach Wien nachreist, wo sie samt 24-Stunden-Pflegerin im Bristol residiert, von seiner Verpflichtung zur „Scheißehrlichkeit“ entbindet, wegen derer er kein Praktikum kriegt. So mäandert Börds Starring-Methode ihrem Ende entgegen, zwischen neonbeleuchteten Sandler-Ausspeisungen und in Stadtrandbrachen irrlichternden Schmalspurganoven, wobei’s erst zum Showdown, dann zum unerwartet versöhnlichen Familienfinale kommt.

Börd ist mit seiner Therapie gescheitert – und auch nicht. Mehr und mehr widerspricht ihm Arthur, widerlegt Bettys wissenschaftlichen Ansatz. „Er, so hat er sich Betty gegenüber einmal ausgedrückt, sei durch all dieses Hauptfiguren-Getöse eben nicht seiner Vorbildfigur nähergekommen, sondern vor allem sich selbst. ,Es kommt mir so vor‘, hat Arthur zu Betty gesagt, ,als habe gegen euer allzu großes Einwirken eine Verteidigung meines Selbst begonnen. Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier rausbringen wird, sondern einzig und allein ich an meiner Seite.‘“

Über die Autorin: Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Soziologin und Autorin in Salzburg. 2016 erschien ihr Debütroman „Wir ohne Wal“, sie wurde unter anderem mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung, dem Rauriser Förderungspreis und dem Theodor Körner Förderpreis ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Zsolnay Verlag, Birgit Birnbacher: „Ich an meiner Seite“, Roman, 272 Seiten.

www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay

8. 4. 2020