The Phantom of the Opera at the Royal Albert Hall – online auf The Show Must Go On!

April 18, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein viktorianisches Schauerstück wird zur Opernsatire

Der Rote Tod erscheint auf dem Maskenball: Ramin Karimloo als das Phantom auf Bühne und Leinwand. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Musical-Titan Andrew Lloyd Webber bietet dieser Tage seine berühmtesten Werke auf dem Youtube-Channel „The Show Must Go On!“ als kostenlosen Stream an. Zum Wochenende je ein neues, am Karfreitag war das selbstverständlich „Jesus Christ Superstar“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39238), gestern folgte „The Phantom of the Opera at the Royal Albert Hall“ aus dem Jahr 2011, das bis inklusive Sonntagabend online ausgestrahlt wird.

Weiland war die Bühnenproduktion zum 25-Jahr-Jubiläum des Phantoms live in Kinosäle auf der ganzen Welt übertragen worden. Eine Aufzeichnung davon, die elektrisierende Atmosphäre des großen Ganzen und – als Überblendungen – spezielle Close-Ups der Darsteller gibt es nun zu sehen, die Gemeinschaftsarbeit von Theaterregisseur Laurence Connor und Filmregisseur Nick Morris eben mehr als ein „Mitschnitt“, sondern ein eigenständiges Erlebnis – und als solches eins nicht nur für eingefleischte „Phans“.

Denn tatsächlich, die zuletzt 1988 in der goldenen Peter-Weck-Ära gesehene Musikschmonzette hat an Dramatik nichts eingebüßt. Immer noch spektakulär ist der damalige Aha-Effekt aus Nebel-Wasser-Barke-Kerzenschein, die Hits von „The Music of the Night“ bis „The Point of No Return“ sowieso, und um’s gleich zu sagen: In London’s most iconic venue saust der Kronleuchter nicht mit Karacho Richtung der Zuschauerköpfe, er explodiert in der imperialen Höhe des Konzertsaals – fürs Filmpublikum heißt das natürlich Vogelperspektive und „hautnah“.

Derart sitzt man beim #stayathome auf den besten Plätzen. Was die Magie des Moments, die Emotionen, die leidenschaftliche Stimmung betrifft, und auch den Sound. Das von Anthony Inglis dirigierte 45 Mann und Frau starke Haus-Orchester thront dafür auf einer Plattform oberhalb des Bühnengeschehens, hinter sich eine gigantische Vidiwall für etwaige Groß- und Backstage-Aufnahmen, beispielsweise sieht man das Phantom beim Verfassen seiner „Operngeist“-Anweisungen an die Direktoren, alldieweil die Messieurs Firmin und André diese dreisten Billets bereits lesen. Gelungen auch die Phantom-Verdopplung bei dessen abruptem Erscheinen in der „Masquerade“-Szene, die Schädelmaske des Roten Tods in überlebensgroß besonders schaurig.

Ramin Karimloo und Sierra Boggess als Christine Daaé. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Boggess flüchtet in die Arme von Hadley Frasers Raoul. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Demaskiert: Ramin Karimloo als Phantom. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Der Showdown mit Karimloo, Boggess und Fraser. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Was im aus der Raumnot eine inszenatorische Tugend machenden Setting gezeigt wird, ist very british und wunderbar Vintage. Beginnend mit der holprigen „Hannibal“-Probe und dem poetischen „Think of Me“ zeigen Sierra Boggess und Wendy Ferguson was gesanglich und schauspielerisch in ihnen steckt, Boggess eine Christine Daaé, deren schöner lyrischer Sopran übers Anforderungsprofil „Musicalstimme“ weit hinausragt, Ferguson als Carlotta Giudicelli eine höchst theatralische Primadonna assoluta, die begnadete Komödiantin ein Glanzpunkt des Abends, wenn ihr Operndivenschein beim „Poor Fool He Makes Me Laugh“-Gequake in Schieflage gerät.

Und apropos, „Il Muto“: Ein Auskenner-Auge werfen sollte man auf den 2011-Gerade-noch-Shootingstar Sergei Polunin, der Ballett-Rebell hier mal als Slave Master im „Hannibal“, mal als Shepherd in „Il Muto“ Spitze, mittlerweile erwachsen gewordenes Enfant terrible, der seine bravouröse Technik auf Leinwand zuletzt im Biopic „Nurejew – The White Crow“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34617) demonstrierte. Ein zweites auf den Umstand, dass Regisseur und Webber-Experte Laurence Connor ins Gewand seines viktorianisch kostümierten Gothic Horror gekonnt eine humorvoll-gfeanzte Satire auf verschmockte Musiktheatermanierismen und ein opernweltliches Starunwesen kleidet. Kitsch meets Kunst.

Das gilt für Aufführung wie Ambiente. Denn selten zuvor war’s so ersichtlich, dass das Phantom, nicht nur mit einer abscheulichen Fratze, sondern auch mit dem absoluten Gehör gestraft, zugleich Zertrümmerer und Erneuerer im Musentempel ist. Einer, der mit der Atonalität der Avantgarde, siehe sein „Don Juan Triumphant“, das allzu Genregewöhnliche ausmerzen will, die Art Spearhead/Queer Head, der für seine Vision alle in den Wahnsinn treibt, ein Wesenszug, der Genies wie Möchtegerns anhaften mag, einer, der dafür Kollateralschäden in Kauf nimmt, ein mörderischer Pygmalion, der die von ihm erschaffene Göttin nicht loslassen kann und will.

Wendy Ferguson als Carlotta Guidicelli. Bild: The Really Useful Group Ltd.

Shootingstar Sergei Polunin. Bild: The Really Useful Group

Maskenball: Sierra Boggess und Hadley Fraser. Bild: The Really Useful Group Ltd.

Der in Teheran geborene Ramin Karimloo (www.raminkarimloo.com), mit seinen Eltern als Kleinkind vor dem Khomeini-Regime nach Kanada geflüchtet, spielt davon jede Facette. Der Phantom-Profi, seit er Anfang der 2000er erst in die Rolle des Raoul, dann in die des Phantoms schlüpfte, bietet in der Royal Albert Hall eine andere, eine unerwartete Interpretation der Figur. Selbstverständlich kann Karimloo Schmerz und Schreck und spooky sein, doch seine Augen hinter der Maske, mal funkensprühend böse, mal vor Tränen funkelnd, die Sehnsucht in seiner Körpersprache, dann wieder seine Hybris, die das Bemitleidenswerte übertüncht, diese subtilen Signale werden auf dem Bildschirm erst so richtig ersichtlich. Karimloo macht in düsteren Nuancen die gefährliche seelische Instabilität des Phantoms deutlich, und macht, was eindimensional sein könnte, so zum schillernden Main Charakter.

Dass zwischen Karimloo und Boggess die Chemie stimmt, weiß, wer die beiden bereits im Phantom-Sequel „Love Never Dies“ gesehen hat, sie tut’s auch zwischen Boggess und Hadley Fraser, der mit seinem angenehm sanften Bariton den Vicomte Raoul de Chagny gleich einem Fels in der Brandung singt. Man glaubt Fraser bis in jede Faser, dass er der ganze Mann ist, der sich gegen das Monster stellen wird, je hypnotischer das Phantom, desto wutentbrannter er, der Realist im irrationalen Treiben. Raouls beschützende Kraft ist dabei die gegen- sätzliche zur besitzergreifenden, obsessiven des Phantoms, mit dem Ergebnis, dass die beiden samt der zwischen zwei Lieben hin- und hergerissenen Christine der Sierra Boggess die perfekte Ménage à trois ergeben.

Ihr Highlight auch hier die „The Point of No Return“-Reprise, „The Final Lair“, das Grande Finale dargeboten mit vollem Schmelz, die Schraube, die das Phantom zweifelsohne locker hat, von Laurence Connor bis zum Abschlag angezogen, das Ende für Christine beinah ein emanzipatorisches, ihr „One Love, One Lifetime“ definitiv ans Phantom gerichtet. „Love conquers all“ heißt’s, also auch das Phantom, und bezüglich „Love Never Dies“, wer weiß, vielleicht wird das ja in einer der kommenden Wochen noch gestreamt.

Unterirdische Bootsfahrt mit Boggess und Karimloo. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Wynne Evans, Wendy Ferguson, Daisy Maywood, Barry James, Gareth Snook und Hadley Fraser. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

„Il Muto“-Satire mit Stephen John Davis (re.) als Don Attilio. Bild mit freundl. Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

Zwölftongeorgel: Ramin Karimloo und Sierra Boggess. Bild mit freundlicher Genehmigung von The Really Useful Group Ltd.

„The Phantom of the Opera“ ist in seinem 35. Jahr immer noch phänomenal, das beweist diese Show aus der Royal Albert Hall. Die mit Barry James und Gareth Snook als amüsant-überhebliche Operndirektoren Monsieur Firmin und Monsieur André, Liz Robertson als gouvernantenhafte Unheilkünderin Madame Giry, Daisy Maywood als töchterliche Ballettmaus Meg Giry, Wynne Evans als Pavarotti-Lookalike Ubaldo Piangi und Nick Holder als finstere Späße treibenden Bühnenmeister Joseph Buquet auch in den weiteren Rollen tadellos besetzt ist.

Ein Tipp: Nach dem Schlussapplaus noch zwanzig Minuten dranbleiben. Es gibt eine Überraschung, Andrew Lloyd Webber tritt auf, und was dann folgt, hat sehr viel mit ihm und seinem persönlichen „Angel of Music“ Sarah Brightman zu tun. Gänsehaut garantiert! Die Royal Albert Hall jedenfalls tobte …

Trailer: www.youtube.com/watch?v=C90eHuBPhS8

Die ganze Show: www.youtube.com/watch?v=nINQjT7Zr9w

www.youtube.com/channel/UCdmPjhKMaXNNeCr1FjuMvag     www.thephantomoftheopera.com         www.andrewlloydwebber.com            www.royalalberthall.com                    www.reallyuseful.com

18. 4. 2020

Nurejew – The White Crow

September 21, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Der waghalsige Weg vom Sowjetflüchtling zum Weltstar

Der ukrainische Balletttänzer Oleg Ivenko brilliert in seiner ersten Schauspielrolle, hier als Rudolf Nurejew als Krieger Solor in „La Bayadère“. Bild: Alamode Film

„Monsieur Nurejew muss sich jetzt entscheiden“, sagt der Flughafenpolizist, und markiert damit den Moment, auf den der ganze Film abzielt. Der 23-jährige Balletttänzer sitzt im Wachzimmer auf dem Aéroport de Paris – Le Bourget, es ist der 16. Juni 1961, sein Blick ist gesenkt, die Hände zittern. Wird er im Westen bleiben oder in die Sowjetunion zurückkehren? Und was wird aus seiner Familie, wenn er sich für ersteres entscheidet? Wird er hier überhaupt Fuß fassen können oder nur als Trophäe des Kalten Kriegs gelten?

Man weiß, wie’s ausgeht, auch, dass der nunmehr Staatenlose 1964 als Tänzer und Choreograph an die Wiener Staatsoper engagiert wurde und im Zuge dessen die österreichische Staatsbürgerschaft annahm. Doch dank der virtuosen Darstellung von Oleg Ivenko kann man nicht anders, als augenblicklich um den verängstigten Flüchtling zu bangen. Der junge ukrainische Tänzer von der Tatar State Ballet Company verkörpert im Biopic „Nurejew – The White Crow“, ab 27. September in den Kinos, den späteren Weltstar. Es ist Ivenkos erste Arbeit als Schauspieler, und wie er sich dem egozentrischen, exzentrischen, mittelschwer explosiven Genie in körperlicher und künstlerischer Haltung nähert, ist von unfassbarer Authentizität.

Ralph Fiennes hat sich für sein drittes Regievorhaben nach dem Lesen der Biografie von Julie Kavanagh für diesen Wendepunkt im Leben der Legende begeistert, hat Dramatiker und Drehbuchautor David Hare ins Team geholt, der, wie er es formuliert, bereits das „berühmte Monster“ Nurejew kennenlernte, und der nun für sein Tun mit Clara Saint, Pierre Lacotte und weiteren Freunden und Wegbegleitern des Tanzgottes sprach. Gemeinsam entwickelten Fiennes und Hare für ihren Film eine Nouvelle-Vague-Ästhetik, die Kameramann Mike Eley in cremigen Bildern, und Production Designerin Anne Seibel und Kostümbildnerin Madeleine Fontaine perfekt bis ins kleinste Roaring-Sixties-Detail umsetzten.

Und weil es Fiennes, der auch Russisch spricht, wichtig war, mit russischen Schauspielern zu drehen, sind Chulpan Khamatova als Ksenija Puschkin, Fiennes selbst spielt Nurejews brillanten Lehrmeister Alexander Puschkin, Alexey Morozov als KGB-Agent Strischewsky, der ukrainische Ballettstar Sergei Polunin als Juri Solowjew und Anna Polikarpova, bis vor Kurzem Erste Solistin des Hamburg Ballett, als Primaballerina Natalia Dudinskaya Teil des Casts. Für die richtige Atmosphäre sorgt einmal mehr die Musik von Komponist Ilan Eshkeri, der auch bei den bisherigen Fiennes-Projekten dabei war, und der den Sound zwischen klassisch russisch und modern minimalistisch wechseln lässt.

Regisseur Ralph Fiennes spielt Rudis berühmten Leningrader Ballettlehrer Alexander Puschkin. Bild: Alamode Film

Nurejew ist sich ab seinen ersten Solos absolut sicher, dass er schon bald ein Weltstar sein wird: Oleg Ivenko. Bild: Alamode Film

Auch die Erzählebenen wechseln. Fiennes hat die drei Zeitfenster Paris 1961, Ausbildung am Choreografischen Institut Leningrad ab 1955 und die Kindheitsjahre in den späten 1940ern, gedreht auf 16 mm und in bis beinah zum Schwarzweiß gedämpften Farben, ineinander verwoben. „Nurejew – The White Crow“ beginnt am Anfang, am 17. März 1938, als Rudi in der bis zum Bersten vollen Transsibirischen Eisenbahn geboren wird. Auf diese Art zur Welt gekommen zu sein und sein Minderwertigkeits- empfinden wegen seiner ärmlichen Herkunft, werden den Hochsensiblen fürs Leben prägen.

Und wohl Ursache – zumindest interpretieren es Fiennes und Ivenko so – für seine wie eine Waffe geführte Hybris sein. Haupthandlungsstrang ist freilich Paris, wo Nurejew als Mitglied der Gastspieltruppe des Kirow-Ballett an der Opéra Garnier auftritt; aus den Schlüsselszenen dieses ersten Aufenthalts im Westen entwickeln sich die Rückblenden. An die 1940er-Jahre, und wie ihn die anderen Kinder schon im baschkirischen Dorf nahe Ufa „weiße Krähe“ nennen, den außergewöhnlichen Außenseiter, den der russische Kinderstar Maksimilian Grigoriyev spielt.

An seinen aus dem Dienst in der Roten Armee heimkehrenden Vater, der Rudi bei einem Jagdausflug allein im Wald zurücklässt; wie er mit seiner Mutter und seinen vier Schwestern dank einer in der Lotterie gewonnenen Eintrittskarte in Ufa seine erste Ballettaufführung sieht; der frühe Unterricht bei den ehemaligen Ballerinen Anna Udeltsova und Elena Vaitovich. An die Ausbildung in Leningrad ab 1955, wo Nurejew als 17-Jähriger fast zu spät ankommt, und daher sofort beschließt, die Ballettschule in der Hälfte der Zeit zu absolvieren. Da zeigt Oleg Ivenko Nurejews Hartnäckigkeit, seinen Fleiß, aber auch sein aufbrausendes Temperament, wenn er Lehrer ablehnt, die ihn zu wenig fordern, oder den von Nebojša Dugalić dargestellten Ersten Solotänzer Konstantin Sergejew, weil ihn irritierend, aus dem Ballettsaal wirft. Schließlich darf Rudi bei Alexander Puschkin vortanzen und wird in dessen Klasse aufgenommen. Eindrucksvoll intensiv ist dieses Zusammenspiel von Fiennes und Ivenko, der Zögling, der an des Meisters Lippen hängt, wenn dieser „Nur durch Disziplin erreicht man Freiheit“ doziert, dabei selbst aber vorm Apparat kapituliert hat.

Auf Sightseeingtour in der Sainte-Chapelle: Oleg Ivenko, rechts: seine späteren Lebensretter Pierre Lacotte (Raphaël Personnaz) und Clara Saint (Adèle Exarchopoulos). Bild: Alamode Film

Nurejew liebt das Flair in den Straßen von Paris und genießt das Sitzen in den legendären Kaffeehäusern: Oleg Ivenko. Bild: Alamode Film

Fiennes spielt Puschkin mit väterlicher Milde als Antithese zum Klischee des gestrengen Ballettlehrers, aber auch einer seltsam bizarren Bedachtsamkeit, mit einer Art gewaltsam erzwungener Zurückhaltung, die die politische Dimension seines Jobs verdeutlicht, ein Beiklang, der die gesamten 127 Minuten des Films begleitet. Sozusagen als Klammer dazu dient ein Verhör Puschkins durch den KGB, bei dem er beteuert, nichts von Nurejews Fluchtplänen gewusst zu haben. Als ihn daheim dann seine Frau fragt „Alles in Ordnung?“, wird er mit einem hocherfreuten „Ja!“ antworten.

Ksenija ist es auch, die Rudi nach einer Knöchelverletzung aus dem Krankenhaus holt, ihn in der ehelichen Wohnung, genauer: in deren Schlafzimmer aufnimmt, und dort Rudis „Entjungferung“ erledigt. „Nurejew – The White Crow“ bleibt stets nah an seinem Protagonisten. In langen Sequenzen von Proben und Auftritten zeigt nicht nur Ivenko sein Können, sondern auch, dass Rudis Selbstherrlichkeit, mit der er seinem Umfeld gehörig auf die Nerven geht, durchaus berechtigt war. Mit lakonischem Humor geht Ivenko an diesen Wesenszug heran: Als der noch unbekannte Tänzer auf einem Bankett etwa gefragt wird, ob er auf der Bühne gewesen sei, lautet die Replik trocken: „Hätte ich getanzt, hätten Sie es bemerkt“.

Dies vorgetragen nicht mit der Arroganz eines Angebers, sondern in der Vorahnung, dass er mit dieser Aussage einmal recht haben wird. Ivenko gestaltet seine Figur als wissbegierigen, intelligenten, charismatischen Mann, dem es nicht genügt, die Pflicht von Choreografien zu erfüllen, weil er das Leben zur Kür machen will. In Paris wird er zu Clara Saint und Pierre Lacotte sagen, er habe das „Feminine“ in seinen Stil integriert, um ebenso zu strahlen wie die beneideten Ballerinen, und um die männlichen Rollenparts endlich zu emanzipieren.

Auch Nurejews Bisexualität thematisiert Fiennes‘ Film unaufgeregt. Louis Hofmann ist als Rudis erster Geliebter, der ostdeutsche Tänzer Teja Kremke, zu sehen, ein Freigeist, der in Nurejew erste Fluchtgedanken keimen lässt. Kremke war Nurejew auch künstlerisch ein wichtiger Partner, hat er doch dessen Darbietungen gefilmt und gemeinsam mit Rudi auf Fehler analysiert – eine Erinnerung, ausgelöst beim Betrachten antiker Männerstatuen im Louvre. In Paris genießt Nurejew „La Liberté“, die Freiheiten und Freizügigkeiten des Westens in vollen Zügen.

Im Ballettsaal mit Juri Solowjew: Oleg Ivenko und der ukrainische Ballettstar Sergei Polunin. Bild: Alamode Film

Ein Wunsch aus Kindertagen erfüllt sich, als Rudi in Paris eine Modelleisenbahn ersteht: Oleg Ivenko und Sergei Polunin als Juri Solowjew. Bild: Alamode Film

Er kauft sich – sein größter Wunsch – eine Modelleisenbahn, mit der er mit Juri Solowjew, Zimmergenosse seit Institutstagen, spielt, pflaumt nicht gleich spurende Verkäufer und Kellner an, schlendert allein durch die Pariser Parks, bei all diesen Unternehmungen misstrauisch beäugt und wegen „kapitalistischen Verhaltens“ offiziell verwarnt von KGB-Aufpasser Strischewsky, den Alexey Morozov die Angst um die eigene Person aus allen Poren schwitzen lässt. Nurejew findet verlässliche Freunde im französischen Balletttänzer Pierre Lacotte und in der kunstsinnigen, irgendwie geheimnisumwitterten Chilenin Clara Saint.

Raphaël Personnaz und Adèle Exarchopoulos überzeugen als diese Charaktere, mit denen Rudi die Nachtclubs der Stadt und Jazzspelunken, in den Männer mit Männern und Frauen mit Frauen tanzen, unsicher macht. Dass Clara die Verlobte des bei einem Autounfall gestorbenen Sohns von André Malraux, seines Zeichens Links-Gaullist, Kulturminister und Autor des Romans „La Condition humaine“, war, wird Nurejew vor seiner Rückführung in die UdSSR bewahren. Dass der impulsive Rudi auch sie immer wieder beleidigt und beschämt, verzeiht sie ihm in ihrer bedingungslosen Zuneigung permanent …

In dieser letzten halben Stunde verwandelt Fiennes seinen Film in einen dramatischen Politthriller, der verdeutlicht, welche vernichtende Wirkung repressive Regime auf den Einzelnen haben. Als es nämlich weiter gehen soll zur nächsten Tourneestation London, wird Nurejew von Strischewsky und seinen Schergen von der Truppe abgesondert. Erst heißt es, er solle zurück in die Heimat, um bei einem Staatsempfang zu tanzen, dann seine Mutter sei erkrankt. Mit allen Mittel und allen möglichen Psychospielchen will man ihn nach Moskau verfrachten, wo er von der Bildfläche verschwinden soll.

Als Strischewsky mit Anklageerhebung droht und Nurejew nach dem Warum fragt, lächelt dieser zynisch: „Uns fällt schon was ein“ (es wurde eine Verurteilung in Abwesenheit wegen Landesverrats). Da projiziert Oleg Ivenko eine Furcht in seinen bis dahin unbezähmbare Kraft versprühenden Blick, dass es einem Gänsehaut macht. Und während die Ballettkollegen sich mit eingezogenem Kopf Richtung Gate davonschleichen, weicht der zur Verabschiedung mitgekommene Pierre als menschliches Schutzschild nicht von Rudis Seite – bis Clara alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung gesetzt hat. Was folgt ist ein fulminanter Showdown, ein spektakulärer Befreiungsakt aus den restriktiven Fängen des sowjetischen Systems. Der Rest ist Geschichte …

 

Video: Teja Kremke fotografiert und filmt Rudolf Nurejew

www.nurejew-thewhitecrow.de

  1. 9. 2019