WUK performing arts: On The Egde #8

November 8, 2022 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Ein Festival für zeitgenössische Zirkuskunst

Knights of the invisible (GB): Waiting for the Sea Eagle. Bild: © Richy Walsh

Was 2019 als Versuch startete, ist mittlerweile ein richtiges Festival geworden: „On The Edge“ im WUK geht in die dritte Runde. Das diesjährige Programm zeigt vom 18. bis 26. November Performances aus Österreich, Deutschland, Belgien, Tschechien, Irland und Schottland – allesamt unkonventionelle und mutige künstlerische Positionen, die den traditionellen Zirkus neu verhandeln. Installationen, Filmscreenings,

Diskursformate sowie KünstlerInnen-Gespräche runden das Festival ab. Neben neuartigen dramaturgischen und ästhetischen Zugängen innerhalb der Zirkuskunst beschäftigen sich die KünstlerInnen auch mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen – was dringender denn je erscheint, in Zeiten von vielfältigen Krisen. Die Themen reichen von Kommunikation und Empathie, über den Wert von veränderten Wahrnehmungsmustern und medialen Vorgaben, der Aneignung Raums, bis hin zur Infragestellung des konstanten Strebens nach Immer Mehr, des Scheiterns und den persönlichen Bewältigungsstrategien damit. Allen KünstlerInnen gemein ist das experimentelle Arbeiten und die Weiterentwicklung ihrer Zirkustechniken.

Das Programm:

Sandra Hanschitz (AT/DE): |||||. 18. und 19. 11., 19.30 Uhr. Im Tanz mit dem Cyr Wheel zelebriert Artistin Sandra Hanschitz das Loslassen. Die Stimmung ihrer Performance ||||| entwickelt sich von ruhevoller Balance über Kontrollverlust hin zu faszinierender Dynamik und schwebender Leichtigkeit. Von rohem Klang bis zu feinen Beats komponiert der Klangvirtuose Joël Beierer dabei die gesamte Geräuschkulisse aus dem Cyr Wheel selbst. Trailer – Sandra Hanschitz: IIIII: vimeo.com/747600670

Sinking Sideways (DE/BE): René. 18. und 19. 11., 21 Uhr. Die Künstlerinnen Xenia Bannuscher und Dries Vanwalle sind in ihrer Performance „René“ stetig auf der Suche nach Entwicklung, Variation und Überraschung. Mithilfe eines komplexen Systems von Taktstrichen wird die außerordentliche Synchronizität der AkrobatInnen durch minimalistische, immer wiederkehrende rhythmische Musikakzente unterstützt. „René“, choreografiert und interpretiert von Sinking Sideways, ist das Debüt des Tanzakrobatik-Kollektivs und vereint Zirkus und Tanz auf raffinierte Weise. Eine österreichische Erstaufführung

Sebastian Berger (AT): Is it a trick? 19. 11., 18 Uhr, 20. 11., 15 und 18 Uhr, 21. 11., 19.30 Uhr. „Is it a trick?“ ist ein zeitgenössisches Zirkusstück von Sebastian Berger, das fließend in eine Installation übergeht. Im Rahmen einer immersiven Performance bewegt sich das Publikum frei im Raum, sucht sich seinen Blickwinkel selbst und wird somit Teil der Performance und des zirzensischen Tricks. Etablierte Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen werden dabei infrage gestellt. Besonderes Interesse gilt der Blickführung des Künstlers, seines Zeichens ein Meister der Objektmanipulation, als auch der Betrachtenden: Der Fokus ist nicht direkt auf das Objekt gerichtet, sondern wird beispielsweise über Spiegel gelenkt. Diese ungewohnte Sichtweise und der damit einhergehende Kontrollverlust versprechen spannende Neuentdeckungen von Altgewohntem.

Sebastian Berger (AT): Is it a trick? Bild: © Romain Maguaritte

Sandra Hanschitz (AT/DE): |||||. Bild: © Jennifer Rohrbacher

Viktor Černický (CZ): PLI. Bild: © Vojtěch Brtnický

Film – Chloé Moglia (F): Horizon. Bild: © Johann Walter Bantz

Viktor Černický (CZ): PLI. 20. 11., 19.30 Uhr, 21. 11., 21 Uhr. „PLI“ vereint 22 Konferenzstühle, einen besessenen Rhythmus und einen hingebungsvollen Performer. Auf einer weißen Plattform bemüht sich Viktor Černický entschlossen um die unendliche Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion des Universums. Das Ergebnis ist ein intelligentes und spielerisches Solo zwischen Zirkus und Tanz – und eine physische Metapher für endloses menschliches Streben und Durchhaltevermögen. In Anlehnung an die Philosophie von Gottfried Willhelm Leibniz ist „PLI“ eine unvorhersehbare und humorvolle Performance, bei der barocke Opulenz durch räumliche Bescheidenheit und materiellen Minimalismus ersetzt wird. Die Performance „PLI“ wurde von vielen europäischen Spielstätten und Festivals präsentiert – unter anderem in Paris, London, Ljubljana, Helsinki, Barcelona und Rom. Viktor Černický ist Twenty20-Künstler bei Aerowaves, einer renommierten Plattform für innovative Tanzproduktionen in Europa. Eine österreichische Erstaufführung.

Verena Schneider & Charlotte Le May (AT/FR): ALTER – cirque introspectif. 24. und 26. 11., 19. 30 Uhr. „ALTER – cirque introspectif“ ist die erste Stückentwicklung von Verena Schneider & Charlotte Le May. Die beiden Akrobatinnen gestalten eine intensive physische Performance, in der Akrobatik, Tanz und Text zusammentreffen. Der Körper wird dabei zum Kommunikations-, Erfahrungs- und Klangmittel. Die Bewegungen und akrobatischen Figuren sind explosiv, energetisch, präzise und sanft. Die in der Performance verwendeten Texte sind von den Künstlerinnen selbst verfasst und basieren auf einem Interview mit einer Person namens „Lara“. Die Texte beschäftigen sich vor allem mit der Frage der Sozialisierung und der Beziehung zum anderen.

Knights of the Invisible (SCT/GB): Waiting for the Sea Eagle. 24. 11., 21 Uhr, 25. 11., 19.30 Uhr. Die schottische Kontorsionistin und Tänzerin Iona Kewney arbeitete mit Wim Vandekeybus und Alain Platel zusammen, bevor sie ein eigenes künstlerisches Universum entwickelte, indem sie den Körper mit Klängen auf die Probe stellte und die Gesten bis zum Äußersten trieb. „Waiting for the Sea Eagle“ von Knights of the Invisible aka Iona Kewney und Joseph Quimby – die beiden verstehen sich als radikale Tanzkompanie mit hyperrealistischen Details und surrealistischen Visionen, ihre Performances sind zutiefst energetisch, wild und pur – ist eine österreichische Erstaufführung.

Darragh McLoughlin (IRL): STICKMAN. 25. Und 26. 11., 21 Uhr. Eine Person balanciert einen langen, dünnen Stock auf verschiedenen, oft unbeholfenen Körperteilen und setzt ihn dadurch in Bewegung. Ein Fernseher versucht, die Wahrnehmung des Publikums zu beeinflussen, indem er ihm vorschreibt, was es zu sehen hat. Das Publikum gerät ins Sinnieren: Ist das, was es liest, das, was es sieht? Was genau macht die Person mit dem Stock, der Stock mit der Person? Durch den Einsatz verschiedener psychologischer Methoden erforscht Darragh McLoughlin das Thema Wahrheitshoheit, indem er sie dem Publikum auf komische und manchmal aggressive Weise aufzwingt. Ist man noch in der Lage, Entscheidungen über die Welt, die einen umgibt, zu fällen oder wird man einfach nur von einer Menge an Informationen vor sich hergetrieben? Eine österreichische Erstaufführung.

Darragh McLoughlin (IR): STICKMAN. Bild: © Philippe Deutsch

Sinking Sideways (DE/BE): René. Bild: © Jostijn Ligtvoet

Verena Schneider & Charlotte Le May (AT/FR): ALTER – cirque introspectif. Bild: © Verein Freifall

Festival Closing Party mit einem Konzert von Zion Flex. @ Soda Salon – Bild: Käthe deKoe

coffee & circus curated by Initiative feministischer Zirkus. 20. 11., 11 Uhr. „coffee & circus“ ist das neue Vernetzungs- und Diskursformat von „On The Edge“, zu dem die Initiative feministischer Zirkus einlädt. Im gemütlichen Rahmen gestalten VertreterInnen der Zirkusszene den Sonntagvormittag mit ihren Themen. Ob Vortrag, Diskussionsrunde oder kollektive Performance: den Formaten sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig soll der Vormittag auch als Inspiration dienen, mit eigenen Entscheidungen eine diskriminierungssensiblere Szene zu gestalten. Coffee und Snacks gehen aufs WUK. Die Initiative feministischer Zirkus setzt sich für eine gleichberechtigte und sichere Zirkusszene ein. Ihr Ziel ist, eine erhöhte Aufmerksamkeit sowie mehr Veränderungswillen im Hinblick auf patriarchale Strukturen, Inklusion, Respekt und Sensibilität zu generieren.

Filmscreenings. 18. bis 21. 11., 19 Uhr. Während des Festivals zeigt das WUK im Foyer Kurzfilme aus dem Bereich der experimentellen Zirkuskunst. Mit Filmen von Elodie Guézou, Chloé Moglia, Laura Murphy, Verena Schneider & Charlotte Le May und Darragh McLoughlin.

Am 26. 11., 22 Uhr, findet die Festival Closing Party mit einem Konzert von Zion Flex statt. Zion Flex ist eine preisgekrönte Künstlerin aus Bristol, die in Wien lebt und international auftritt. Sie hat mehrere Singles, Alben und Musikvideos veröffentlicht. Als Singer-Songwriterin macht sie elektronische Musik mit melodischem Gesang, Spoken Word sowie Rap. Eine einzigartige Ästhetik, ein faszinierendes Hörerlebnis. Videos: www.youtube.com/watch?v=OJlRr3wpHV8           www.youtube.com/watch?v=n8KrbaADNi8

Mehr Infos und Tickets unter dem jeweiligen Programmpunkt hier: www.wuk.at/programm/on-the-edge-8

TIPP: Die Vorstellungen am 19. November finden im Rahmen der Europäischen Theaternacht statt. Das WUK öffnet daher die Saaltüren zum pay as you wish | canPreis und empfiehlt sich rechtzeitig vorher Karten zu sichern. Pro Person können pro Vorstellung maximal vier Karten gebucht werden. Reservierungen bitte an performingarts@wuk.at. InhaberInnen eines Kulturpasses (www.hungeraufkunstundkultur.at) melden sich mit ihren Kartenwünschen sowie einem Scan oder Foto des gültigen Ausweises ebenfalls bei performingarts@wuk.at.

  1. 11. 2022

WUK: On The Edge #9 – experimentelle Zirkuskunst

November 3, 2021 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Männer in Pferdegeschirren und Omas in luftigen Höhen

Un loup pour l’homme: Cuir. Bild: © Edouard Barra

Wer heutzutage Zirkus sehen will, findet sich nicht mehr zwangsläufig in einem Zelt zwischen Tieren, Popcorn und Wohnwagen wieder. Die zeitgenössischen Formen des Zirkus sind mittlerweile international und – insbesondere europaweit – bestens etabliert. Und so zeigt das WUK von 5. bis 13. November das Festival für experimentelle Zirkuskunst „On The Edge #9“. Das Festival öffnet einen Raum für Zirkuskunst, die sich an der Schnittstelle zu Performance

und Bildender Kunst bewegt. „On The Edge“ zeigt Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die die eigene Praxis abstrahieren oder dekonstruieren und den Raum, die experimentelle Ausdrucksform oder die Rolle des Publikums neu denken. Das Festival fördert mutige künstlerische und politische Positionen und einen reflektierten Umgang mit Genderrollen auf der Bühne.

„On The Edge #9“ wird von den Residenz-Künstlerinnen und -künstlern eröffnet: Vier Artistinnen und Artisten aus Österreich, Deutschland, Luxemburg und der Schweiz wurden im Rahmen des circus re:searched Programms eingeladen ihre aktuellen Projekte und Forschungen während zwei-wöchigen Studio-Residenzen zu vertiefen oder bestehende Arbeiten zu präsentieren. Nachwuchskünstlerinnen und -künstler treffen auf etablierte Zirkusschaffende und frische Experimente auf bereits bestehende Stücke. Die Performances von Anne Kugener und Julian Vogel beschäftigen sich beide mit der Schnittstelle von Zirkus und Bildender Kunst – von Vogel ist auch die Installation „China Series #11“ zu sehen. Das Duo Maja Karolina Franke und Ralph Öllinger untersucht das Geschlechterverhältnis und die Rollenverteilung in der partnerakrobatischen Praxis.

Hier schließt auch die Künstlerin Kathrin Wagner an, die ihre Rolle und Erfahrungen als Frau und Performerin in der Zirkuswelt reflektiert. Aus persönlichen Erfahrungen mit Sexismus und Berichten anderer Performerinnen entstand das Slam-Gedicht „I was told“, das zusammen mit dem Text „Love Letter to myself“ Ausgangspunkt für die aktuelle Kreation ist. Nachdem Jonglage und Poetry Slam von der Künstlerin als separate Disziplinen erlernt wurden, entstand der Drang, eine tiefere Verbindung zu schaffen. In der Kombination aus gesprochener Sprache und Jonglage bereichern sich nun beide gegenseitig und verändern die Wahrnehmung des Publikums auf die einzelnen Genres.

I was told. Bild: © Jan Ole Laugesen

Grand Mère. Bild: © Alexandre Fray

Anne Kugener. Bild: © Natali Glisic

„In the maze of your perception, I resonate …“ von Tänzerin Elena Lydia Kreusch und Straßenkünstler Andrea Salustri ist eine interdisziplinäre Rauminstallation: Kleine Publikumsgruppen können sie gemeinsam begehen und Klanginstallationen, Videokunst und interaktive Skulpturen eigenständig erkunden. Die präsentierte Auswahl ist Teil eines langfristigen Forschungsprojekts, im Rahmen dessen das Duo mit alternativen und nicht-performativen Formaten für zeitgenössischen Zirkus experimentierte. Zirkuskörper und -disziplinen werden dekonstruiert und Zirkusgesten und -objekte werden in einen neuen Kontext gesetzt. Die Infragestellung etablierter Blickwinkel eröffnet neue Perspektiven auf ein vertrautes Genre.

Als „Acrobalance: Extreme Symbiosis“ präsentieren das schwedische Künstlerpaar Henrik Agger und Louise von Euler Bjurholm eine intime 55-minütige dokumentarische Lecture Performance. In „Extreme Symbiosis“ geben sie dem Publikum einen Einblick in ihre Arbeit, Praxis und ihr Leben als Paarakrobaten. Indem sie die Bedeutung eines konstanten geistigen und körperlichen Trainings in ihrer Kunstform zeigen und hervorheben, hoffen sie, das Verständnis für diese Kunstform zu erweitern. „Was geschieht in der Interaktion zwischen uns, wenn wir unsere Praxis ausüben? Eine Zusammenarbeit zwischen Körper und Geist, individuellen Systemen und gemeinsamen Sinnen. Eine langjährige PartnerInnenschaft, die auf extremem Vertrauen basiert und in der Praxis täglich herausgefordert wird.”

Zwei Männer, zwei Ledergeschirre. Das ist „Cuir“ der Compagnie „Un loup pour l’homme“. Was wie ein Spiel um Dominanz und Unterwerfung aussieht, entpuppt sich als subtiles Duett, das das menschliche Verlangen nach gegenseitigem Verständnis erforscht. „Un loup pour l’homme“ benutzt die Geschirre – die normalerweise von Zugpferden getragen werden – um die Seele des Menschen zu durchpflügen und die Zerbrechlichkeit persönlicher Beziehungen aufzudecken. „Cuir“ ist eine akrobatische Tour de Force bei der die Energie in jeder Sekunde auf’s Publikum überspringt.

Der flämische Akrobat Toon Van Gramberen setzt sich seit einigen Jahren mit dem alternden Körper auseinander. Sein Vater erklärte sich bereit, ihn in einem gemeinsamen Prozess zu begleiten. Er ist sechzig Jahre alt und hat keinerlei akrobatische Vorkenntnisse. Dies war der Anfang von „Carrying my father“, einem Bühnenstück, das mittlerweile vier Akrobaten und ihre Väter involviert. Begleitend zum Kreationsprozess von „Carrying my father“ entstand die Fotoausstellung, die einen intimen Einblick in den Probenprozess gibt.

Un loup pour l’homme: Cuir. Bild: © Edouard Barra

Maja Karolina Franke und Ralph Öllinger. Bild: © Claude Hofer

Acrobalance: Extreme Symbiosis. Bild: © Arts printing house

In the maze of your perception … Bild: © Kreusch & Salustri

Wenn der alternde Körper in den Mittelpunkt der akrobatischen Forschung gestellt wird, werden die Vorstellungen von körperlicher Virtuosität notwendigerweise dekonstruiert und neu definiert. So verschieben sich zwangsläufig auch Perspektiven auf den Körper des Akrobaten und auf die gesamte Disziplin. Der Dokumentarfilm „Vaders Dragen – Carrying fathers“ zeigt den Entstehungsprozess einer Zirkusproduktion in der sich vier Akrobaten die Bühne mit ihren Vätern teilen.

Das „Projet Grand Mère“ des Akrobaten Alexandre Fray, Mitglied von „Un Loup pour l’Homme“, untersucht die Geste des Tragens im Rahmen einer Recherche mit älteren Menschen: Tragen als Symbol des „Sich Kümmerns“. Es geht Fray darum, sich Zeit zu nehmen, miteinander in Beziehung zu treten, viel zuzuhören und eine Atmosphäre zu schaffen, die Vertrauen und Verbundenheit fördert. Dies ist die Basis für die Entwicklung einer gemeinsamen körperlichen Arbeit. Ziel ist das Finden einer Intimität, die von einer großen Zartheit durchdrungen ist. Gemeinsam mit älteren Frauen, welche nie oder selten getragen wurden, hinterfragt der Akrobat die Herausforderungen einer Disziplin, die vom Horizont der Höchstleistungen oft in den Schatten gestellt wird.

Was bedeutet es, sich den Gesetzen des Gleichgewichts und der Schwerkraft zu widersetzen, wenn Gelenke rosten und Muskeln schmelzen? Wie kann man „loslassen“, wenn der Körper dies verlernt um sich selbst zu schützen? Was bedeutet Virtuosität für den alternden Körper – kann auf einem Bein stehen mit 80 Jahren dasselbe Risiko kommunizieren wie ein Rückwärtssalto? Die Foto-Ausstellung „Projet Grand Mère“ dokumentiert die besonderen Begegnungen des Akrobaten mit Frauen im Alter von „Großmüttern“ von 2016 bis heute, die den Schritt ins Leere wagen und sich in die Luft heben lassen.

Arne Mannott, Choreograf, Zirkusperformer und Kurator, beschließt die Woche mit der Videoinstallation „circus“. Dafür wurden zehn Akteurinnen und Akteure verschiedenen Alters, verschiedener Herkunft und mit verschiedenen künstlerischen Hintergründen zu ihrer Sichtweise zu Zirkus befragt. Im Fokus der Interviews steht die Frage nach dem „Was ist eigentlich Zirkus?“ – und damit auch danach, wodurch sich die Kunstform Zirkus selbst definiert und welche besonderen Merkmale dabei zustande kommen. Die Porträtierten sind alle seit Jahren oder Jahrzehnten in der Zirkuskunst tätig und treten für dieses Video in einen ganz persönlichen Dialog mit sich selbst.

Mehr Infos und alle Termine: www.wuk.at

3. 11. 2021

Orpheum Wien: Hader On Ice

September 9, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der mit dem Wolf trinkt

Spritzpistole im Anschlag. Bild: © www.lukasbeck.com

„Sie san a bissl aufgeregt, stimmt’s?“ fragt Josef Hader das Publikum im Orpheum Wien. Keine Sorge der Künstler hat alles im Griff. „Bei meiner Bühnenroutine.“ Ein erster Lacher, hat der Godfather des deutschsprachigen Kabaretts doch erst nach 17 Jahren endlich wieder ein neues Programm. Hader muss weg, „Hader On Ice“ muss raus, wobei Hader wieder Hader spielt. Einen runderneuerten, dies nicht wegen ein paar Kilo mehr, sondern – der Temperaturwechsel deutet sich schon im Titel an – die coole Sau, den Playboy in Schwarz mit tiefaufgeknöpftem Hemd und ebensolchem Selbstbewusstsein.

Vorbei die Zeiten des herumdrucksenden Kleinkünstlers, der die Zuschauerinnen und Zuschauer an seinem Wohl und Wehe teilhaben lässt, nun wird das große Wort geführt, den Tumbler voll nachhaltigem Rum On The Rocks wie an die rechte Hand getackert. Den Wiener-Konsumwahn-Flüchtling hat’s in Weinviertel verschlagen, der „Toskana Österreichs, genauso

überschätzt“, dort ist Saufen Freizeitsport, schiach die Leut‘, zersiedelt die Gegend, da fällt ein seelisch zerfledderter mehr nicht auf. Hader Josef spielt Hader, die Kunstfigur, mit einem Wolfslächeln. Damit hat’s was auf sich. Doch zuerst streut der zunehmend illuminierte seine gehässigen Fake News und Verschwörungstheorien. Ein zynischer Unsympath hat sich da im Orpheum Wien eingenistet, bewaffnet mit einer Spritzpistole als Schutz gegens heraufdämmernde Neo-Mittelalter. Boten, von Hader mittels Plastikcolt verscheucht, Seuchen, Enthauptungen gibt’s ja schon wieder, nur der Scheiterhaufen ist noch eine Mehlspeise.

Bestens gelaunt berichtet Hader von seinem Lifestyle als Endfünfziger, die junge Freundin hat ihn zwar wegen unvereinbaren Sexbiorhythmen verlassen, aber, hey, der Sportwagen ist noch da. Hader persifliert sein gutsituiertes Promi-Sein und hält seine absurde Ich-Erzählung insofern politisch, als er dem ungesunden Volksempfinden wieder mal mit Argusaugen ins Herz und aufs Maul geschaut hat. Angina Pectoris, die Enge in der Brust, ortet er denn auch als Haupttodesursache, sich selbst nicht ausgenommen. Doch als kindheits- traumatisierter Katholik – großartig die Nikolo-Anekdote, ist man schließlich selber auch aus Angst vor diesem unterm Festtagstisch gekauert – als Katholik also versteht sich Hader auf den Ablasshandel.

Den treibt er mit einem Euro für Asylwerber-Bettler Jimmy, der vorm Billa steht, und als heiterer Nigerianer ausreichend Gute-Laune-Faktor fürs Elend mitbringt. Nicht so wie die knieenden, flehenden, betenden Rumänen, die einem den ganzen Tag vergällen. Jimmy wird später zu Haders Diener avancieren, Stichwort: moderne Sklaverei: womit er die Flüchtlingsfrage geklärt wähnt: „Menschen als Eigentum – nichts ist in Österreich so gut geschützt wie Eigentum.“ Jetzt ist er aber selber erschüttert über das Niveau der Veranstaltung, der Hader.

Bild: © www.lukasbeck.com

Bild: © www.lukasbeck.com

Bild: © www.lukasbeck.com

Bild: © www.lukasbeck.com

Also zurück zum alkoholgeschwängerten Anfang, die Droge, die neben ein paar anderen den Quarantäne-Tag strukturiert hat. „Weizenbier ist ja nur ein verkleidetes Müsli“, feixt der laut Eigendefinion Gesellschaftstrinker, um sofort festzuhalten: „Menschen, I brauch’s ned so.“ Mit Seitenstich auf die Millennials und ihre Latte-Macchiato-Geschwätzigkeit, mit Blick auf Klimawandel und Alterseinsamkeit, mit einer Watschn für den Zeitungeist, mit Biss in gängige Erschlagworte: „Bevölkerungsaustausch, die Bevölkerung tauscht sich eh alle 100 Jahre aus“, pendelt der bekennende Boomer von Pontius zu Pilatus.

Ach ja, der Wolf, der hat Hader irgendwann im Wald überfallen und ist nach fünf Kilo feinstem Rindercarpaccio und einer Rum-Degustation zum steten Hausgast geworden. Gleich Jimmy Stewart stellt ihn Hader dem Publikum vor: Mein Freund Rudl! Auf den Hinterbeinen mehr als zwei Meter groß. Oder wird hier doch sowas wie Jekyll und Hyde gegeben? Hader, der Wolf im Kabarettistenpelz? Zum Ende jedenfalls setzen sich die beiden ans Klavier und singen, Hader in allerlei Höhen sentimental heulend, der Wolf mit Tom-Waits-Stimme, virtuos den Jazz-Standard „Over The Rainbow“. Irgendwo muss es sein, das Land, in dem die Himmel blau, die Menschen gut und die Träume war sind …

„Hader on Ice“ – gekonnt minimalistisch inszeniert von Regisseurin Petra Dobetsberger – ist zum richtigen Zeitpunkt aufgetaut. Sein Parforceritt durch die österreichische Seele, sein Horrortrip durch Sigmund-Freud-Gefilde, seine Reise in die geistige Provinz ist einmal mehr grandioses Theater. Mit ausladender Geste, überbordender Fantasie und den typischen Schlechter-Witz-Widerhaken mimt Hader den Las-Vegas-Entertainer (in der Pause swingt Dean Martin), dessen Show zur Schau in persönliche und politische Abgründe wird.

So sehr die Bühnenfigur Hader ein Schönreder und Doppelmoralist, so wenig ist der Josef ein Weltversteher und Zusammenhangserklärer. Was er liefert ist eine Bestandsaufnahme sozialgesellschaftlicher Scheußlichkeiten, und zwar mit heiterer Beiläufigkeit. Dass man manches bereits aus Videos, die er zu Lockdownzeiten auf Facebook gepostet hat, kennt, tut dem Live-Vergnügen keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie sind nun im Kontext eines kompletten Programms sogar lustiger. Und ein neues, grantiges Lebensviech hat der Hader auch gefunden. Wie sagt’s der Lateiner, der Dings, der Plautus? lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.

www.hader.at           www.orpheum.at

  1. 9. 2021

Hugo Canoilas. On the extremes of good and evil

Oktober 31, 2020 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

mumok: Eine malerische Biosphäre für Mensch und Tier

Performance auf derBodenmalerei: Elise Lammer and Julie Monot, with Hugo Canoilas: Becoming Dog, 2020. Bild: Klaus Pichler. © Hugo Canoilas, Julie Monotand Elise Lamme

Ab 6. November zeigt das mumok die Schau „Hugo Canoilas. On the extremes of good and evil“. Der Kapsch Contemporary Art Preisträger 2020 versetzt dazu den Ausstellungsraum in eine betretbare Bühne der Malerei: Über die gesamte Bodenfläche zieht sich auf textilem Grund ein malerisches Szenario ineinander verfließender Formen mit inselartigen Zentren. Das Blau des Grundes und die darauf gesetzten tentakulären Farbwesen aus Wolle und Glas erinnern an eine belebte maritime Landschaft von unabwägbarer Tiefe.

In Zeiten der #Corona-Krise, die das physical distancing zum neuen Überlebensprinzip erhoben hat, sieht man sich in eine unentrinnbare malerische Biosphäre einbezogen, in der Verführerisches und Bedrohliches, Organisches und Technoides zugleich aufscheinen. Eine Bühne der Kunst- und Selbsterfahrung bietet diese Bodenmalerei nicht nur für die Betrachter, sie ist auch der Auftrittsort für die von Elise Lammer und Julie Monot auf Einladung des Künstlers entwickelte Performance „Becoming Dog“, in der als Hunde verkleidete Akteure auftreten, um das hierarchische Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu hinterfragen und neue Potenziale der Empathie zu erkunden. Menschliches und Tierisches erscheint hier wie in einer Travestie ineinander geblendet, um vorgebliche Gewissheiten über Identität und Einzigartigkeit zur Diskussion zu stellen.

Making of: Hugo Canoilas. On the extremes of good and evil. Kapsch Cont. Art Prize 2020. © mumok, Bild: Klaus Pichler

Making of: Hugo Canoilas. On the extremes of good and evil. Kapsch Cont. Art Prize 2020. © mumok, Bild: Klaus Pichler

Making of: Hugo Canoilas. On the extremes of good and evil. Kapsch Cont. Art Prize 2020. © mumok, Bild: Klaus Pichler

Making of: Hugo Canoilas. On the extremes of good and evil. Kapsch Cont. Art Prize 2020. © mumok, Bild: Klaus Pichler

Hugo Canoilas nutzt die Tradition und Geschichte der Malerei und Objektkunst, um sie in Verbindung mit installativen und performativen Strategien neu zu bestimmen und zu erweitern. Er nimmt dabei auf aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen sowie die damit verknüpften philosophischen und kunsttheoretischen Diskurse Bezug. Die Ausgangslage bilden miteinander verzahnte Themen wie die Klimakatastrophe, die Umweltzerstörung, die Migration und die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, deren Virulenz durch #Corona eine Art pandemischen Katalysator erhält. Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen und ihren Folgen findet der Künstler vor allem in jenen posthumanistischen Denkströmungen, die ein anthropozentrisch-hierarchisch erstarrtes Weltbild infrage stellen und einen einfühlsamen Umgang des Menschen mit der Natur und seiner kreatürlichen Umwelt einfordern.

Der Blick von oben auf die Malerei darunter weckt Erinnerungen an digitale Landschaftsszenarien, die wie aus der Perspektive einer Drohne aufgenommen sind. Der hier offerierte Perspektivenwechsel kann auch metaphorisch als Abweichung und Distanznahme zu eingeübten Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen im Gesellschaftlichen begriffen werden, um anders und womöglich auch näher an die Dinge heranzukommen

www.mumok.at

31. 10. 2020

The Show Must Go On! Andrew Lloyd Webber’s The Royal Albert Hall Celebration

April 30, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Mit Glenn Close, Bonnie Tyler und Antonio Banderas

Elaine Page, Antonio Banderas, Donny Osmond und Ronan Keating von Boyzone. Bild: Andrew Lloyd Webber – The Royal Albert Hall Celebration. Courtesy the Really Useful Group

Musical-Titan Andrew Lloyd Webber bietet dieser Tage seine berühmtesten Werke auf dem Youtube-Channel „The Show Must Go On!“ als kostenlosen Stream an. Zum Wochenende je ein neues, am Karfreitag war es „Jesus Christ Superstar“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39238), gefolgt von „The Phantom of the Opera at the Royal Albert Hall“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39433) und „Love Never Dies“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=39809).

Für den 1. Mai hat er sich etwas Besonderes einfallen lassen, nämlich den Mitschnitt seiner Geburtstagsparty „Andrew Lloyd Webber’s Royal Albert Hall Celebration“, der von morgen um 20 Uhr bis inklusive Sonntagabend online zu sehen sein wird. Zu hören gibt es die größten Hits aus den oben erwähnten Musicals, dazu Evita, Cats, Sunset Boulevard, Starlight Express …

Banderas & Sarah Brightman. Bild: Courtesy the R. U. Group

Glenn Close. Bild: Courtesy the Really Useful Group

Bonnie Tyler. Bild: Courtesy the Really Useful Group

Julian Lloyd Webber. Bild: Courtesy the Really Useful Group

Zu sehen gibt es jede Menge Celebrities – Sarah Brightman selbstverständlich, Hollywood-Ikone Glenn Close und sexy Tangotanz-Kollege Antonio Banderas, Rockröhre Bonnie Tyler, Operndiva Kiri Te Kanawa, die Musicalstars Elaine Page, Donny Osmond und Michael Ball, Boyzone und Ronan Keating. Es spielt The London Musicians Orchestra – und als große Überraschung für den Jubilar sein Bruder und weltberühmter Cellist Julian Lloyd Webber auf seinem „Barjansky“.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=AONIXETJ7n8

Die ganze Show: www.youtube.com/watch?v=SqKH-gLoDbQ

www.youtube.com/channel/UCdmPjhKMaXNNeCr1FjuMvag          www.andrewlloydwebber.com            www.royalalberthall.com                    www.reallyuseful.com

30. 4. 2020