Wiener Staatsoper streamt: La Traviata

März 9, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Influencerin Violetta verliert all ihre Follower

Violetta Valéry ist bei Simon Stone nicht länger Kurtisane, sondern Internet-Influencerin: Pretty Yende und Juan Diego Flórez als Alfredo Germont. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Ein Glück. Die in der per Video angebotenen „Einführungsmatinee“ mehrmals beschworene, nie konkret ausgesprochene Frage der Hautfarbe spielt denn doch keine Rolle. Die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende muss also nicht als die schwarze, sondern kann als eine gesanglich wie darstellerisch ausgezeichnete Violetta und ganz ohne Meghan-und-Harry-Vergleich in die Annalen der Wiener Staatsoper eingehen.

Von dort zeigte Regisseur Simon Stone via ORF III und Stream seine Inszenierung von Verdis „La Traviata“ – noch fünf Tage zu sehen in der tvthek.orf.at und am 12.März erneut auf play.wiener-staatsoper.at -, und was das Handvoll Rezensentinnen und Rezensenten vor Ort hie und da als Bilderflut, SMS-Wut, mit einem Wort: too much Emojis bemängelte, kann vorm Bildschirm nicht nachvollzogen werden. Die Kamera bleibt die meiste Zeit dicht an den Protagonistinnen und Protagonisten, man ist an deren Spiel gänsehautnah dran – und erlebt einen Opernabend erster Klasse.

Hausdebütant Stone, in Wien bisher bekannt vom Burgtheater, beispielsweise mit seiner „Medea“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=31048) oder „Hotel Strindberg“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=28131), versteht sich als Beauftragter in Sachen Neu- und Überschreibungen. Eine Kunst, die er zur Meisterschaft gebracht hat, derart gab’s natürlich auch kein Halten vor der Kameliendame: Violetta Valéry, die gewesene Kurtisane, ist nun eine Internet-Influencerin.

Schon zur Ouvertüre dreht sich auf der Bühne von Bob Cousins der Social-Media-Kubus, Violetta hat alle Kanäle offen für die Community, Kurznachrichten, Instagram, ein Mail von Mama: Bist du müde, trinke Selleriesaft!, wird sofort zur Werbebotschaft – und ist zugleich ein erster Hinweis auf Erkrankung. Per Messenger ersucht Doktor Grenvil, Violetta möge sich bitte dringend melden.

Doch vorm Club „Martina’s“, ja, mit Wermutstropfen-Schriftzug, steht die Jeunesse dorée in der Warteschlange, und Violetta mittendrin im Goldkleidchen, eine mondäne „Bitch“, wer’s Musikvideo kennt, Pretty Yende eine Beyoncé der Oper. Von den gutsituierten Spezis mitgeschleift, erscheint Alfredo auf der Bildfläche, und Juan Diego Flórez gestaltet ihn als an den Schläfen angegrauten Endvierziger, er wirkt wie ein Oberbuchhalter auf Sexurlaub, Typ hauptberuflicher Erbe, den der herrische Vater nicht mal in die Nähe eines Vorstandsposten lässt.

Man flirtet sich Richtung Liebe auf den ersten Blick, kaum im Home Office, und Alfredo hat einen Laptop! mit Birnenlogo!, wird gechattet, überhaupt haben hier alle ständig ihr Smartphone in der Hand. Violetta findet derweil ihren Weg durchs morgendliche Paris, vorbei am riesigen Leuchtplakat für ihr Parfüm „Villain“, an der Jeanne d’Arc auf der Place des Pyramides bis zum „Paristanul“-Kebabstand.

Violettas Salon ist nun ein hipper Club: Ensemble. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Beim Landleben ist Digital Detox angesagt: Pretty Yende. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Pretty Yende und Igor Golovatenko als Giorgio Germont. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

La Traviata – die Parfümwerbung: Pretty Yende im Plakatformat. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Ein Hinweis auf Banlieue-Herkunft, und auf Stones und Cousins‘ Schauplatzwechsel zwischen lärmend und leise, Überfrachtung und Weißtünchung, die Welt lebt nicht von Facebook allein – im zweiten Akt auf dem Lande genügen ein Traktor und eine Scheibtruhe zur Illustration. Digital Detox ist angesagt. Violetta in Gummistiefeln stemmt Heuballen, Alfredo im Holzfällerhemd hat den Bürohengst hinter sich gelassen, und Flórez singt so anrührend von der neuen Freiheit, die Freude darüber in jedem Ton, dass einem angesichts des Ausgangs der Geschichte klamm ums Herz wird.

Juan Diego Flórez, mit dieser gottgegebenen Stimme, ist wie für den Alfredo dieser Aufführung geboren. Feinnervig erspürt er dessen sympathisch schüchternen Charme, singt den Alfredo geschmeidig und mit Gefühl und stemmt das hohe C am Ende seiner Cabaletta mit einer Leichtigkeit, die ihn als herausragenden Verdi-Interpreten ausweist. Flórez ist in Höchstform. Liebe wie Leid vermittelt er ehrlich und tiefempfunden, dies nicht zuletzt auch dem hohen Niveau von Simon Stones Personenführung gedankt – und der Chemie, die zwischen Flórez und Pretty Yende knistert.

Auch die versteht, die Tonleiter der Emotionen zu erklimmen, brennend vor Leidenschaft präsentiert sie diese Figur, die ihr sozusagen auf den Leib geschneidert wurde. Ihre Violetta ist elegant wie expressiv, stark wie zerbrechlich, Yende findet immer die rechte Balance zwischen It-Girl und Lyrik. Ihr Sopran ist glockenhell, bei den Koloraturen brilliert sie, sie hat eine Einfachheit im Singen, dies als Kompliment gemeint, heißt: ohne Schnörkel und Chichi, die ergreift, und kommt’s ein, zwei Mal zum Distonieren, so sei dies als Aufflackern von Violettas Seelenqualen angenommen. Alles in allem: Welch ein Rollendebüt!

Nun kann der Verliebteste nicht in Frieden leben, wenn es der Bank – im Hintergrund der pastoralen Idylle laufen Kontoauszüge und Mahnschreiben – und dem bösen Papa nicht gefällt. Auftritt Igor Golovatenko, als Giorgio Germont, als dritter im Bunde der Solistinnen und Solisten zu nennen. Der Vater, der sich als gesellschaftlich installierte moralische Instanz geriert, und doch nur nach seinen eigenen Geschäftsinteressen schielt, Golovatenko, der seinen kräftigen, mehr bodenständigen als noblen Bariton dröhnen lässt.

Großartig gespielt ist des alten Germonts ekelhaft bedrückter Großmut, so klein sein Gewissen, wie die Kapelle, vor der sich das alles ereignet. Gelungen auch die szenische Umsetzung mittels Newsticker, über den, während Germont fürs Töchterchen bittet, Nachrichten von einem Firmenskandal – Verstrickungen in Saudi-Arabien, der Prinz zieht die Verlobung zurück, katastrophale Konsequenzen – laufen. Schade, dass in dieser Schlüsselszene die Bildregie bei ihrer Großaufnahmen-Taktik bleibt, hier hätte die Totale mehr Aufklärung gebracht.

Und apropos, kurze Kritik: Nicht erschließt sich das Kostüm, das Alice Babidge Igor Golovatenko angetan hat, und das so gar nicht den Machtmenschen verkörpert. Die knittrige Hose, das dazu weder in Farb- noch Stoffwahl passende Sakko und die Umhängetasche sehen eher nach abgehalftertem Aufdeckerjournalist denn nach Unternehmer aus. Mit Giacomo Sagripanti hat der Abend einen Dirigenten, der alles richtig macht, einen verlässlichen, einfühlsamen Begleiter der Sängerinnen und Sänger, der um deren große Momente weiß, präzise musizieren und kraftvoll Akzente setzen, bis er zur traurigsten aller traurigen Romanzen, „Addio, del passato“, die Geigen zartschmelzen lässt.

Igor Golovatenko als Giorgio Germont. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Attila Mokus als Baron Douphol (re.). Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Der Kameliendame Krebstod. Bild: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Nach einem Bruce-Nauman-Moment mit Margaret Plummer als Flora Bervoix und Attila Mokus als Baron Douphol, Motto: per SMS in die SM-Spaßgesellschaft, ist man nämlich im Sterbeakt, und da digitale Schwindsucht als tödliche Krankheit nicht durchgeht, hat Simon Stone seiner Online-Celebrity unheilbaren Krebs verschrieben. Chemotherapie-Raum, Krankenhausnachthemd, das Orchester, filigran, verzweifelt, folgt Violetta noch einmal durch Paris. Es ist jener Traum, von dem man sagt, mit ihm ziehe das ganze Leben an einem vorbei.

Dazu Selfies aus glücklichen Tagen, Violetta und Alfredo, Pretty Yende herzzerreißend, aber pathosbefreit, selten hat man sich am Ende von „La Traviata“ so sehr das unmögliche Happy End gewünscht. Donna Ellen als Annina fällt am Spitalsbett noch positiv auf, sie ist die letzte Vertraute, alle anderen Follower hat Violetta verloren …

Instagrammerin Josi Maria berichtete von ihrer Magersucht – bis zum Tod, Bloggerin Emily Mitchell über ihre Schwangerschaft – bis zum Tod, Influencerin Kasia Lenhardt über ihre Beziehung zu Fußballstar Jerome Boateng – bis zum Tod. Das moderne Gewand, in das Simon Stone seine „Traviata“ gehüllt hat, ist absolut stimmig. Verdi erschuf ein Geschöpf im Rausch der Geschwindigkeit und des Champagners, das die eigene Privatheit, sogar Intimität zu Markte trägt, um im Luxus schwelgen zu können. Auch die Standesdünkel des Kapitals gegen die Aufmerksamkeitsökonomin passen, bis heute heiraten Geld- wie Altadel bevorzugt untereinander. Was die Neuinterpretation der „Traviata“ angeht, kann man nur sagen: Mission completed.

Bleibt, allen Beteiligten an dieser Produktion den gebührenden Applaus zu spenden. Gespenstisch war er schon, dieser Abend ohne einmal Klatschen. Vielleicht, auf bald, live. Bis dahin ist die Aufführung, eine Koproduktion mit der Opéra national de Paris, noch fünf Tage in der ORF-TVthek zu sehen: tvthek.orf.at/profile/Erlebnis-Buehne/13869433/Erlebnis-Buehne-Wir-spielen-fuer-Oesterreich-La-Traviata-aus-der-Wiener-Staatsoper/14084437

Eine Wiederholung des „La traviata“-Streams gibt es am 12. März ab 19 Uhr auf play.wiener-staatsoper.at, kostenlos und für 24 Stunden abzurufen. Einführung zur Inszenierung von Simon Stone: www.youtube.com/watch?v=qC5nWgHjQPA          www.wiener-staatsoper.at

  1. 3. 2021

Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand

November 22, 2018 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Wie „Humbug!“ zum Weltbestseller wurde

Christopher Plummer als Scrooge, dahinter Dan Stevens als Charles Dickens. Bild: © Bah Humbug Films Inc & Parallel Films (TMWIC) Ltd 2017

Adaptionen gibt es unzählige, selbst die Muppets, Micky Maus und Bill Murray kamen daran nicht vorbei, eine Folge „Doctor Who“ befasst sich damit, auch eine von „Blackadder“, sogar Onkel Dagobert heißt im englischen Original Scrooge McDuck. „A Christmas Carol“ nicht zu kennen, ist so unmöglich wie „Stille Nacht“ nicht zu können. Wie die Feiertagsgeschichte entstand, erzählt ab Freitag im Kino „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand“.

Basierend auf dem Buch von Les Standiford ist Regisseur Bharat Nalluri ein hinreißender, auf very britische Weise verschroben schrulliger Film gelungen, opulente, starbesetzte Bilder von einer pittoresken Schmuddeligkeit – wobei Nalluri trotz schwelgerischer Optik nie auf die Dickens’sche Sozialkritik vergisst. Was der Autor in „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festhielt, die Armut der Arbeiterklasse, das Ausbeuten von Kindern als billige Arbeitskräfte, rührt aus der eigenen Vergangenheit, erfährt man, ein Kindheitstrauma, dem der Film ebenso viel Raum widmet, wie der Geburt des Literatur-Klassikers. Und so wird man, während Dickens im Winter 1843 von Flops, auf welche beinah die Pleite folgte, aus der Kurve getragen wird, und in den sechs Wochen bis zum Christfest einen Erfolg nicht nur schreiben, sondern, weil die renommierten Häuser alle abwinken, auch selbst verlegen und ergo neue Kredite aufnehmen muss, immer wieder in jene Fabrikshalle zurückgeworfen, in der der elfjährige Charles seinen Lebensunterhalt verdienen musste.

Ein schmutzstarrendes, rattenbefallenes Loch ist das, in dem Buben mit rußverschmierten Gesichtern Etiketten auf Glasflaschen kleben, hustend, hinter ihnen der riesige Kessel, in dem die Schuhpolitur brodelt, die Warren’s Blacking Warehouse herstellt. Sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag schuftete das Kind Dickens hier, während Vater und Mutter in Schuldhaft saßen, und diese Schmach und Scham und der Schmerz darüber, von den Eltern so fahrlässig verlassen worden zu sein, wird den Schriftsteller ein Leben lang begleiten. Kaum jemandem hat er sich über diese Erfahrungen anvertraut, und so verwebt der Film das Gespenst der Vergangenheit, dem Dickens Herr zu werden versucht, mit den Geistern, die er ruft, damit sie sein neues Buch bevölkern.

Pittoreskes London. Bild: © Bah Humbug Films Inc & Parallel Films (TMWIC) Ltd 2017

Der Schreibprozess wird zur Seelenreinigung. Dies alles serviert Nalluri nicht auf dem Silbertablett, sondern entdeckt er dem Zuschauer erst nach und nach. Das macht „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand“ über die Buchstory hinaus zum spannenden Psychogramm des Schreibstars. Dass die Übung gelingt, ist in hohem Maße dem als „Downton Abbey“/„Matthew Crawley“ bekannten Dan Stevens zu danken.

Er macht aus dem 31-jährigen Dickens einen kauzigen Unruhegeist, der mal vor Zorn, mal vor Enthusiasmus mit wehenden Rockschößen durchs viktorianische London wirbelt, um sein Projekt voranzutreiben. Wenn die Kamera auf Stevens‘ Gesicht zoomt, die Augen darin mitunter von durchaus berechtigtem Wahnsinn umflort, ist alles abzulesen, was diesen Mann an- und umtreibt: Die Aufwendungen für sein Dandy-Dasein, das Haus zwecks Renovierung eine kostspielige Baustelle, bei der Frau das fünfte von zehn Kindern unterwegs – und ante portas der nach wie vor verschwenderische Vater samt Mutter, um beim Sohn einmal mehr zu schmarotzen.

Diesen John Dickens spielt der grandiose Jonathan Pryce changierend zwischen der Grandezza eines Lebemanns und eines vom Leben gebeutelten, ewigen Verlierers. Wie ihm für seine Enkelkinder – selbstverständlich auf Charles‘ Kosten – nichts zu teuer ist, wie er für sie spontan Märchen erfindet und erzählt, da erkennt man den Ursprung von Charles‘ Genie, dann wieder ertappt ihn dieser im Mistkübel nach seinen weggeworfenen Entwürfen stöbern – ein Autograph des berühmten Autors brächte John eine Menge Geld ein.

Der zweite (Vater-)Charakter, mit der sich Dickens herumschlagen muss, ist natürlich Ebenezer Scrooge, eine Rolle, die für Christopher Plummer, der mit Süffisanz und Sarkasmus brilliert, erschaffen worden zu sein scheint. Wie Nalluri Leben und Werk verknüpft, so fällt auch für Dickens die Fiktion in den Alltag ein, seine Figuren findet er in seinem Umfeld, seinen Rechtsanwalt und einen Kellner mischt er zu Marleys Geist, und Tiny Tim, dessen Vorbild Dickens‘ gehbehinderter Neffe ist, darf nur überleben, weil das irische Kindermädchen Tara für ein Happy End plädiert. So entdeckt er schließlich seinen Scrooge bei einem nächtlichen Friedhofsspaziergang, wo dieser alles, was mit Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe zu tun hat, mit dem Wort „Humbug!“ abtut. Das ist für Dickens zu schön, um daran vorbei zu gehen.

Charles Dickens (Dan Stevens in der Mitte) wird von seinen Figuren verfolgt. Bild: © Bah Humbug Films Inc & Parallel Films (TMWIC) Ltd 2017

Mit den Figuren kommt zum Aberwitz auch ein gewisser Gruselfaktor ins Spiel. Wunderbar, wie sie es sich im Arbeits-, manchmal sogar im Schlafzimmer bequem machen, zu Geschäftsessen und anderen Gelegenheit mitgehen, immer um Dickens herum sind, und vor allem Mitspracherecht über ihre Gestaltung einfordern. Geizhals und Fiesling Scrooge findet sich als zu einseitig dargestellt, „Meine Figur hat keine Gelegenheit, ihre Seite zu erklären“, beschwert er sich.

Bis Dickens sich endlich mit einem irritierten „Ich bin hier der Autor!“ die Autorität über sein Schaffen zurückerobert. In einer Schlüsselszene erscheint, nebelumwabert und von Blitzen begleitet, Marleys Geist nicht um Scrooge, sondern dessen Schöpfer seine Ketten aufzuzeigen. Und so muss Charles Dickens den Scrooge in sich erkennen und sich um nichts weniger läutern als sein Antiheld … „Charles Dickens: Der Mann der Weihnachten erfand“ ist von einer Warmherzigkeit, die selbst den größten Weihnachtsmuffel in X-Mas-Laune versetzen muss. Ein Film, so herbsüß wie Lebkuchen, so süffig wie der dazu gehörende Punsch, so dass einem jetzt schon die Christbaumsterne in den Augen glänzen.

www.bleeckerstreetmedia.com/themanwhoinventedchristmas

  1. 11. 2018

Remember – der neue Film von Atom Egoyan

Mai 9, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Christopher Plummer brilliert als dementer Nazijäger

Christopher Plummer: Ein alter, angeschlagener Wolf ist auf der Jagd. Bild: ©Tiberius Film

Christopher Plummer: Ein alter, angeschlagener Wolf ist auf der Jagd. Bild: © Tiberius Film

Nun hat es der kanadisch-armenische Regisseur Atom Egoyan also wieder geschafft zu polarisieren. Die Übersee-Rezensionen zu seinem neuen Film „Remember“, der am 13. Mai in den heimischen Kinos anläuft, fahren Achterbahn, die Urteile liegen zwischen „Darf er das?“ und „Muss das sein?“ und die Antwort lautet in beiden Fällen: Ja.

Egoyan erzählt einmal mehr vom Genozid, diesmal von der Shoa, aber „Remember“ ist kein Holocaustfilm im herkömmlichen Sinne, er ist wie ein Agententhriller, in dem angegraute, angeschlagene, angezählte Wölfe sich ein letztes Mal gegen den Feind aufbäumen. Der Held, von den Umständen verwirrt, muss sein Leid immer wieder von Neuem erfahren, humpelt von Falle zu Falle und wird am Ende mit einer Wahrheit konfrontiert, die schrecklicher ist als der Kopf es sich vorstellen konnte. Egoyans Arbeit ist wie gewohnt ein Puzzle, ein Vexierspiel, die Erzählung verschachtelt und konstruiert, wie immer geht es um Identität und Verlust oder Verleugnung derselben, und mag man dem Erstlingsdrehbuch von Benjamin August auch vorwerfen, dass vieles schnell durchschaubar ist, so entschädigt doch der spionage-genrige Showdown am Schluss.

Überragend und über jeden Zweifel erhaben ist die schauspielerische Leistung von Protagonist Christopher Plummer, dem die illustre Kollegenriege Martin Landau, Bruno Ganz und Jürgen Prochnow zur Seite steht. Ihn, Plummer, hat Egoyan inszeniert, ihm gehört die ganze Aufmerksamkeit, die Kamera von Paul Sarossy umkreist ihn unablässig, verweilt auf diesem zerfurchten Gesicht und fängt dort jede Emotion auf. Die instabile Kamera steht dabei nicht nur für den emotionalen, sondern auch für den körperlichen Zustand, den Zerfall der Hauptfigur. Ein passendes Bild für das Grauen in dieser Geschichte.

Denn Zev Guttman, Plummers Figur, ist dement, er lebt im Altersheim, seine Frau ist vor zwei Wochen verstorben und noch immer ruft er jeden Morgen nach ihr. Er hat einen Freund, Max Zucker, gespielt von Martin Landau, und der nun eine Mission für ihn: Töte den Mann, der in Auschwitz unsere Familien getötet hat. „Remember“, das ist hier ein Aufruf, ein „Erinnere dich!“, denn der ehemalige Mitarbeiter des Simon-Wiesenthal-Centers sitzt im Rollstuhl und braucht Zevs gesunde Beine, um seine Lebensaufgabe zu erfüllen. Max will nicht Recht, sondern schlicht Rache. Doch die Sache hat einen Haken. Der KZ-Aufseher Otto Wallisch ist unter dem von einem seiner Opfer angenommenen Namen Rudy Kurlander untergetaucht – und von denen hat Max vier gefunden. So beginnt für Zev eine Reise, die ihn von Cleveland bis Kanada führt. Auf der Suche nach dem richtigen, nach dem zu richtenden Schuldigen.

Egoyan erzählt das ohne die oft üblichen Rückblenden. Die Todesmaschinerie des Dritten Reichs bleibt subtile Andeutung, etwa in Zevs Angst vor scharfen Hunden oder seinem Aufhorchen beim Wort „Flüchtling“. Dass er in der Badewanne Richtung Duschkopf sinniert, hätt’s da gar nicht gebraucht, denn es versteht sich auch so, wie Egoyan die Brücke ins Heute schlägt, wenn er ein Amerika zeigt, in dem Alltagsfaschisten und Antisemiten fröhliche Urständ‘ feiern. Sehr schön eine Szene, in der Zev, ein ganz offensichtlich wirrer Greis, ohne Widerrede eine Waffe kaufen kann. Er hat einen Führerschein, nach mehr wird nicht gefragt, obwohl klar ist, dass dieser Mann längst nicht mehr Autofahren kann, für das Betätigen des Abzugs wird’s schon noch reichen. Max hat Zev einen Brief mitgegeben, in dem er die Anweisungen täglich mehrmals aufs Neue liest, weil ja schon wieder vergessen, und damit er nicht vergißt, den Brief zu lesen, hat er sich die Erinnerung daran als Notiz aufs Handgelenk geschrieben. Eine bittere Ironie, dass ein Mann, der sich kaum die Gegenwart merken kann, eine 70 Jahre zurückliegende Vergangenheit rekonstruieren soll. Martin Landau ist ganz großartig als stoisches Mastermind, der die Dinge aus der Ferne dirigiert.

Und so reist Zev „ferngesteuert“ von Kurlander zu Kurlander. Findet in Bruno Ganz einen niemals aus der Verblendung erwachten Ewiggestrigen, ein kurzer Auftritt nur des Iffland-Ring-Trägers, aber natürlich so markant, wie man es von diesem Ausnahmeschauspieler gewohnt ist, in Dean Norris einen Neonazi, eine gefährliche, gescheiterte Existenz, die die SS-Devotionaliensammlung des verstorbenen Vaters wie einen Schatz hütet, und in Jürgen Prochnow den gutsituierten Verdränger, einen Täter, der sein selbst zusammengezimmertes Opferschicksal mittlerweile fast schon glaubt. Prochnow glänzt in dieser Rolle als gutmütiger Großvater hinter dessen altersmilder Fassade die Vergangenheit wie ein Raubtier lauert. Und während sein Sohn Charles ihn fieberhaft sucht, findet Zev heraus, wer in Wahrheit Otto Wallisch ist …

Martin Landau (re.) als Mastermind Max leitet die Operation Kurlander. Bild: ©Tiberius Film

Martin Landau (re.) als Mastermind Max Zucker leitet die Operation vom Rollstuhl aus. Bild: ©Tiberius Film

Nur ein Durchschnittsnazi: Bruno Ganz (li.) als Rudy Kurlander # 1 ist nicht der Gesuchte. Bild: ©Tiberius Film

Nur ein Durchschnittsnazi: Bruno Ganz (li.) als Rudy Kurlander # 1 ist nicht der Gesuchte. Bild: © Tiberius Film

Der nette Opi von nebenan: Jürgen Prochnow (li.) als Kurlander # 4. Bild: ©Tiberius Film

Der nette, gefährliche Opi von nebenan: Jürgen Prochnow (li.) als Kurlander # 4. Bild: © Tiberius Film

Er habe „Chris in seiner unglaublichen Vitalität ein wenig einschränken müssen“, erzählt Egoyan über die Dreharbeiten. Und tatsächlich spielt Plummer sehr reduziert, sehr zurückhaltend, spielt die ganze Mühsamkeit des Altwerdens mit ermüdend langsamem Schlurfgang und ratlos hängendem Blick, und dann plötzlich ein Aufblitzen, der Wolf ist noch da und er wird zuschlagen. Plummer gelingt eine beeindruckende Gratwanderung zwischen Sein und Nichtmehrsein, er schafft es, mit seiner Charakterdarstellung einen Film zu verorten, der mitunter mittelschwer an der Skizzenhaftigkeit des Plots krankt. Sein Agieren zeigt Zevs stilles Aufbegehren gegen das eigene und das gesellschaftliche Verstummen, eine Aufforderung, die letzten Zeitzeugen zu hören, jetzt dringender denn je.

Zevs Weg führt von Pflegeheim zu Geriatrie zu Hospiz, und es mag auch die ständige Anwesenheit dieser ans immanente Ende gemahnenden Unorte gewesen sein, die manchen Filmkritiker verunsichert hat. Doch Zevs ungesunde Albtraumfahrt in die Vergangenheit verweist auf ein Erbe, das immer noch weitergegeben wird. Die Untoten leben, wenn Dean Norris‘ Figur „etwas Aufregendes“ aus einem KZ hören will, wenn ihm der Ekel ins Gesicht geschrieben steht, weil er erkennt, dass er einen Juden, einen Andersgläubigen! bewirtet hat. Und Zev fällt wieder in diesen neuen, alten Strudel von Wahnsinn und Gewalt.

„Remember“ ist ein beklemmender Film darüber, wie Geschichte immer wieder von vorne beginnen muss. Man mag ihn für ein wenig bemüht halten, doch die Postings dazu, die ihren Hass über Menschen anderer Hautfarbe, Religion, sexueller Identität – es wird auch ein homosexuelles Opfer des Naziterrors gezeigt – auskotzen, beweisen, dass Egoyan mit seinem düsteren Roadmovie einen Nerv getroffen hat. Neben dem fulminanten Cast macht auch das die (Facebook-Zitat:) „Scheiße, die niemand mehr sehen kann“ auf alle Fälle sehenswert!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=vFxXCoprNqc , Trailer in Deutsch: www.youtube.com/watch?v=6HXTIvSxvX4

www.rememberthemovie.com

Wien, 9. 5. 2016

Simon Pegg und Toni Collette in …

August 19, 2014 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück

Hector (Simon Pegg) Bild: © 2014 Egoli Tossell Film

Hector (Simon Pegg)
Bild: © 2014 Egoli Tossell Film

Am 22. August läuft in den heimischen Kinos Peter Chelsoms Verfilmung von François Lelords Bestseller „Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück“ an. Inhalt: Der Londoner Psychiater Hector ist vielleicht ein bisschen exzentrisch, aber im Grunde einfach liebenswert. Nur ein Problem wird er nicht los, dabei gibt er sich wirklich die größte Mühe: Seine Patienten werden einfach nicht glücklich. Eines Tages nimmt Hector all seinen Mut zusammen und beschließt, London, seine Praxis und seinen Alltag hinter sich zu lassen, um sich nur noch dieser einen Frage zu widmen: Gibt es das wahre Glück? Und das auch für ihn? So begibt er sich schließlich auf eine weite, gefährliche, aber vor allem auch sehr lustige und emotionale Reise um den ganzen Erdball.

Herz und Seele der Produktion ist Simon Pegg als Hector. Der einstige Stand-up-Comedian, der mühelos zwischen Low-Budget-Ereignissen und Hollywood-Blockbustern (er ist der Computerspezialist Benji Dunn in „Mission: Impossible“ und „Star Treks“ neuer Bordingenieur Scotty und in beiden Rollen saukomisch) wechselt, zieht auch hier alle Register seines Könnens. Er lässt Hector zwischen kindlicher Neugier, augenzwinkerndem Schalk und philosophischer Ernsthaftigkeit so wunderbar wahrhaftig changieren, fährt Gefühlsachterbahn – und nimmt das Publikum auf diese Reise mit. In China, Afrika und Amerika hofft er, das Geheimnis des Glücks zu lüften, und erlebt dabei glaub- und unglaubwürdige Abenteuer. Mit einem gestressten Investmentbanker in Shanghai (Stellan Skarsgård), einem südamerikanischen Drogenbaron (Jean Reno), mit afrikanischen Warlords, einem Arzt ohne Grenzen, einer verflossenen Liebe (Toni Collette, derzeit in ORFeins in „Hostages“ zu sehen, runtergehungert auf Albtraumfabrik Size Zero, keine Spur mehr von der starken „Muriel“), Veronica Ferres als Hellseherin, die nicht hellsehen kann, und einem Glücksforscher (Christopher Plummer). Bald wird Hector klar: Glück ist das, was man sich selbst erschafft …

Chelsom hat das alles zu einem Sackerl knallbunter Bonbons zusammengeschnürt. Wie in diesen Zuckerlshops, wo man mit der Schaufel in die klebrigen Köstlichkeiten fährt und erst beim Wiegen feststellt, das man sich zu viel des Guten aufgeladen hat. So in etwa hat sich der Regisseur dem Prädikat Feel-Good-Movie verschrieben und Probleme der von Hector bereisten Länder außen vor gelassen. Hier ist eben einer, der die Welt durch die rosarote Brille sehen will. Und das gelingt Simon Pegg mit seinem tollpatschigen Charme allemal.

http://hectorsreise.derfilm.at/

Wien, 19. 8. 2014