Roman Polański: J’accuse – Intrige

Februar 6, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Affäre Dreyfus als erstaunlich aktueller Politthriller

Noch ist sein militärischer Ausbilder Picquart von Dreyfus‘ Schuld überzeugt, doch bald schon wird er sein Fürsprecher: Jean Dujardin und Louis Garrel. Bild: Guy Ferrandis

Der 5. Jänner 1895 ist kein großer Tag für die Grande Nation, vielmehr zeigt sich deren Belle Époque an diesem und den vielen folgenden von ihrer abstoßenden Seite. Die Regenwolken hängen tief, der Platz schwimmt in Wasser- lacken, zur Mitte des weitläufigen Hofs der Pariser École militaire marschiert eine Gruppe Offiziere. Der 5. Jänner ist der Tag, an dem Alfred Dreyfus, Artilleriehauptmann im Generalstab, wegen Landesverrats degradiert wird. Er soll dem Deutschen Kaiser- reich als Spion gedient haben.

Man reißt ihm die Epauletten vom Uniformrock, bricht sein Schwert entzwei, wirft alles zu Boden, ein inszeniertes, diszipliniert durchgeführtes Ritual der Entehrung. Dreyfus‘ schütteres Haar zittert im Winterwind, er nicht, seine Habtachtstellung ist eine, die starr ist vor Entsetzen über die groteske Demütigung. „Nun sieht er aus wie ein jüdischer Schneider, der den Wert der Goldtressen schätzt“, kommentiert einer der aberhundert gaffenden Soldaten und zivilen Schaulustigen. Doch der Bestrafte, der mit sichtbarer Mühe um Contenance ringt, muss noch die Reihen seiner ehemaligen Kameraden abschreiten. In dieser ersten Szene von „J’accuse – Intrige“, Roman Polańskis jüngstem Meisterwerk, das am Freitag in die Kinos kommt, ist bereits alles, was den weiteren Film ausmachen wird.

Das kalte Rattern der Militärmaschinerie, die den Menschen derart zum Objekt ihrer Macht deformiert, dass Dreyfus bei seinem Schandgang kein „Ich bin …“ über die Lippen kommt. „Man degradiert einen Unschuldigen!“, ruft er stattdessen im Gleichschritt und im Kommandoton der Kasernen. Auch der Antisemitismus ist allgegenwärtig, wenn die ältlich-fahlgesichtigen, von Standesdünkel angekränkelten Generäle versuchen, sich mit ihren judenfeindlichen Bonmots zu übertrumpfen. Für sie ist der gebürtige Elsässer Dreyfus der perfekte Sündenbock, mit dessen Deportation auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana sie die Angelegenheit als erledigt betrachten. Major Marie-Georges Picquart hat zu diesem Zeitpunkt ebenfalls keine Zweifel an dessen Verbrechen. Obwohl die Beweisführung des Gerichts alles andere als hieb- und stichfest war.

Er möge Juden nicht, aber er werde auch keinen diskriminieren, hat Dreyfus‘ früherer Ausbilder ihm in einer von etlichen Rückblenden beschieden. Polański, gemeinsam mit Romancier Robert Harris auch Drehbuchautor, macht diesen Picquart zum Protagonisten seines akribisch recherchierten Fin-de-Siècle-Films, der sich vom anfänglichen Spionage-, später Gewissensdrama in seinem letzten Drittel zum Gerichtsthriller steigert, einem kitsch- und ergo musiklosen, so distanziert und unaufgeregten wie die Militärs emotionsarm wirken. Das Erzähltempo fließt im Takt der Mühlen sogenannter Gerechtigkeit, wenn sie ein Bauernopfer zermahlen, jedes Kamerabild von Pawel Edelmann wie das Gemälde eines anno dazumaligen Salonmalers, das nun in einer Amtsstube verrußt, in der die Ressentiments nie richtig enlüftet wurden.

Ein inszeniertes, diszipliniert durchgeführtes Ritual der Entehrung, die Degradierung von Dreyfus: Louis Garrel. Bild: Guy Ferrandis

Emmanuelle Seigner als Pauline mit Luca Barbareschi als Ehemann Philippe Monnier. Bild: Guy Ferrandis

Picquard verfolgt den wahren Spion Walsin-Esterházy durchs Pariser Nachtleben. Bild: Guy Ferrandis

Und stellt den Schriftsachverständigen Bertillon zur Rede: Mathieu Amalric und Jean Dujardin. Bild: Guy Ferrandis

In diesem Setting ist der privat wuschelköpfige, nun dem Vorbild mehr als sich selbst ähnelnde Louis Garrel fabelhaft als Alfred Dreyfus, für dessen Darstellung ihm immerhin nur wenige Szenen zur Verfügung stehen. Etwa die in Sepia gehaltene, wenn er Hass und Misshandlungen auf der Teufelsinsel ohne eine Miene zu verziehen erträgt, oder beim zweiten Prozess, bei dem Dreyfus‘ körperlicher Verfall nicht nur durch die weniger und weiß gewordenen Haare deutlich wird, dabei nie ein Sympathieträger, sondern einer, der dank einer ordentlichen Portion Hybris keinem Märtyrerklischee entspricht. Dreh- und Angelpunkt der Produktion ist allerdings Oscarpreisträger Jean Dujardin als Marie-Georges Picquart, sein Spiel die brillante Verkörperung eines Stoikers, dem das Strammstehen in Fleisch und Blut übergegangen ist, eines konsequent nüchternen Denkers, dessen Gefühlsaufwallungen Dujardin in minimalsten Regungen seiner Gesichtsmuskeln lediglich anmerkt.

Picquart wird befördert. Zum Leiter des Deuxième Bureau, des militärischen Auslandsnachrichtendiensts, einer Gemeinschaft von Geheimniskrämern und Dunkelmännern, allesamt Gegner des neuen Chefs, in dessen Büro der gerahmte Brief an den Militärattaché der Deutschen Botschaft hängt, durch dessen Abfangen Dreyfus überführt wurde. Doch im Zuge seiner neuen Tätigkeit, und vor allem, weil er sich von seinen Untergebenen nicht daran hindern lässt, Verschlussakte aufzuschnüren, stößt Picquard auf Dokumente, die die Verurteilung von Dreyfus immer fragwürdiger erscheinen lassen und auf den Offizier Ferdinand Walsin-Esterházy als Schuldigen verweisen.

Ganz der Citoyen, der gegen alle Widerstände seinen Prinzipien treu bleibt und Unrecht nicht zu akzeptieren bereit ist, auch wenn er für Dreyfus keine besonderen Sympathien hegt, wendet sich Picquard an die Generalität – und muss erkennen, dass die Intrige samt Fälschungen und Vertuschungen bis in deren höchste Kreise reicht. Worauf der Aufdecker selbst ins Fadenkreuz gerät. Der Filmdialog dazu: Dreyfus-Ankläger, Geheimdienst-Vize und Brieffälscher Joseph Henry: „Sie befehlen mir einen Mann zu erschießen und ich tue es. Wenn Sie mir danach sagen, Sie haben sich im Namen geirrt, tut es mir leid, aber es ist nicht meine Schuld. So ist die Armee.“ Darauf Picquart: „So ist vielleicht Ihre Armee, Major, nicht meine.“

Als es vergangenes Jahr in Venedig den Silbernen Löwen – Großer Preis der Jury für Roman Polański gab, als die zwölf Nominierungen für den César 2020 bekannt wurden, flammten die #MeToo-Debatten rund um den Filmemacher wieder auf. Polański porträtiere sich selbst als Unschuldigen, hieß es, dabei ist „J’accuse -Intrige“, auch wenn dessen Schöpfer mit Schnauzbart und in Galauniform einen Cameoauftritt bei einem Konzert im Hause Monnier hat, so viel mehr. Überragend in künstlerischer wie handwerklicher Hinsicht, ist dies Kammerspiel Polańskis wichtigster und eindrücklichster Film seit Jahren – denn er hat, man möge vom Menschen dahinter halten, was man wolle, eine moralische Strahlkraft, die an politischer Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt.

J’Accuse …! In einem offenen Brief klagt Émile Zola die Obrigkeiten an. Bild:: Guy Ferrandis

Das bringt den Schriftsteller vor Gericht: André Marcon als Zola mit Melvil Poupaud als Anwalt Labori. Bild: Guy Ferrandis

Der Volkszorn ist im Wortsinn entfacht: Zolas Bücher werden in Paris öffentlich verbrannt. Bild: Guy Ferrandis

Die arrogante Generalität: Jean Dujardin mit Hervé Pierre, Didier Sandre und Vincent Grass. Bild: Guy Ferrandis

Mit der Figur Picquard, diesem Whistleblower avant la lettre, mit dem Zitieren eines stillen Antisemitismus, der gegenwärtig wieder lautstärker und gewalttätiger wird, mit einer kompromittierten, nichtsdestotrotz selbstgefälligen Ministerriege, die schützt, wer ihr gefährlich werden könnte, und die Möglichkeit eines begangenen Fehlers arrogant von sich weist, mit einem Plädoyer für die freie Presse, mit einem Fragen nach der Wahrheit angesichts „alternativer Fakten“. Picquard wird nämlich mit dem Herausgeber der Zeitschrift L’Aurore, Georges Clemenceau, und dem Schriftsteller Émile Zola bekannt gemacht, der darin seinen berühmten und hier titelgebenden Brief „J’Accuse …!“ veröffentlicht, ein Artikel gegen die Generäle Gonse, Mercier, Billot, Oberst du Paty de Clam und den Schriftsachverständigen und Dreyfus-Entlarver Bertillon. Weshalb Zola vom Generalstab verklagt und wegen Diffamierung verurteilt wird. Picquart wird zunächst auf ein Himmelfahrtskommando versetzt, dann doch inhaftiert und ebenfalls vor Gericht gestellt.

Dass Picquart kein komplett makelloser Charakter ist, macht Polański an dessen von Emmanuelle Seigner mit lasziver Lässigkeit grandios gespielten Geliebten Pauline Monnier fest. Auch der Rest des Casts ist handverlesen, mit Grégory Gadebois als schlitzohrigem Major Henry, Hervé Pierre als Geheimdienstgeneral Gonse, Wladimir Yordanoff als Kriegsminister General Mercier, Didier Sandre als Generalstabschef Boisdeffre, Melvil Poupaud als „Werwolf“ Fernand Labori, Rechtsanwalt von Dreyfus, Zola und Picquart, Mathieu Amalric als furchtsamen, rassentheoretische Schädelvermessungen vornehmendem Bertillon und André Marcon als bärbeißigem Émile Zola. Mit dessen Prozess, seinem Exil in London, einem Duell zwischen Picquart und Henry und einem Schussattentat auf Labori ist Polańskis mehr als zweistündige Affäre Dreyfus lange nicht zu Ende …

Das Ende schließlich, kein Spoiler, da nachzulesen, so nicht bekannt, erzählt er beiläufig. Dreyfus, 1906 rehabilitiert und wieder in die Armee eingegliedert, sitzt dem neuen Kriegsminister des Kabinetts von nunmehr Ministerpräsident Clemenceau in dessen pompösem Palais gegenüber – Picquart, ein wenig gelöster als davor, Dreyfus nach wie vor stocksteif, denn der ewige Capitaine will endlich zum Lieutenant-colonel befördert werden. Was Picquart ablehnt. Staatsräson, nicht an kaum verheilten Justizwunden rühren, etc. Kurz streifen die beiden Männer den Fall, der sie in den Geschichtsbüchern für immer verbinden wird. Verbrüderung findet nicht statt, diese zwei werden einander nicht in die Arme fallen. Im Nachspann steht, sie sahen sich danach nie wieder.

www.weltkino.de/filme/intrige

6. 2. 2020

Wiener Festwochen: Идеальный муж / Ein idealer Gatte

Mai 26, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Populist liebt populären Popstar

Bild: Ekaterina Tsvetkova

Eine Männerliebe fürs Leben: Igor Mirkurbanow als Lord und Alexej Krawtschenko als Minister Robert Ternow. Bild: Ekaterina Tsvetkova

Als zur Mitte des Abends Schauspieler Sergej Tschonischwili unter Szenenapplaus als Dorian Gray auftritt und jede Ähnlichkeit mit dem amtierenden russischen Präsidenten natürlich ein Zufall sein muss, erklärt sich, warum gewisse Kräfte in Moskau versucht haben, diese Aufführung vom Spielplan zu verbannen. Nicht nur lässt er sein Bildnis von einer Figur namens „der letzte russische Intellektuelle“ malen.

Er schließt auch einen faustischen Pakt mit der Kirche, um es an seiner Stelle hässlich und alt werden zu lassen, und stülpt sich schließlich die Zarenkrone auf den Kopf. Tschonischwilis Fanpublikum tobt vor Lachen, es singt auch die angestimmten Schlagersongs und Volkslieder mit, oder johlt, wenn sich eine Protagonistin als Laura Palmer ausgibt. Der Gag entschlüsselt sich unser einem erst via Wladimir Kaminers Blog: Gorbatschow sah so gerne „Twin Peaks“ – vermutlich wegen des Nebels, der über der Geschichte wabert …

Schauspielchefin Marina Davydova beschert den diesjährigen Wiener Festwochen die Theatersensation der Saison: Sie lud Konstantin Bogomolov und das Tschechow Künstlertheater Moskau ins Museumsquartier, damit sie ihre Version von „Ein idealer Gatte“ zeigen. Bogomolov hat Oscar Wildes Text adaptiert, die betuchte britische Upperclass zur neureichen russischen Elite gemacht, und die demaskiert der Regisseur nun unter Zuhilfenahme von sehr viel Komödianten-Make-up. Wobei die Inszenierung nicht so skurril-spaßig ist, wie man es von deutschsprachigen des Stoffs kennt, vielmehr schwebt über allem die Schwere der russischen Seele, ein Hauch Moskauer Melancholie. Bogomolov legt eine Arbeit vor, die das Innerste nach außen kehrt, heißt in diesem Fall: Links auf Rechts dreht, da bleibt keine Paillette und keine Epaulette an ihrem Platz, da werden Scheinheiligkeit und Verlogenheit eines Systems und seiner Profiteure ausgestellt, politische wie religiöse Orthodoxie veralbert, dass es nur so kracht. „Ein idealer Gatte“-reloaded ist eine satirisch-trashige Enzyklopädie des modernen Russland, freilich, es dürfen sich auch anderswo neoliberalistische Antidemokraten angesprochen fühlen.

Und so ist es nur konsequent, dass die Dorian-Gray-Episode ähnlich Dostojewskis „Großinquisitor“ einen separaten zweiten Akt darstellt, geht es doch im Rundherum um dessen „Heftklammern“, ein Begriff, der, so lehrt der Programmzettel, im Putin’schen Neusprech jene High Society zusammenfasst, die sein Polit-Projekt zusammen- und die gemeinsamen Werte, Ideen und Überzeugungen hochhält. Bogomolov hat sein Publikum über ein soziales Netzwerk an der Entstehung des Stückes beteiligt, im Mittelpunkt der Handlung steht der für die Gummiproduktion des Landes zuständige Minister Robert Ternow, dessen Frau Gertruda selbstverständlich die wichtigste Gummiproduzentin des Landes ist, damit die Aufträge ja schön in der Familie bleiben. Robert, der diesbezüglich ideale Gatte, liebt aber fremd, und zwar den Schlagersänger Lord. Dem Populisten und dem populären Popstar muss eine Missis Cheavely in die Quere kommen, nur will sie diesmal groß ins Gummigeschäft einsteigen und den Vertrag dazu vom Minister mittels Sexvideo erpressen. Einen Mayble gibt es auch, Lord adoptiert den Jüngling aus einem von Frömmlern in Popengewändern betriebenen Waisenhaus, das offensichtlich ein Einkaufscenter für Pädophile ist.

Bild: Ekaterina Tsvetkova

Dorian Gray und ein Medienbildnis: Sergej Tschonischwili. Bild: Ekaterina Tsvetkova

Bild: Ekaterina Tsvetkova

Da ist die Welt noch in Ordnung: Der Minister planscht in der Badewanne. Bild: Ekaterina Tsvetkova

Für die russischen Theatergeher soll das alles üppig und neu gewesen sein. Gewohnt, hehre Texte auf hohem Niveau vorgetragen zu bekommen, und wie zu erwarten konnte sich Bogomolov eine kurze Persiflage auf dortige Theatergepflogenheiten nicht verkneifen, besah man in Moskau das intrigante Treiben um die Männerliebe erst mit einer gewissen Schreckstarre. Dabei dominiert für hierzulande fast Dezenz. „Stellen Sie sich das vor!“, befiehlt ein Insert an der Stelle, an der die Bühnenfiguren entsetzt das Video betrachten. Später lässt Lord Ternow einen Thermophor, auch genannt Bettwärmer, aufblasen, bis er platzt. Welch ein Bild! Und davon gibt es an diesem Abend etliche. Das Ensemble agiert auf höchstem Niveau. Allen voran Igor Mirkurbanow als Lord, der von Anfang an die Halle mit heißen Rhythmen rockt. Er gibt den Entertainer, den Großsprecher und Phrasendrescher von Kremls Gnaden, um gleich darauf in harte, zynische Selbstkritik zu verfallen, um gleich darauf ein zarter Liebender zu sein, der für das Glück des Geliebten sein eigenes opfert. Eine Stimme wie ein Reibeisen, eine Seele weich wie Paskha. Mirkurbanow ist wie ein Nowosibirsker Bill Nighy mit einem schwarzen Schwung Keith Richards um die Augen.

Seinen seit 15 Jahren geheimgehaltenen Gatten spielt Alexej Krawtschenko als nach außen hin sleekes Schlitzohr. Des Ministers Leidenschaft gehört außer Lord antiken Statuen und Schnee, davon weht es jede Menge die Nasen hoch, in Moskau sind die Winter kalt, lässt ein Lied wissen, und Gertrudas Geld. „Obwohl mein Glied manchmal abgleitet, gehört mein Herz meiner Frau“, versucht er Missis Cheavelys Enthüllungsandrohung kleinzureden. Wie man ihn aber dann via „Fernsehzuspielung“ dicke, bittere Tränen weinen sieht, als er seinen Mann und die Intrigantin am Traualtar erblickt, die Cheavely verlangt von Lord die Ehe im Gegenzug für die Aufgabe ihrer Pläne, das ist so anrührend, das geht so ans Herz, dass man beinah vergißt, dass hier keiner ein Guter und niemand bemitleidenswert und das alles ein Nonsense mit sehr viel Hintersinn ist. Darja Moros gestaltet die Gertruda als herrische, herrlich geldgeile Bissgurn, die ihre „kleinen usbekischen Sklaven“ scheucht und bei Einlangen von Geld auf ihrem Konto von Orgasmen geschüttelt wird. Damit ihr Finanzklimax kein Ende findet, muss der Minister an Ort und Stelle bleiben, und so stellt sie als vermutetes Pantscherl Missis Cheavely zur Rede. Ein köstlicher Schlagabtausch mit der unterkühlt agierenden Marina Sudina.

Bild: Ekaterina Tsvetkova

Missis Cheavely erpresst von Lord die Ehe, der leidet still: Igor Mirkurbanow mit Marina Sudina. Bild: Ekaterina Tsvetkova

Garniert ist das Ganze mit großartigem Personal, etwa Pawel Tschinarew als Ferrari fahrenden Mayble, Alexander Semtschew als vaterlandstreuen Vater Lords, Maxim Matweew als diabolischen Priester, und Pawel Waschtschilin als schwulen Modeschöpfer. Der ist irgendwie auch Andrej Prosorow. Denn wie um zu verorten, dass der Ennui des Establishments, dessen Nichtstuer, Nichtsnutze und Tunichtgute kein neuzeitliches und bei weitem kein Insel-Phänomen sind, verknüpft Bogomolov Oscar Wilde mit dem russischen Bildungskanon. Puschkin wird bemüht, Turgenew und, wie könnte es anders sein?, Godfather Tschechow. Dessen „Drei Schwestern“ sitzen, in den Originalsätzen ihre Untätigkeit und ihre Sehnsucht nach einem arbeitsamen Leben gejammernd, in einer schicken Bar, tippen in Displays und lassen sich zwischendurch von Männern abschleppen. Und weil, wo Theatergiganten unter sich sind, Shakespeare keinesfalls fehlen darf, wird „Romeo und Julia“ zitiert.

Aber da ist alles schon zu Ende, Lord hat sich aus Liebeskummer erschossen, und auch der Minister greift zur Waffe, neben dem Leichnam des Vorausgegangenen die letzten Worte des Veroneser Adelsspross‘ rezitierend. Über den gläsernen Sarg der beiden fällt die russische Flagge. Kurze Kranzniederlegung. Aus. Jubel und Applaus. Das Publikum dankte ausgiebig für den gelungenen, fast vierstündigen Abend. Bogomolov hat eine Inszenierung gezeigt, die im besten Wilde’schen Sinne als witty zu bezeichnen ist – witzig, geistreich, originell. Er fordert auf zu mehr Aufmerksamkeit und weiterem Nachdenken, was gesellschaftspolitische Phänomene und ihre Auswüchse betrifft. Er macht es den Zuschauern nicht leicht, er verlangt ihre Mitarbeit, das zeigten schon die Pausengespräche, und das ist gut so. „Ein idealer Gatte“ ist eine perfekte Produktion. Mit allem Drum und allem Dran. Und als Zugabe gab’s, wie schön,  Wiens russische Gemeinde, die sich gar nicht genug über die Insiderjokes amüsieren konnte. Was einen selbst, siehe Kaminer, auch noch zum Nachforschen anregte.

Video – ein Premierenbericht des russischen Fernsehens: https://www.youtube.com/watch?v=iZD5ajqQDJs

www.festwochen.at

Mehr Rezensionen von den Wiener Festwochen:

Dugne / Nachtasyl: www.mottingers-meinung.at/?p=20221

Der Auftrag: www.mottingers-meinung.at/?p=20189

Látszatélet / Scheinleben: www.mottingers-meinung.at/?p=20141

Città del Vaticano: www.mottingers-meinung.at/?p=20120

Die Passagierin: www.mottingers-meinung.at/?p=20085

Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen: www.mottingers-meinung.at/?p=19870

Wien, 25. 5. 2016