Akademietheater: Engel in Amerika

November 16, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Mit Drag Queen Glamour gegen die Todesseuche

Patrick Güldenberg. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Mit höchstem Lob und Beifall soll in dieser insgesamt bemerkenswerten Inszenierung als erste Dorothee Hartinger bedankt sein, die erst am Vormittag gefragt wurde, ob sie den Part der erkrankten, beinah stimmlosen Barbara Petritsch übernehmen könne. Ohne Probe und mit Textzettel in der Hand stürzte sich die Hartinger kopfüber ins Geschehen.

Immerhin galt es Mutter Hannah Porter Pitt, Rabbi Isidor Chemelwitz, den Arzt Henry und das geröstete Gespenst von Ethel Rosenberg zu verkörpern – und voilà, beim Bühnenvollblut lag die Herausforderung in besten Händen. Glücklich darf sich ein Direktor schätzen, der auf derlei Schauspielerinnen und Schauspieler zurückgreifen kann. Vom insgesamt jubelnden Publikum wurde Dorothee Hartinger mit einem besonders herzlichen Applaus bedacht.

Am Akademietheater wird also in der Regie von Daniel Kramer Tony Kushners „Engel in Amerika“ gezeigt. Der US-amerikanische Dramatiker schrieb seine mit dem Pulitzer-Preis, einem Tony Award und einem Drama Desk Award ausgezeichnete „Gay Fantasie on National Themes“ im Jahr 1990 – und freilich hat

sich in der sogenannten Ersten Welt (und nur dort) mittlerweile mit PEP einiges bewegt. Doch „Engel in Amerika“ – zuletzt bei der Neuen Oper Wien als Péter Eötvös‘ Musiktheater zu erleben, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34820 – ist mehr als ein AIDS-Drama. Es ist eine gesellschaftliche Abrechnung mit Neoliberalismus, Freunderlwirtschaft, dem Anspruch auf Gleichberechtigung bei gleichzeitiger Intoleranz von Politik (und deren Unfähigkeit mit der derzeitigen Pandemie umzugehen) und Glaubensgemeinschaften. Eine wütend-sarkastische Anti-Anti-Story. Und noch immer kriminalisieren 80 Staaten einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen. In fünf Ländern (Iran, Jemen, Mauretanien, Saudi-Arabien, Sudan) sowie in Teilen Nigerias und Somalias werden sie sogar mit dem Tode bestraft.

Felix Rech und Markus Scheumann. Bild: © S. Hassler-Smith

Nils Strunk und Felix Rech. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Annamária Láng. Bild: © Karolina Miernik

Nils Strunk und Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Aber auch in Ländern ohne solch homophobe Strafgesetze sind Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender oft dem Hass paramilitärischer Gruppen oder Übergriffen der Staatsorgane ausgesetzt. Die Formen der Gewalt reichen von willkürlichen Verhaftungen, Schikanierung und Erpressung über Prügel und sexuelle Demütigungen bis hin zu Vergewaltigungen und brutalen Morden. In Europa ist es ebenso um die Menschenrechte der LGBTQI+-Community mancherorts schlecht bestellt. Gerade in Staaten des ehemaligen Ostblocks werden Gay Pride Paraden von rechtsradikalen Schlägertrupps angegriffen; in einigen Hauptstädten – darunter Warschau, Moskau, Riga und Chisinau – sind sie von den Behörden verboten.

So etwas verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ist mit der Mitgliedschaft in der EU und im Europarat unvereinbar. Doch die Amtsstellen hoffen, dass diese Missachtung europäischer Werte und demokratischer Prinzipien nicht weiter auffällt, da sie sich gegen eine vermeintlich „kleine Minderheit“ richtet. Mutige Menschenrechtsverteidiger machen hingegen deutlich, dass sexuelle Selbstbestimmung kein Menschenrecht zweiter Klasse ist.

Zurück zum hochaktuellen gestrigen Abend, keinem „Rückblick“ oder „Stück schwuler Kulturgeschichte“, da „von AIDS niemand mehr spricht“, wie hie und da zu lesen, dafür mit den beiden Zuschauerinnen in der Reihe hinter einem, die den „scheußlichen Vorhang“ nicht als Regenbogenflagge identifizieren konnten. Vom Foyer in den Saal kommend empfangen einen unterm Glitter einer Discokugel Cyndi Lauper, Boy George, die Village People und Gloria Gaynor. I will survive. Immer noch der #1-Hit der Schwulenbewegung. Annette Murschetz zeigt, als sich der Vorhang hebt, vor desolater, getaggter Kachelwand einen gestapelten Haufen schwarzer Särge, die später als Bar, Pissoir, Theaterschminkspiegel und Totenlade dienen werden.

Kushner verwebt den New Yorker Totentanz seiner Figuren zu einem kunstvollen, immer surrealer, immer expressionistischer werdenden Gebilde, bis sich der Kreis zum Ganzen schließt. Da ist zunächst das Liebespaar Mayflower-Nachkomme Prior Walter (Patrick Güldenberg) und – der nicht wirklich fromme Jude – Louis Ironson (Nils Strunk), der mit der AIDS-Erkrankung seines Lebensgefährten nicht umzugehen weiß, der sich vor dessen Krankheitssymptomen ekelt, überfordert zwischen Fluchtgedanken und Aufopferungswillen pendelt, und ihn schließlich verlässt. Außerdem das Mormonenehepaar Joe Pitt (Felix Rech), der mit seiner Religion vs. seiner sexuellen Orientierung kämpft, und Harper Pitt (Annamária Láng), die sich täglich ins Valium-Nirvana halluziniert, um die unterschwellige Ahnung, die sie über Joe hat, nicht Wahrheit werden zu lassen.

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Scheumann und Rech. Bild: © K. Miernik

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Joe und Louis sind Mitarbeiter am Bundesappellationsgericht, wo sie einander eines Tages auf der Herrentoilette begegnen und … naja. Man befindet sich also am unteren Ende der Oberschicht, dominiert vom zwielichtigen Juristen Roy M. Cohn (Markus Scheumann), der einzig real existiert habenden Person im Stück – dazu die Kurzzusammenfassung: politischer Ziehsohn von J.Edgar Hoover, der ihn an Joseph McCarthy weitervermittelte, Kommunistenhetzer, verantwortlich für die Hinrichtung Ethel Rosenbergs auf dem elektrischen Stuhl, Rechtsanwalt von Donald Trump, Berater von Richard Nixon und Ronald Reagan, homosexuell. Als bei ihm 1984 AIDS diagnostiziert wurde, behauptete er bis zuletzt Leberkrebs zu haben. Schwulsein ist nichts für Macher.

Schon Scheumanns intrigant-hektische Eröffnung des Schauspiels ist vom Feinsten. Auf drei Uralt-Handys gleichzeitig telefonierend beschafft er einer Senatorengattin Cats-Karten, macht seinen Assistenten zur Schnecke und versucht einen Deal an Land zu ziehen, dies im Sprech-Stakkato und alsbald im Jockstrap, während er Richtung Joe Grimassen schneidet, die erläutern, mit welchen Armleuchtern er es hier zu tun hat. Mit Joe hat er große Pläne, er soll sein Mann in Washington werden, wo er es sich wegen seiner Machenschaften verscherzt hat. Doch der macht sich Sorgen, nicht nur wegen seines Gönners Skrupellosigkeit, sondern auch, dass Harper den Politsündenpfuhl nicht verkraftet.

Je mehr Fahrt die Handlung aufnimmt, desto fantastischer werden die Kostüme. Der georgische Modedesigner Shalva Nikvashvili, in seinen Arbeiten stets mit Identitätsfragen und Ideosynkrasie beschäftigt, wechselt vom Grau in Grau der Yuppie-Anwaltswelt zu Paradiesvögeln, die einen direkt in RuPaul’s Drag Race katapultieren. (Die Rosa Winkel, die Homosexuelle als Kennzeichnung in den NS-Konzentrationslagern auf der Häftlingskleidung tragen mussten, als Sinnbild für das Kaposi-Sarkom auf die Körper der Darsteller gemalt, wurden auch zum Symbol der Schwulenbewegung Act Up.)

Im Wortsinn schönster Nutznießer von Nikvashvilis Ideenreichtum ist der genial-spielfreudige Bless Amada als Belize, vormals Drag Queen und Priors Lover, nun dessen staatlich geprüfter Krankenpfleger. In Fieberträumen, Wahnvorstellungen, queeren Visionen, eskalierenden Phantasmagorien erscheinen die Gespenster einer güldenen Vergangenheit, Kontorsionistin und Drag Queen Pandora Nox hat dazu die Choreografien erdacht. Hinreißend Patrick Güldenbergs Outfit als sterbender Schwan, später als eine Art Königin der Nacht.

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Bless Amada und Annamária Láng. Bild: © Karolina Miernik

Amada, Rech, Strunk und Scheumann. Bild: © Karolina Miernik

Bless Amada und Patrick Güldenberg. Bild: © Karolina Miernik

Es ist Regisseur Daniel Kramer hoch anzurechnen, dass er den Spagat zwischen Erotik und Exzentrik, Dramatik, Witz und Sentiment ebenso parallel zu führen versteht, wie die oft synchron ablaufenden Szenen, wie er Explizites im Central Park und Schwulenclubs elegant zu lösen vermag. Bless Amada wird als blau-weiß-grinsende Glückspille zu Harpers „Reiseagent“, der mit ihrem Eisbären-Ich und Riesenmedikamentendose in der Arktis landet. Bless Amadas Belize, die sich selbst Kadaverette nennt und bittersüß Playback-Songs singt, mal als Christbaum, mal als Santa Claus‘ Lieblingself, mal als Diana Ross‘ sexyer Sister. Dann wieder Prior betreuend, der in einem gläsernen Schneewittchen-Sarg beziehungsweise Inkubator liegend teerige Körperflüssigkeit verliert.

Eine der stärksten Szenen des Abends ist, wenn Louis sich vor Belize in einen völligen Schwachsinn über die Ausgrenzung Andersseiender anderswo deliriert, dazu seine Ansichten zum angeblich problemlosen Zusammenleben à la USA zelebriert, bis Belize die Spucke wegbleibt. So viel rassistischen Unfug hat er noch nie gehört. Das ist nicht nur von Nils Strunk und Bless Amada glänzend gespielt, sondern zeigt: „Race“ ist jenes Thema des Stückes, das an gesellschaftlicher Relevanz noch zugelegt hat. Das geht so lange ungut, bis der Jude und die Person of Color einander gegenseitig Rassismus vorwerfen, Belize, die Louis Feigheit vor Priors Krankheit anprangert. Und während der drei Stunden Spieldauer senkt sich ein gigantischer HI-Virus auf die Bühne herab.

Zum Ende? Dorothee Hartinger als Ethel Rosenberg mit elektrisch aufgeladenen Haaren, Markus Scheumann, der wie Dracula seinem Sarg entsteigt, um in der brennheißen Hölle zu landen – und endlich der Engel, Safira Robens, geharnischt in Stahlgrau und mit flammendem Schwert. Dessen letzte Worte an Prior: „Sieh nach oben! / Sieh nach oben! / Bereite den Weg …“ Eine Schlussapotheose, die im Getümmel leider ein wenig untergeht. Im nicht gerade überfüllten Akademietheater hatten nach der Pause noch einige Teile des Publikums die Flucht ergriffen. Schade, den „Engel in Amerika“ mit diesem sensationellen Ensemble und grandiosem Leading Team ist ein absolutes Muss!

Teaser: www.youtube.com/watch?v=CHWg74-R9v8           www.burgtheater.at

TIPP – Werk im Fokus #41: Engel in Amerika. Am 17. November sind Nils Strunk und Patrick Güldenberg ab 18.45 Uhr auf ZOOM zu Gast, um mit dem Publikum über ihre Charaktere Louis Ironson und dessen Lebensgefährten Prior Walter zu diskutieren. Kostenlos für Newsletter-AbonnentInnen. Der Link dazu wird am jeweiligen Tag direkt verschickt. Mehr Info: www.burgtheater.at/newsletter-bestellen

  1. 11. 2022

Netflix: Neil Patrick Harris in „Uncoupled“

Juli 29, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …

Morgens ist die Welt noch in Ordnung: Neil Patrick Harris als Michael. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

In der Mitte der ersten Staffel, als sich ein vielversprechendes erstes Date wieder mal Richtung Katastrophe dreht, rastet Michael aus: „Ich sollte nicht hier sein“, schreit er seinen verdutzten One-Night-Stand an. „Ich will nichts über mit Botox behandelte Arschlöcher und PrEP* wissen, ich will auf meiner Couch sitzen und fernsehen, während mein Mann neben mir viel zu laut kaut. Das ist die Welt, die ich will.“

*Eine Safer-Sex-Methode, bei der HIV-Negative ein HIV-Medikament einnehmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen.

Tja, diese Welt ist in der neuen Netflix-Serie „Uncoupled“, deren erste acht Folgen ab heute zu streamen sind, vorläufig mal untergegangen. „How I Met Your Mother“-„Barney“ Neil Patrick Harris, privat seit 2004 mit Ehemann und Starkoch David Burtka liiert und gemeinsam mit ihm Vater von Zwillingen, spielt Immobilienmakler für Betuchte Michael Lawson, der nach 17 Jahren trauter Zweisamkeit von Lebensmensch Colin, Tuc Watkins (auch zu sehen in „The Boys in the Band“, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43932), verlassen wird.

Worauf sich der beinah Fünfzigjährige nicht nur mit einer ihm fremden Einsamkeit, sondern auch mit einer sich gewandelt habenden Gay Community konfrontiert sieht, deren Zeichen er nicht mehr zu deuten vermag. Stichwort: Grindr App. „Uncoupled“-Schöpfer Jeffrey Richman und Darren Star, letzterer auch Erfinder von „Beverly Hills, 90210“, „Sex and the City“ und 2020 der Netflix-Serie „Emily in Paris“, haben für Hauptdarsteller Harris die probaten Mittel zur Hand – selbstironischen Humor, gewitzte Dialoge, verschmitzte Jungenhaftigkeit -, um ihren Midlife-Crisis-Michael in allen Regenbogenfarben schillern zu lassen.

Klar, dass Neil Patrick Harris diese Übung supersympathisch gelingt. Michaels neuer Beziehungsstatus „Schwul, Single, beinah schon Best Ager sucht …“ ist also die Bassline der Serie, ausgerechnet bei der für ihn arrangierten Überraschungsparty gibt Geburtstagskind Colin bekannt, dass er aus der gemeinsamen Wohnung im mondänen Manhattan-Viertel Gramercy schon ausgezogen ist. Harris überspielt Michaels Schock mit ergreifender Zurückhaltung. Es ist die Art von glamourösem, fotogenem Hochglanzleid, Tiffany-gerahmte Bilder, ecrufarbenes Wildledersofa mit keinem Kapritzpölsterchen fehl am Platz, romantische Privatterrasse, die schon Carrie Bradshaws Mr.-Big-Tränen umflorte.

Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Busenfreund Stanley: Brooks Ashmanskas. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Dickpic! Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

One-Night-Stand: Gilles Marini. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Bei Michael singt dazu Sam Smith, Harris und Burtka sind über ihre Freundschaft mit Elton John und David Furnish gut mit der Musikszene vernetzt, doch trotz dieses Wissens haut’s einen aus den Schuhen, wenn gleich in Episode eins die Masterminds des Musical „Hairspray“ Marc Shaiman und Scott Wittman, die beiden seit mehr als 40 Jahren berufliche wie private Partner, ihren Hit „Welcome to the ’60s“ für Michael in ein „Welcome to your 50s“ neuinterpretieren. Da fragt man sich, was an Cameo noch kommen mag, und ob auch Neil Patrick Harris sein Gesangs- und Tanztalent wird austoben dürfen.

Abseits des häuslichen Elends hoppt Michael hochprofessionell von Event zu Party zu Soiree. Dabei begleiten ihn drei BFF: Emerson Brooks als arrogant von seinem Umfeld amüsierter TV-Wettermann Billy, Brooks Ashmanskas als Galerist Stanley, dem Billy bescheinigt „ein großartiger Kunstkenner, aber ein lausiger Schwuler“ zu sein, worauf der – Retourkutsche – Billys jüngsten Lover als dessen „Kindsbraut“ begrüßt, und last, but noch least: die großartige Tisha Campbell als Michaels Geschäftspartnerin Suzanne.

Mit Stanley und Emerson Brooks als Billy. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Tisha Campbell als Geschäftspartnerin Suzanne. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Die nervige Kundin: Marcia Gay Harden als Claire. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

So retro: Billy, Michael und Stanley in der Roller Skates Disco. Bild: © Barbara Nitke/Netflix – © 2022 Netflix, Inc.

Diese, ebenfalls auf Bräutigamschau, bringt die weibliche Variante ins Mitt-irgendwas-Liebesspiel ein und damit das Thema Bodyshaming: „Letzte Nacht“, lässt sie Michael lapidar wissen, „hatte ich einen, der mir sagte, mit fünf Kilo weniger wäre ich attraktiv. Ich durfte trotzdem auf seinem Gesicht sitzen.“ Bleibt als überkandidelt kandierte Kirsche auf diesem komödiantischen Cupcake Marcia Gay Harden – als nervige Kundin Claire ein Running Gag, die den Immobilienporno im 5000-m2 Penthouse und ergo den Tenor der Serie auf den Punkt bringt: „Ich fühle mich wie in einem dieser 1930er-Filme, in denen draußen die Weltwirtschaftskrise stattfindet, aber hier oben gibt es nur Fred Astaire und Cocktails und Tanzmusik.“

„Uncoupled“ kann man als Eskapismus in ein keimfreies New York voll schöner Menschen ohne Existenzsorgen kritisieren oder liebgewinnen (hier: zweiteres). Die Serie ist in erster Linie Comfort Binge für ein Publikum, das sich in ähnlichen Verhältnissen wie deren Figuren aufhält, zu alt, um hip zu sein, aber zu jung, als dass sie das nicht mit allen Mitteln bekämpfen wollten. Michael sehnt sich nach Dr. Ruths Aufklärungsunterricht wie hierzulande vielleicht nach Erika Berger. Er vermisst Radiowecker. Und – eine der gelungensten Satire-Szenen – der Generation-X-Mann knurrt einen Millennial an, der noch nie etwas vom AIDS Memorial Quilt gehört hat:

„Wir haben für euch Opfer gebracht. Das heißt: Ich nicht. Aber ich habe ,Angels in America‘ gesehen!“ (Rezension einer Produktion der NOW: www.mottingers-meinung.at/?p=34820). Worauf der Jüngere Michael mit der Bemerkung, „eine verbitterte alte Queen“ zu sein einfach stehenlässt. „Uncoupled“ funktioniert in vielerlei Hinsicht hervorragend. Die Frage, welche Zahl an Fröschen man küssen muss, um zu einem Prinzen, einer Prinzessin zu kommen, bewegt wohl jede und jeden, der sich ein bisschen Glück, Liebe und Verständnis wünscht. Hier wird davon gutgelaunt und in einer Tour de Luxe erzählt. Möge einem nichts Schlimmeres passieren, während man auf Staffel zwei wartet …

Trailer: www.youtube.com/watch?v=KMT4pVK-uFo           www.youtube.com/watch?v=NZEwlyPbTt4           www.netflix.com

  1. 7. 2022

Akademietheater: Adern

März 15, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Berg ruft nicht länger, „die Berg“ klagt und klagt an

Theres‘ Schwangerschaft wird gefeiert: Elisa Plüss als beider Tochter, Sarah Victoria Frick als Aloisia und Markus Hering als Rudolf. Bild: © Matthias Horn

Ein Verhältnis zum verhängnisvollen Schicksalsberg haben die Österreicherinnen und Österreicher bekanntlich schon seit Wolfgang Ambros. Am Akademietheater heißt’s in der Uraufführung von Lisa Wentz‘ „Adern“ allerdings nicht „Aufi muas i!“ sondern „obi“. Weshalb der Berg nicht mehr ruft, sondern „die Berg“ klagt und anklagt … Inszeniert hat den Text der jungen Tiroler Dramatikerin, die damit den Retzerhofer Dramapreis 2021 gewann, Daniel Bösch.

Und es mag vielleicht an seiner Regiearbeit „Stallerhof“ 2010 im Kasino wie an seiner wieder Hauptdarstellerin Sarah Viktoria Frick liegen, dass man Wentz‘ Volksstück in die Nähe von Franz Xaver Kroetz oder den frühen Felix Mitterer und vor allem den Horváth’schen „Stille!“-Anmerkungen rückt. Bösch jedenfalls findet die perfekten Kunstgriffe zu Wentz‘ Kunstdialekt und an passenden Stellen die szenischen Auslassungen zu ihrer à la Horváth „Dramaturgie der Stille“ – so die Retzhofer Jury.

Entstanden ist ein atmosphärisch dichter, trotz der Tragik des Themas – „dort wo das Erz begraben, dort wo der Tag nie scheint, dort wo die Knochen liegen, dort wo kein Himmel weint“, rezitiert die Berg zu Beginn – durchaus nicht witzloser Abend, dessen abgründige Figuren und deren unausgesprochene Seelenqualen beim Ensemble in den besten Händen sind, allem voran die Frick und Markus Hering als Aloisia und Rudolf.

Deren gemeinsame Geschichte beginnt 1953 am Bahnsteig im Tiroler Brixlegg. Er hat eine Annonce aufgegeben, sucht der Witwer doch eine Mutter für seine fünf Kinder, sie kommt aus St. Pölten, um mit Töchterchen Frieda, Kind eines sich absentiert habenden französischen Besatzungssoldaten, einen Neuanfang zu wagen. Erste Dialoge entwickeln sich wie folgt: Aloisia: „Bin ich eigentlich die Erste?“ – Rudolf: „Was?“ – „Wegen der Annonce?“ – „Ach so. Die vierte.“ – „Hast du denn schon eine mögen?“ – „Na. Also …“ – „Versteh.“

Die karge Sprache, gleichsam ein Sinnbild für die Nachkriegszeit, setzt Patrick Bannwart optisch in seinem kargen Bühnenbild um, einem bescheidenen Häuschen, das die Bergleute Rudolf und Daniel Jesch als in doppeltem Wortsinn sein Knappe Danzel mit Muskelkraft drehen – von der spärlich möblierten Stube mit glaubensbefreitem Kruzifix zum „in die Grube fahren“. Denn Wentz‘ gefühlvoller Blick auf eine aus Notwendig- keiten keimende Liebe – eine der bezauberndsten Theater-Love-Storys diese Tage; die nunmehr Eheleute Aloisia und Rudolf werden später auch ein siebentes Kind, Elisa Plüss als Theres, bekommen – ist nicht der einzige Handlungsstrang in diesem kompakten, punktgenauen und doch so verrätselt-verschlungenem Text.

Andrea Wenzl als Hertha mit Markus Hering. Bild: © Matthias Horn

Markus Hering und Daniel Jesch als Danzel. Bild: © Matthias Horn

Die Berg: Elisa Plüss als mystisches Feenwesen. Bild: © Matthias Horn

Da ist außerdem die Berg, Elisa Plüss als mystisches Feenwesen mit engelsweißem Kostüm und lyrischen Gesängen ausgestattet, die vom Raubbau an ihrem Körper und der Gier der Menschen erzählt, die Berg, aus der Silber, Kupfer und zum Schluss noch Schotter geschlagen und gesprengt wurde, „euer leben / drängt sich in mich / und pocht an meine / krater / schneiden / mir die gänge / rund / und brechen / in die becken / mit spitzen / aufhören / bitte / aufhören“, und in der bis 1945 hunderte Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, Kampfflugzeuge zusammenbauten, in den sogenannten Messerschmitt-Hallen hungerten und litten und etliche von ihnen ihr Leben ließen.

Wer erinnert an sie, wenn die bei der Heiligen Barbara um ihre Existenz flehende und zugleich Rache schwörende Berg in sich zusammenfällt? Denn, dies die dritte Story, Rudolf hat ein Drittes-Reich-Geheimnis, von der Dramatikerin nicht bis ins Letzte durchdekliniert, doch deutlich erkennbar als Trauma rund um eine Sprengung/Explosion und wegen der Kopfgespenster, die um ihn spuken. Daniel Jesch als Mann: „Kennst du mich noch? Wie heißt du?“ – Rudolf: „Rudolf. Und du?“ – „Ich hab doch keinen Namen mehr. Der ist doch im Stollen vergraben.“ – „ Hast du ein Licht?“ – „Nein. Wir müssen so. Im Dunklen.“

Mitverschworener dieser Heimlichkeiten ist Kumpel Danzel, dieser sanftmütige Wüterich, den sein Wissen um die Geschehnisse unter Tag, die im Tageslicht absolutes Tabu sind, in die Alkoholsucht getrieben hat. „Du musst besser sein als ich, sonst kenn‘ ich mich nicht mehr aus“, sagt Danzel an einer Stelle zu Rudolf. Doch die offenen Wunden der Berg sind auch die der Menschen, ihre Leben durchs Ungesagte, Unsagbare so ausgehöhlt wie ihr Inneres. Kurze, durch Blackouts getrennte Szenen folgen aufeinander, und neben Aloisia, Rudolf und Danzel sind das Verschwinden, das Verschweigen, das Verdrängen die drei spielbestimmenden Protagonisten.

Frick und Hering haben etwas derart Rührendes, die anfängliche, durch kleine Gesten vermittelte Befangenheit vorm Schlafengehen, später der trockene Humor, mit dem sie sich Sorgen und Nöten stellen, ihr gegenseitiges Ellbogenrempeln als Ausdruck ihrer Emotionen, dass man Aloisia und Rudolf von Herzen ein Happy End wünscht. Sie eine pragmatische, zupackende, burschikose Frau, er ein ewiger, tollpatschig verliebter Bub in den besten Jahren, der so gar nicht ins 1950er-Männerbild passt, schiebt er doch ohne Scheu vor Spott alsbald seinen Enkel Heinzi, Theres‘ Sohn, im Kinderwagen durch Brixlegg.

Ankunft in Brixlegg: Markus Hering, Sarah Victoria Frick und Lieselotte Leineweber als Frieda. Bild: © Matthias Horn

Die Liebe keimt bei einem unbeholfenen Tänzchen: Markus Hering und Sarah Viktoria Frick. Bild: © Matthias Horn

Die Bergleute bewegen das Haus: Markus Hering und sein Kumpel Daniel Jesch. Bild: © Matthias Horn

Der erste Fernsehapparat: Daniel Jesch, Sarah Victoria Frick, Markus Hering und Elisa Plüss. Bild: © Matthias Horn

Und zwischen Rauchschwaden und den raunenden Kompositionen von Karsten Riedel immer wieder Aloisias aus der Stadt anreisende Schwester Hertha, Andrea Wenzl in ihren raschen Auftritten prägnant und ausdrucksstark, die ihre ganz eigene Tristesse in die Einschicht bringt, eine gutbürgerlich-betuliche Kinderlose, die sich der Pflege der Mutter überlassen sieht und neidisch auf Aloisias Familie schielt.

Als Bassline des Privaten lässt Lisa Wentz die Zeitgeschichte bis in die 1970er-Jahre mitschwingen. Die Kleidung von Kostümbildner Falko Herold wird modischer, aber nie zu viel, man hat schließlich kein Geld zu verschwenden, aufs erste Radio und dessen Rauschen folgt der erste Fernsehapparat samt seinem Flimmern, auf die „Anschluss“-Lüge von Österreich als erstem Opfer der Nationalsozialisten der erste Urlaub am Wörthersee. Der Anschluss an Wohlstand und Moderne ward hierzulande solcherart deutlich sichtbar gemacht mit verkniffenem Mundhalten zu allerlei Störgeräuschen erkauft.

In der sensiblen szenischen Umsetzung von David Bösch verwandelt sich Lisa Wentz‘ „Adern“ zur Goldader. Selten sieht man eine Aufführung wie diese, an der so gut wie alles stimmt. Wentz‘ dialogisches Vermögen und die biografischen Sprünge, deren Motive die Autorin ihrer eigenen Familie entnommen hat, sind ebenso stimmig, wie die seltsam grandiose, metaphysische Ebene der Berg, die sich hier in Gestalt von Elisa Plüss als eine gefährlich verführerische Allegorie manifestiert.

Zum Schluss zerbarst das Premierenpublikum geradezu in Bravorufen und Applaus. Der für seine Abwesenheit entschuldigte Regisseur ließ Lisa Wentz, diesem wunderbaren Alternativ-Versprechen zur allseits gehypten Postdramatik, von Burgtheater-Vizedirektorin Alexandra Althoff einen großen Blumenstrauß überreichen. Für die nächste Vorstellung am Samstag ein herzliches Glück auf!

www.burgtheater.at

14. 3. 2022

Sommernachtskomödie Rosenburg: Ein Käfig voller Narren

Juli 7, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Kapriziöse Drag-Show mit deutlichem Toleranzappell

Patrick Weber, Wolfgang Lesky, Herbert Steinböck, Elisabeth Engstler und Futurelove Sibanda. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Seit 2015 ist die Sommernachtskomödie Rosenburg unter der Intendanz von Nina Blum und mit Haus- (in diesem Falle: Zelt-)Regisseur Marcus Ganser ein Garant für beschwingte Sommerunterhaltung mit einem Schuss Selbstbesinnung fürs Publikum. Nach etwa den „Kalender Girls“ oder „Monsieur Claude und seine Töchter“ lädt das Team dies Jahr in den „Käfig voller Narren“ – und dem Ensemble entströmt die Spielfreude nach der Corona-bedingten Pause 2020 buchstäblich aus jeder Lachfalte.

Schon beim Platznehmen wird man von den Nachtclubkünstlerinnen begrüßt, allesamt sind sie herr-liche Damen, und wer sich für eine der acht exklusiv angelegten Bühnenlogen im Etablissement von Georges und Albin entschieden hat, dem kredenzen Mercedes oder Salome sogar höchstpersönlich eine Flasche

Sekt. Erstere, die silberblonde, vollschlanke Versuchung, ist als Zeremonienmeisterin voll in ihrem Element, Patrick Weber als Mercedes, der von Elfriede Ott ausgebildete Schauspieler, der auch als „Kleinkunstprinzessin“ Grazia Patricia und deren aktuellem Programm „Teilzeitfrau“ bekannt ist: www.kleinkunstprinzessin.at

Weber wird nicht die einzige Überraschung an diesem Abend bleiben, im handverlesenen Ensemble findet sich mindestens noch eine Augenweide, doch dazu später. Die Story darf nach zwei Verfilmungen und etlichen Theaterproduktionen als geläufig vorausgesetzt werden: Georges, Inhaber von „La Cage aux Folles“ und seine große Liebe Albin, als bezaubernde Zaza der Star jeder Show, sind seit vielen Jahren ein homosexuelles Paar. Aus Georges‘ einzigem Abenteuer mit einer Frau stammt sein Sohn Laurent, der von den beiden Männern liebevoll großzogen wurde. Nun ist Laurent unsterblich verliebt und will seine Barbara endlich heiraten. Einziges Problem: Die Verlobte ist die Tochter des erzkonservativen Politikers Dieulafoi.

Um einen Eklat und das Platzen der Hochzeit zu vermeiden, erklärt sich Georges bereit, eine bürgerlich-biedere Familie vorzutäuschen. Also lädt er zum Kennenlern-Dinner Laurents „biologische“ Mutter Simone ein, zum Ärger von Albin, der sich nicht so leicht ausladen lässt. So wird eifrig verwirrt, verwechselt und die Katastrophen überschlagen sich …

Wolfgang Lesky und Herbert Steinböck. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Futurelove Sibanda und Steinböck. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Futurelove Sibanda, Herbert Steinböck und Wolfgang Lesky. Bild: © Kastnermedia Martin Hes

Der Fernsehzuschauerinnen liebster Biobauer, ja, natürlich der mit dem Schweinchen, Wolfgang Lesky schlüpft auf der Rosenburg in Fummel, Federboas und High Heels. In seinem Stammhaus, dem Theater zum Fürchten, zeigte der Schauspieler schon einmal seine tadellosen Beine und sein Talent fürs Schrullige, als Gnädige Frau in Jean Genets absurder Groteske „Die Zofen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=24361), nun brilliert er als Drag- wie Drama-Queen, deren beste Jahre im „Unterröckchen aus Osterglöckchen“ schon hinter ihr liegen. Ihm zur Seite steht Herbert Steinböck als Georges, und wie Steinböck als dieser versucht, alle Bälle in der Luft zu halten, ist große Klasse.

Dritter im Haushalt ist, man weiß es, Kammerkätzchen Jacob, das crazy Chicken im heißen Höschen, und der aus Zimbabwe stammende Futurelove Sibanda ist als Komödiant, Sänger und Tänzer ganz klar die Nummer eins dieser Produktion: www.futurelovesibanda.com Derart bewegt sich die Aufführung – beispielsweise mit der berühmten Zwieback-Szene – nah an der Verfilmung von Édouard Molinaro und hat doch eine spezielle, eine eigene Qualität. Zu den eindeutig zweideutigen Wortspielereien gesellt sich Aktuelles: Prinz Harry ist ohne Meghan Gast im Club, Madame Dieulafoi spricht von „Lügenpresse“, Georges bittet Jacob „weniger Josephine Baker und mehr David Alaba“ zu sein – ein Wunsch, dessen Erfüllung zu Riesenjubel und Szenenapplaus führt.

Das Ehepaar Florentin Groll und Babett Arens geben das Ehepaar Dieulafoi, er verniederösterreichert nun Präsident der christlich-sozialen Bauern, sie im Wortsinn kampferprobte Hausfrau an der Seite ihres Mannes. Beide sind sie ganz großartig, Groll um Contenance bemüht, Arens den Betrug sofort witternd. Fabelhaft ist auch Elisabeth Engstler als Simone, die neben der schauspielerischen auch ihre Gabe als Sängerin ausleben darf. Verständlich, dass ihr Grolls Dieulafoi nicht widerstehen kann … Michael Duregger besorgte als „Abendspielleiter“ Francis auch die Choreografie für die Truppe. Zauberkünstler und Kampfsportler Raphael Macho spielt die Kaugummi-blasende Salome.

Raphael Macho, Patrick Weber, Sibanda, Steinböck und Michael Duregger. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Sohn Laurent und Vater Georges …: Felix Krasser und Herbert Steinböck. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

… hoffen auf die Hilfe der Mutter: Herbert Steinböck und Elisabeth Engstler. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Wolfgang Lesky, Patrick Weber, Felix Krasser, Futurelove Sibanda, Herbert Steinböck und Babett Arens. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Felix Krasser, in Wien kennt man ihn vom Bronski & Grünberg www.mottingers-meinung.at/?p=36320 bis zum Werk X www.mottingers-meinung.at/?p=29956, ist ein charmant verzweifelter Laurent, Veronika Petrovic eine verwunderte Barbara. Engstler-Tochter Amelie ist als Simones Assistentin Irene zu sehen. Für Kostüme und Maskendesign waren Ágnes Hamvas und Gerda Fischer zuständig, sowie Marcus Ganser auch fürs erstaunliche Bühnenbild, das aus ungeahnten Versenkungen mal den Salon von Albin, mal das Büro von Simone an die Oberfläche befördert.

Und während sich derart alle möglichst auffällig unauffällig benehmen und sich die Zuschauerinnen und Zuschauer närrisch amüsieren, verliert Marcus Ganser nie aus dem Blickfeld, wie zeitgemäß Jean Poirets 1973 verfasstes Stück beinah 50 Jahre später in Europa – siehe nicht nur Orbáns Ungarn – bedenklicherweise immer noch ist. Zwar will sich Georges nicht „umschwulen“ lassen und besteht auf seiner Ehe mit Albin, doch muss er sich hinsichtlich „Werteverfall“ belehren lassen. Und auch Futurelove Sibanda macht nachdenklich, wenn er die von Weißen so erwartete „Stimme des echten schwarzen Mannes“ imitiert.

Auf der Rosenburg freilich gibt’s ein Happy End. Die Liebe besiegt alle Konventionen, die Narren retten die selbsternannten Normalen – und Schlussbild: die Darstellerinnen und Darsteller als flammenrote Follies, darunter herzallerliebst Florentin Groll, und Elisabeth Engstler singt „It’s Raining Men“. Halleluja!

Vorstellungen bis 1. August.

sommernachtskomoedie-rosenburg.at

  1. 7. 2021

Schauspielhaus Wien Stream: Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit

Dezember 16, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Lydia Haiders Blutrauschroman als Splattermovie

Film-Still: © Schauspielhaus Wien

Sie geht über den weiten Heldenplatz, stracks auf die Hofburg zu. Nebel steigt auf von der Erde und feuchtet bereits das Land. Die Kälte kriecht wie ein Ungeziefer umher überall, in die Schuhe, unter die Gewänder, so dass es ein Frösteln ist. „Sag: Wer hat es so kalt gemacht?“ Angesichts der vorweihnachtlichen Schande Europas ist Lydia Haiders und Co-Autorin Esther Straganz‘

Frage aus ihrem im Jänner 2019 veröffentlichten Buch „Am Ball“ hochaktuell. Fürs Schauspielhaus Wien haben nun Regisseurin Evy Schubert und Kameramann Patrick Wally aus dem Blutrauschroman ein Splattermovie gemacht, Zusatztitel: „Wider erbliche Schwachsinnigkeit“, die geplante Theaterpremiere folgt, sobald erlaubt. Schauspielerin Clara Liepsch ist es, die mitten auf dem Akademikerball eines nicht enden wollenden Sterbens ansichtig wird, und ein Schelm, eine Schelmin, wer da ans C-Wort denkt, denn tatsächlich ist der kommende für den 29. Jänner 2021 ausgerufen.

Im Nebelrabencape, ein gefiedertes, fast mythologisches Hugin-und-Munin-Wesen, Gedanke und Erinnerung, das jetzt, jetzt sofort fliegen wird, streift Liepsch umher. Zwischen halbierten, teilamputierten Schaufensterpuppen, die Nackten – und die Untoten, die derweil wie der Teufel an die Wand geworfen werden; Bühne und Kostüme sind von Maria Strauch. „Unruhige Ruhe liegt hier, als tut man unrecht, hier zu sein“, sagt Liepsch. Am Sicherheitscheck ein Stau. Gefahr droht – woher?

Bild: © Matthias Heschl

Bild: © Matthias Heschl

Bild: © Matthias Heschl

Köstlich, wie sie die einziehenden „Aktiven“ der Wiener Korporationen beschreibt, ein jeder in seiner Couleur, mit ihren Requisitensäbeln. Liepsch speit das „Äh“, als müsste sie sich übergeben: Jüngling-äh, Geschicht-äh, Ballrob-äh. Alles hier ist brech/reizend. Nach etwa zehn Minuten beginnt das Gemetzel. Die rechte Elite der Republik, darunter allerlei blaues Geblüt, blutet aus. Körper fallen auseinander, Köpfe lösen sich auf. Und die Kamera hält auf Clara Liepsch „Rocky Horror Picture Show“-Mund, der verspritzte Lebenssaft ringsum so rot wie ihr Lippenstift, die Westen längst nicht so weiß wie ihre Zähne.

Was ist passiert? Man weiß es nicht. „Warum sagt niemand etwas?“ „Wer kann sagen, was das hier soll?“ Wer entvölkert das Land vom Völkischen? „Wie das auseinanderstirbt!“ Und wie Liepsch von Festwichs und Cerevise reportet, Drängen und Treiben im Saal, bevor sie in der Seitengalerie eine Fleischhauerei eröffnet und darin die österreichische Identität in Form von Schnitzeln malträtiert. Die Beobachtungen der sich verschwörerisch ans Publikum richtenden Figur sind in ihrer archaischen Mauerschau/derhaftigkeit prädestiniert für die Leinwand.

Die Teichoskopiererin bewegt sich durch insgesamt sieben Räume – wie durch Gottes Schöpfungszahl, darunter das Kunsthistorische Museum Wien und die Papillon Sauna in der Müllnergasse, und schaut der Herrenrasse bei der Selbstauflösung zu. Wie utopistisch das gedacht ist, wie sich das männerbündlerische Feiern im kassandrischen Feminismus seinem Ende entgegensprengt. Und die Fächerpolonaise-Frisuren samt Krönchen ums Verrecken gleich mit in den Untergang reißt.

Film-Still: © Schauspielhaus Wien

Alldieweil sich die Darstellerin, mittlerweile aufgemacht als Lackstiefel-Domina, in der Verkörperung des allen gleichsam entleibt. Aus Clara Liepsch „Erstkommunionslächeln“ wird eine Fratze, und wie lange hat man schon das Wort „Lurch“ nicht mehr gehört. Dazu Original-Bilder vom Rumtataa-Einzug, Politiker unter Applaus, die Ewiggestrigen sterben nur im Film aus, Lydia Haiders soghafte Prosa entwickelt sich dank Liepschs übertrieben deutlicher Artikulation zum Mahlstrom der Geschicht-äh.

Ein Pappmaché-Penis, ein Stück durch die Porzellangasse geschleiftes rohes Beiried, Sinnbilder „toxischer Männlichkeit“, komplettieren das Ganze. Als sei’s zur Ausstattung eines „festlich behangenen“ Chargierten. Festwichs mit Phallus, sozusagen. Im Rauchkeller-Purgatorio. Zu Micha Kaplans Kakophonie. Mit Schmiss und Milieu-bewusst. Und erstaunlich ist, wie Evy Schubert nach Lydia Haiders Vorlage etwas Derartiges erschaffen konnte, wo doch das Originalritual radikaler, beunruhigender ist als jede Überzeichnung, Satire oder Parodie.

Doch gelingt es hier, und die Liepsch lacht dazu affektiert, changiert exaltiert zwischen böser Wirklichkeitsironisierung und bitterer Wahrheit, tatsächlich gelingt es hier, die Wirkmacht der Sprache, ihre Gewalt/tätigkeit aufzuzeigen, die nationalistischen und rechtskonservativen Tendenzen, die sich „Am Ball“ gleich einem Staatsakt präsentieren. Wollt ihr die totale Dekadenz? Bitte nur, wenn sie sich sofort selbst abschafft! Und weil Witz niemals zu Kurz kommen kann, hat die Produktion auch schon eine Pop-up-Politics-Seite. In diesem Sinne: Ballaballa Solutions!

Bis 30. Dezember. Der Film wird online jeweils von 20 bis 24 Uhr auf vimeo übertragen. Den Zugangs-Code erhält man nach dem Ticketkauf im Bestätigungsemail von Culturall.

www.schauspielhaus.at           ballaballa.solutions/weltheimat

  1. 12. 2020