Jean-Pierre & Luc Dardenne: Le jeune Ahmed

September 20, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Kein Rezept gegen religiösen Eifer

Macht sich bereit fürs Gebet: Idir Ben Addi als Ahmed. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Der Glaubenskrieg beginnt am Esstisch. Ahmed, 13 Jahre alt, Belgier mit arabischen Wurzeln, also eines jener „Kinder mit Migrationshintergrund“, denen die Integrationsministerin ganze Studien bezüglich deren Unwilligkeit dazu widmet, beschimpft seine Mutter als Säuferin. Er sagt es auf Arabisch. السكارى Und schilt auch gleich die Schwester, die das Gläschen Wein am Abend verteidigt. Mit ihrem tief dekolletierten T-Shirt sei sie sowieso eine …

Mit „Le jeune Ahmed“ haben die Brüder Dardenne ein schwieriges Sujet in ein filmisches Meisterwerk verpackt. Der in Cannes im Vorjahr mit dem Regiepreis ausgezeichnete Film läuft seit heute auch in den heimischen Kinos. „In Zeiten von steigendem identitärem Populismus und von radikaler werdenden Religionen, wollten wir einen Film machen, der an das Leben appelliert“, so Luc Dardenne an der Croisette. Das ist dem belgischen Filmemacher und Bruder Jean-Pierre mit diesem zutiefst humanistischen Drama voll und ganz gelungen.

Mit ihren von ihnen unter Hochdruck gesetzten sozialen Versuchsanordnungen haben die Dardennes von „Rosetta“ bis „Der Junge mit dem Fahrrad“ beinah ein eigenes Genre begründet. Und auch diesmal verlassen sie sich ganz auf das haptische Spiel ihrer Darsteller, allen voran Idir Ben Addi, der weder Schauspielschüler ist noch jemals zuvor vor einer Kamera stand, und der mit seinem stummen Zeugnis-Ableben von Ahmeds Innenleben eine Intensität entwickelt, die wie ein Messer ins Herz schneidet.

Ein Messerattentat bereitet Ahmed auch vor. Lehrerin Inés, gespielt von Myriem Akheddiou, will ihren Schülern mittels Songs ein modernes Arabisch beibringen. Das ist Blasphemie! Sagt der Imam. Die Sprache des Propheten mit Liedern zu lernen! Lehrreich ist die hitzige Szene von der folgenden Elternversammlung. Meine Kinder sollen auf Arabisch auch alltägliche Dinge ausdrücken können, sagen die einen. Mein Neffe arbeitet an einer Hotelrezeption, in dieser Branche ist gutes Arabisch sehr gefragt. Arabisch darf nur in den Moscheekursen gelehrt werden, sagen die anderen, sonst stirbt der Koran, sterben der Islam und unser kulturelles Erbe.

Lehrerin Inès will den Schülern modernes Arabisch beibringen: Myriem Akheddiou. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Ahmeds Ersatzvater ist ein radikal sanfter Indoktrinierer: Othmane Moumen als Imam Youssouf. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Was Ahmed betrifft, haben die Dardennes einen überlegt ruhigen Film zu einem politisch höchst aufgeladenen Thema gemacht. Idir Ben Addis Bild vom Nachwuchs-Dschihadist entspricht keinem Fanatismus-Klischee. Der Lockenkopf ist Brillenträger und ein bisschen pummelig um die Hüften. Rührend, wie sich der Pubertäts-Gebeutelte das Kinn rasiert, und man sich fragt was und wozu. Und dann ist da das Chaos im Kopf. Eigentlich ein Teenager-typisches. Wäre nicht der Imam und der als „Märtyrer“ gestorbene Cousin als Idol.

Othmane Moumen gestaltet diesen Youssouf als radikal sanften Indoktrinierer, ganz klar ist der zivilberufliche Greißler für Ahmed ein Vaterersatz, doch bringt er mit seinem Glaubenssatz die ihm anvertrauten Koranschüler in Gewissenskonflikte und auf Konfrontationskurs. Erst weigert sich Ahmed Inés die Hand zu reichen, dann bereitet er, ist sie doch noch dazu mit einem Juden liiert, und die vom Imam ausgemachten Feindbilder sind die Juden und die „Kreuzzügler“, dann also bereitet er besonnen und unaufgeregt sein Messerattentat vor. Es ist Idir Ben Addis fast 90 Minuten lang unbewegliches, emotionsloses Gesicht, dass seinen Ahmed undurchschaubar und beunruhigend macht.

Die Dardennes sind nicht am Durchdeklinieren der Motive des jungen Gotteskriegers interessiert, den Moment der Tat, die übrigens schiefgeht, strapazieren sie nicht über Gebühr. Die Logik dahinter entsteht aus der Figur Ahmed, deren Entschlossenheit, deren Unbeirrbarkeit sind die Setzung – und der springende Punkt. Denn, vom plötzlich kleinmütigen statt kämpferischem Imam, der aus Furcht vor der Schließung der Moschee und seiner Ausweisung fast vergeht – Dialog: „Sie nannten sie eine Abtrünnige.“ „Aber ich habe nichts von Töten gesagt.“ -, der Polizei überantwortet, landet Ahmed in einer Jugendstrafanstalt. Ein verängstigtes Kind in Einzelhaft.

Dies ist die Frage, die die Dardennes aufwerfen, welche Angebote die so viel gepriesene westliche Wertegemeinschaft einer derartigen ideologischen Erstarrung zu bieten hat. Weder der Sozialarbeiter noch die Psychologin, Olivier Bonnaud und Eva Zingaro, können mit ihrer betont aufgeklärt-wohlwollenden Art zu Ahmed durchdringen. Er findet sie „zu nett“, wenn sie seine Gebetszeiten respektieren, ja ihn sogar daran erinnern, und ihm seine Hadithe lassen. Die institutionelle Ebene, „das System“, scheitert an Ahmeds Schweigen. In stiller Verzweiflung besucht ihn die Mutter, die er immer noch im Hidschab sehen will, Claire Bodson mit einer schauspielerischen Glanzleistung, Woche für Woche: „Vor ein paar Tagen warst du noch von der PlayStation nicht wegzukriegen, und jetzt, sieh‘ dich an …“

Auf dem Bauernhof mit Sozialarbeiter Olivier Bonnaud und Landwirt Laurent Caron. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Louise beflirtet den eingeschüchterten Ahmed: Victoria Bluck und Idir Ben Addi. Bild: © Stadtkino Filmverleih

Dass sein Opfer Inés ihn zwecks Aussprache zu einem Treffen zwingen will, befremdet ihn. Erst als er auf dem Bauernhof von Mathieu, wo er als Arbeitskraft eingesetzt wird, dessen Tochter Louise kennenlernt, scheint sich der verschlossene Junge zu öffnen. Kurz huscht ein schamhaftes Lächeln über sein Gesicht als ihn Louise offensiv beflirtet, doch dann will ihn das von Victoria Bluck charmant verkörperte Mädchen küssen. Französisch küssen. „Unrein“ sei er jetzt, ist Ahmed entsetzt, der Weg ins Paradies ihm auf immer verwehrt, so kompromisslos hat er sich in eine von Ge- und Verboten strikt reglementierte religiöse Vorstellungswelt hineingesteigert, außer … Louise bekennt sich zum Islam. Was diese freilich ablehnt.

Worauf Ahmed, dessen Termin mit Inés als nächstes bevorsteht, Louises Zahnbürste stiehlt und in seiner Zelle zuspitzt, und einen Abschiedsbrief an seine Mutter schreibt … Wie sich die Dardennes an dieser Stelle darauf verstehen, ihren per Handkamera verfolgten Protagonisten in ein Thriller-Szenario zu versetzen, ist große Kunst. Wird Ahmed wie ein programmierter Assassine seine Mission bis zum Ende verfolgen? Täuscht er, im Innersten ein Fundamentalist, „das System“, indem er vorgibt sich nun wieder ihm konform zu verhalten? Darf man von unterschiedlichen Mentalitäten sprechen? Vom tiefen Gefühl der Verletzung der männlich-muslimischen Ehre? Davon, wie schwer Verhetzung aus (jugendlichen) Köpfen zu kriegen ist?

Schwer zu verstehen ist das alles. Und doch wieder nicht. Denn wenn Luc Dardenne von „identitärem Populismus“ spricht, meint das, dass das sich so überlegen denkende Abendland genug vor der eigenen Tür zu kehren hat. „Le jeune Ahmed“ lässt das Publikum bis zum allerletzten Bild, eigentlich darüber hinaus, um seinen Antihelden bangen. Szene für Szene sieht man ihn in ein so sinnloses Verderben entgleiten, und kann ihm doch nicht helfen. „Le jeune Ahmed“ ist ein unangenehm unter die Haut gehendes und gleichzeitig seltsam elegantes Kammerspiel. Das schwerste Drehbuch, das sie jemals geschrieben haben, sagen die Dardennes. Damit, mit seinen Gedanken und dem Meinung-Bilden lassen sie den Betrachter nun allein. Und mit einem Schluss, den zumindest ich ihnen niemals verzeihen werde.

stadtkinowien.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=50dvriiC7Bw

  1. 9. 2020

Vincent Cassel in „Alles außer gewöhnlich“

Dezember 26, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Was heißt das schon – normal?

Malik und Bruno helfen Valentin vom Minivan auf die Koppel zur Pferdetherapie: Reda Kateb, Marco Locatelli und Vincent Cassel. Bild: © Prokino Filmverleih

Szene eins, und Action: Ein Mädchen hetzt durch eine Fußgängerzone, stößt dabei Passanten nieder, hinter ihr Männer – sie wird gejagt, die Menschenmenge denkt das Schlimmste und will sich den Verfolgern wütend in den Weg stellen. Da bekommt Malik die junge Frau zu fassen, und in seiner Umarmung beruhigt sie sich von all den Eindrücken, die aus dem lauten Draußen in ihr stilles Inneres eingebrochen sind. Émilie ist Autistin.

Szene zwei, und Action: Bruno durchmisst im Laufschritt eine Metrostation, fällt hastig ins dortige Polizeirevier ein, um einen jungen Mann auszulösen. Der hat, nicht zum ersten Mal, im Zug die Notbremse gezogen, mitten in der Stoßzeit, und bei der Festnahme auch noch um sich gebissen. Die Beamten sind verärgert, wollen eine saftige Geldstrafe kassieren, doch Bruno ist ein gewiefter Um-den-Finger-Wickler, und so bekommt er seinen Schützling bald frei – Joseph, er ist Autist.

Es wird ziemlich viel gerannt in „Alles außer gewöhnlich“, dem neuen Spielfilm des „Ziemlich beste Freunde“- Erfolgsduos Éric Toledano und Olivier Nakache, der am Christtag in den Kinos anläuft. Das liegt daran, dass andauernd Krisensituationen zu bewältigen sind, größere und kleine Katastrophen, und immer sofort, schnell, stante pede. Vor allem Bruno ist einer, der immer in Eile ist, und doch stets Zeit für andere findet. Für seine Pfleglinge und deren verzweifelte Familien, für überforderte Ärzte und seine nicht minder strapazierten Mitstreiter.

Vincent Cassel spielt Bruno, Reda Kateb den Malik, beide Begründer von privaten Organisationen, die jenseits aller Konventionen und behördlicher Protokolle, ja diese in der Regel sogar austricksend, jugendliche Autisten betreuen. Auch schwere Fälle, die sie aus staatlichen Einrichtungen, Psychiatrien, in denen sie weggesperrt, fixiert, sediert waren, zurück in eine Art Alltag holen. Für viele sind Brunos „Stimme der Gerechten“ und Maliks „L’escale“, „Die Zwischenlandung“, die letzte Rettung, Hoffnung und Zuflucht, Brunos Antwort auf jede Bitte, die an ihn herangetragen wird: „Ich finde eine Lösung!“ Cassel zeigt diese Bürde mit der schönen Geste heiterer Unerbittlichkeit, die Überlastung als Brunos Lebenselexier, seinen Dauereinsatz als Preis und Lohn zugleich.

Mit Joseph fing für Bruno alles an: Benjamin Lesieur und Vincent Cassel. Bild: © Prokino Filmverleih

Bei der „Stimme der Gerechten“: Vincent Cassels Bruno mit einem von dessen Schützlingen. Bild: © Prokino Filmverleih

Gemeinsam mit Dylan (Bryan Mialoundama) nähert sich Valentin den Pferden: Marco Locatelli. Bild: © Prokino Filmverleih

Malik und Dylan gehen mit den Kids eislaufen: Reda Kateb, Émilie und Bryan Mialoundama. Bild: © Prokino Filmverleih

Denn selbstverständlich machen Toledano und Nakache aus dem Autismus kein Drama. Die Meister dessen, was französische Filmkritiker als Sozialkomödie etikettiert haben, durchweben die Geschichte sehr subtil mit tragikomödiantischem Humor und Szenen feiner Poesie. Auf Spaß beim gemeinsamen Eislaufen folgt ein gebrochenes Nasenbein, auf eine Tanzchoreografie die Frage „Darf ich meine Mutter hauen?“. Die Regisseure und Drehbuchautoren mixen Sozialthriller-Spannung mit Buddy-Film mit Love- und wie schon bei Philippe und Driss einer True-Story: Bereits in den 1990er-Jahren haben die zwei Stéphane Benhamou und Daoud Tatou und deren Vereine „Le Silence des Justes“ und „Le Relais Île-de-France“ kennengelernt, und aus der aus dieser Begegnung entstandenen Doku „Man müsste einen Spielfilm daraus machen“ wurde nun einer.

„Alles außer gewöhnlich“ folgt seinen Protagonisten auch diesmal wie mit der Dokukamera, ohne viel erklärt zu bekommen, wird der Betrachter ins Geschehen gestoßen, was da gerade abgeht, entschlüsselt sich einem nach und nach. Von den kaleidoskopisch sich drehenden Episoden rücken Toledano und Nakache einige in den Vordergrund. Etwa die von Joseph, jenes einstmals von jeder Institution abgelehnte Kind, das Brunos erster „Fall“ wurde, und dem er nun, zum Techniktüftler herangewachsen, einen Arbeitsplatz in einer Reparaturwerkstatt zu schaffen versucht. Oder die von Valentin, der bei Problemen mit dem Kopf gegen die Wand donnert, so dass er einen Schutzhelm wie fürs Sparringboxen tragen muss.

Benjamin Lesieur hat die Figur des Joseph übernommen, ihn, wie viele der Mitwirkenden, fanden die Filmemacher in der Künstlerkolonie „Turbulences“, die mit Menschen zusammenarbeitet, die autistische Verhaltenszüge oder besondere Kommunikationsstörungen aufweisen. Im Gespräch erzählt Toledano, man hätte sich von Benjamin Verhaltensweisen abgeschaut, die Weise, wie er anderen gern den Kopf auf die Schulter legt, was übrigens Josephs Kollegin Brigitte zutiefst verstört, seine in Endlosschleife wiederholten Sätze „Ich bin unschuldig!“ und „Wir haben es fast geschafft!“ – der zum Leitmotiv zwischen Joseph und Bruno wird, jedes Mal, wenn er die Notbremse eine Station näher zum Ausstiegsziel zieht.

Marco Locatelli hat für die Rolle des Valentin vorgesprochen, ohne irgendjemanden einzuweihen. Toledano: „Er kam zum Casting und sagte: ,Ich habe einen kleinen Bruder, der Autist ist, wenn ich in diesem Film mitspiele, könnte mir das vielleicht helfen, ihm näherzukommen, ihn zu lieben.‘“ Und da sowohl Daoud Tatou in der Realität als auch Malik auf der Leinwand ihr Team aus Jugendlichen in sogenannten sozialen Brennpunkten rekrutieren, sind auch diese echt. Dylan, den Malik als Betreuer mit Valentin zusammenspannt, verkörpert Bryan Mialoundama, nominiert für einen César in der Kategorie „Bester Nachwuchsdarsteller“ und nach einer Schlägerei im November in Untersuchungshaft.

Auch diese beiden sind ziemlich beste Freunde: Vincent Cassel als Jude Bruno und Reda Kateb als Muslim Malik. Bild: © Prokino Filmverleih

Wie der unkontrollierbare Valentin und der unangepasste Dylan bei der Pferdetherapie zueinander finden, gegenseitig Vertrauen fassen, die Systemsprenger fast so etwas wie Freunde werden, wie man dem Augenblick entgegenfiebert, in dem Valentin endlich seinen Helm abnehmen darf, gehört zu den berührendsten Momenten des Films, ist ein Fingerzeig auf die Sinnlosigkeit der Frage nach dem, was „normal“ ist, und auf die zu bergende, überbordende Lebensenergie

der Kids in den Banlieues. Und dann ist da noch Valentins Logopädin Ludivine, Lyna Khoudri, in die sich Dylan unsterblich verliebt. Wie zwischen diesen die Hautfarbe kein Thema ist, so macht „Alles außer gewöhnlich“ auch um die Religion kein Aufheben. Wie nebenbei sieht man Brunos Kippa und Zizit, wie nebenbei nennt sich Malik einen praktizierenden Muslim, Kneitsch sitzt neben Hijab, man isst mal Challa, mal Couscous. So einfach kann’s sein. So liebenswert, weil authentisch.

Alldieweil sitzen Bruno zwei Kontrollbeamte der Inspection Générale des Affaires Sociales, Frédéric Pierrot und Suliane Brahim von der Comédie française, zwecks Schließung seines ohne Genehmigung agierenden Vereins im Nacken, heißt: im Büro. Ihre Interviews mit Josephs Mutter, Hélène Vincent, oder Valentins Ärztin, Catherine Mouchet, die Schlüsse, die sie daraus ziehen, und ihr Report, der perfide erst im Abspann und dann langsam, Wort für Wort, enthüllt wird, lässt einen erst vor Zorn Zähneknirschen, dann vor Angst Nägelkauen. Auch mit den Inspektoren redet Bruno voll Engelsgeduld mit Engelszungen, Cassels verschmitzter Charme adelt die ganze Sache, macht sie „leicht“, nicht zuletzt durch die skurrilen Dating-Desaster, die Shidduchs, zu denen ihn Freund und Wirt Menachem, Alban Ivanov, beharrlich schickt.

Ein Lichtblick ist da erst Mme Diabatés, gespielt von Fatou-Clo, Tochter, Manda Touré, die unverblümt ihr Interesse an Bruno äußert, als sie ihre Mutter begleitet, um den kleinen Bruder abzuholen. Der, ist Mme Diabaté überzeugt, verhext wurde, weshalb sie zur Aufhebung des Fluchs noch ihr letztes Geld nach Dakar sendet … Cassel als Bruno, der Besonnene, und Kateb als Malik, der Aufbrausende, wenn er seinen Problemkids Bildung, Benehmen und Pünktlichkeit beibringen will, sind ein ebenso geniales Gespann, wie die Schöpfer ihrer Charaktere, Toledano und Nakache.

Ihr Weihnachtsmärchen von den guten Menschen überzeugt nicht nur durch Vermeidung rührseliger Behinderten-Klischees, sondern vor allem mit einer gnadenlosen Gesellschaftskritik, die dem Feel-Good-Movie wie ein Subtext unterlegt ist. Zum Ende wartet nämlich nicht nur der IGAS-Endbericht, die Ereignisse spitzen sich insgesamt zu, als Dylan vors Haus rauchen geht und Valentin aus seinem Zimmer Richtung Stadtautobahn abhaut. Wie zu Beginn wird jetzt gerannt, alle preschen nach allen Seiten auseinander, ein Aufruhr, den die Polizei naturgemäß für verdächtig halten muss – weshalb sie flugs alle dunkelhäutigen Helfer verhaftet …

 

www.alles-ausser-gewoehnlich-derfilm.de

  1. 12. 2019

Volksoper: Gasparone

Juni 3, 2018 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Inszeniert mit ironischem Augenzwinkern

Sebastian Geyer als „Der Fremde“. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Sehr schwungvoll und sehr Wienerisch geriet der „Gasparone“ an der Volksoper. Da darf die Garde des Bürgermeisters angetan als heimische Polizisten Strafzettel ans Publikum verteilen, ebendieser Nasoni den Spritzwein ordern und ordentlich Dialekt gesprochen werden. Regisseur Olivier Tambosi hat sich für die 1931-Fassung des Millöcker-Werks entschieden, mit allen Hits von „Denk ich an dich, schwarze Ninetta“ über „Er soll dein Herr sein! Wie stolz das klingt!“  bis „Nur Gold will ich haben und Edelgestein“, inklusive des größten Schlagers „Dunkelrote Rosen, bring’ ich, schöne Frau“, der ja ursprünglich aus der „Diana“ stammt.

Tambosi setzt damit auf eine Zeit in der das Singspiel in der Bearbeitung von Ernst Steffan und Paul Knepler schon zur Revueoperette mutiert war. Dem Rechnung tragend zeigt sich das Ensemble tanzfreudig, weder Solisten noch Chor stehen kaum eine Minute still, und das Volksopernorchester unter der musikalischen Leitung von Andreas Schüller, der für ein Lied des Bürgermeisters sogar die Bühne erklimmt, um dort Klavier zu spielen, zeigt dazu, was es kann – von Walzer über Tarantella bis Tango.

Die Inszenierung mit ironischem Augenzwinkern ist ein über weite Strecken würdiger Abschluss einer gelungenen Saison. Der Inhalt: Im beschaulichen Städtchen Trapani hat sich’s jeder gerichtet. Der korrupte Nasoni versucht eine profitable Ehe zwischen der reichen Witwe Carlotta und seinem Nichtsnutzsohn Sindulfo zu stiften. Wirt Benozzo ist gleichzeitig Chef einer Schmugglerbande und nur in Bedrängnis, wenn seine Frau Sora Liebesdienste von ihm erwartet. Benozzo war es auch, der die Legende vom Räuberhauptmann Gasparone in Umlauf gebracht hat, so ein Superschurke kommt ihm gerade recht, um die eigenen Vergehen zu vertuschen. Da steht eines Tages ein Fremder auf dem Hauptplatz. Ist er der böse Geist, den man einmal zu oft beschworen hat? Unruhe macht sich breit. Vor allem, als sich herausstellt, dass der Unbekannte nicht nur die Umtriebe durchschaut, sondern sich auch in Carlotta verliebt hat …

Christian Graf als Luigi, Marco Di Sapia als Benozzo, Gerhard Ernst als Baboleno Nasoni. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Gerhard Ernst mit Mara Mastalir als Carlotta und Johanna Arrouas als Sora. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Bühnenbildner Andreas Wilkens hat dafür eine Hügellandschaft erdacht, die mal mit Teppichen, mal mit Zeitungsschlagzeilen ausgelegt ist. Das erste Bild ist eine Bettenburg, in der die Bewohner Trapanis unsanft aus dem Schlaf gerissen werden, später gibt’s Strand, Mond und ein Motorboot, das in den Himmel entschwebt. In dieser Kulisse begeistert vor allen anderen Gerhard Ernst als Nasoni. Ernst stellt einen Politikerschlingel erster Güte auf die Bühne, weiß im richtigen Moment zu rühren, dann wieder das Publikum zum Lachen zu bringen. Herrlich die Verhörszene mit Carlotta und Sora, in der er – ganz Klischee des hiesigen Beamten – erst einmal die Brotzeit auspackt, bevor’s ans Eingemachte geht.

Ihm in nichts nach stehen Marco Di Sapia als Benozzo und Johanna Arrouas als Sora. Die beiden geben ein temperamentvolles Buffopaar, das nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich überzeugt. Christian Graf als Luigi ist auf dem besten Wege, ein neuer Publikumsliebling am Haus zu werden. Dass gegen dieses Quartett, das auch den meisten Applaus bekam, schwer anzukommen ist, musste das erste Paar, Mara Mastalir als Carlotta und Volksopern-Debütant Sebastian Geyer als Fremder, erfahren.

Doch während Mastalir ihre Partie noch ordentlich erledigte, blieb Geyer, obwohl in mephistophelisches Rot gewandet, in jeder Hinsicht blass. Und ziemlich schwer verständlich. Auch David Sitka als Sindulfo schaffte es nicht wirklich, aus seiner prinzipiell dankbaren Rolle etwas zu machen. Alles in allem aber ist dieser „Gasparone“ ein Gute-Laune-Abend, bei dem man sich zum letzten Mal in dieser Spielzeit gepflegt unterhalten kann. Jetzt heißt es abwarten, was die nächste bringt.

www.volksoper.at

  1. 6. 2018

Volksoper: Der Mann von La Mancha

Oktober 18, 2015 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Musical als Theater der Unterdrückten

Patricia Nessy (Aldonza), Christian Graf (Wirt), Robert Meyer (Don Quixote), Ensemble der Volksoper Wien Bild: (c) Barbara Pálffy / Volksoper

Patricia Nessy (Aldonza), Christian Graf (Wirt), Robert Meyer (Don Quixote), Ensemble der Volksoper Wien. Bild: (c) Barbara Pálffy / Volksoper

Von wegen Materialschlacht im Bombastsound. An der Volksoper hatte nach mehr als zwanzig Jahren wieder einmal „Der Mann von La Mancha“ Premiere. Ohne Tremolo und Tralala. Olivier Tambosi, hauptberuflich Opernregisseur, legte zum ersten Mal Hand an ein Musical und entkleidete es von allem, was man landläufig darunter verstehen mag. Übrig blieb eine sehr klare, fast spröde, politische Inszenierung mit einem Titelantihelden, der agiert wie der argentinische Alphabetisierer Augusto Boal. Musical als Theater der Unterdrückten.

Dieser „Mann von La Mancha“ ist mehr als jemals zuvor eine Parabel über, ein Plädoyer für Anstand und Menschlichkeit, gegen die Repression und ihre Instrumente.

Tambosi entführt in eine dunkle Unterwelt, in ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt; das Ensemble trägt als Gefangenenkluft graue Overalls (Bühnenbild und Kostüme: Friedrich Despalmes). Das Spiel im Spiel kann sich nur aus dem Theaterkoffer von Cervantes und den Kisten, in denen die Häftlinge ihr spärliches Hab und Gut aufbewahren, entfalten. Lumpen und Müllsäcke werden zu Versatzstücken, zum seidenen Schal oder zur Robe des Padre, die Kisten zur Schank, am Ende zum Totenbett. Nicht mehr als was und vor allem wer da ist, ist da. Keine Auf- oder Abgänge an diesem eindreiviertelstündigen, pausenlosen Abend. Das sorgt für Tempo und Atemlosigkeit. Ersteres auf der Bühne, zweiteres im Publikum. Die Darsteller schaffen die anstrengende Übung mit Bravour. Diesen Zuchthäuslern ist das Stück des Don Quixote zwar Abwechslung und Ablenkung, doch ist ihnen jede Illusion zerstört. In ihrem Dasein braucht es keinen Ritter mit den Spiegeln, wiewohl er natürlich erscheinen wird, um zu wissen, dass Realität Folter ist. Auf ihrem Erdball braucht es Mut nicht an nichts zu glauben. Und Cervantes hat ihn. Tambosi hat psychologisch fein ziselierte Charaktere aus den weltbekannten Figuren entwickelt, um diese zwischenmenschlichen Kampfzonen herauszuarbeiten.

Folgerichtig setzt die Produktion beinah mehr auf schauspielerische denn auf sängerische Qualitäten. Der Schöngesang jedenfalls ist abgeschafft, vor allem Patricia Nessy als Aldonza/Dulcinea versucht dieser Vorgabe – ganz Gossenkind – zu entsprechen. Das Orchester sitzt an der Rückseite der Bühne, der eigentliche Orchestergraben ist ein Zellenloch, aus dem der Dichter seine Mitspieler holt. Die Musik kommt einem mit Kastagnetten und der Gitarre von Jonathan Bolivar durchaus spanisch vor, doch agieren die Musiker ohne Dominanzverhalten, sondern sanft begleitend, fast untermalend. Das sensible Dirigat von Lorenz C. Aichner trägt wesentlich zum großen Erfolg des Abends bei.

Hausherr Robert Meyer, 1994 an der Seite von Karlheinz Hackl als Sancho zu sehen, macht als Ritter von der traurigen Gestalt gute Figur. Sein bebrillter Cervantes ist ein milder Intellektueller mit dem Herz eines Revolutionärs, sein Quixote aber kein edler Ergrauter, der mit zittriger Stimme elegisch Sentimentalitäten kundtut. Hier will einer das Volk bilden, nicht nur was das Hirn, sondern auch was die Herzen betrifft. Herzensbildung, weil: weiche Herzen kann keiner brechen. Dazu gehören Eloquenz, Überzeugungskraft und eine gewisse Aggression gegenüber dem Aggressor, diesem autoritären Staat. Meyer, der auch stimmlich genau den gewünschten Ton trifft, spielt Cervantes‘ Angst ebenso wie dessen Abscheu vor einem System, dem er sich als Steuereintreiber und Zurschausteller von dessen Grausamkeit und Ungerechtigkeiten widersetzt hat. In seiner „Rolle“ stürmt er zwar mit Schwert und Lanze durch den Zuschauerraum, doch sind weder sein Quixote noch dessen treue Seele Sancho jemals Typ komischer Kauz, dafür nimmt Tambosi das Thema zu ernst. Meyer beginnt ergo auch das „Ich, Don Quixote“ als Cervantes zu singen, während er sich in den sinnreichen Juncker verwandelt. Den Diener beider Herren gibt Boris Pfeifer, und als Intimus des Impresarios auch noch den Garderober, Requisiteur und Regieassistenten. Pfeifer quirrelt über die Bühne; er überzeugt und berührt, wenn er zugibt: „Ich mag ihn …“

Das Herzstück dieser Inszenierung ist aber das Ensemble. Tambosi hat jedem auf der Bühne eine Aufgabe zugedacht, die mit großer Spielfreude erfüllt wird. Die drei Protagonisten fügen sich ein ins große Ganze, auch Robert Meyer ein Primus inter Pares, das in seiner Gesamtheit überzeugt. Ausgezeichnet sind sie alle, diese Verbrecher, wie sie mit ihrem Treiben die Verkrustungen der Gesellschaft bloßstellen, dabei immer wieder aus ihren Rollen in die Verzweiflung der – weil im auch aus dem Leben – Gefallenen zurückfallen. Sex und Gewalt und sexuelle Gewalt bestimmen diese Existenzen „drinnen“ und „draußen“. Die schweren Jungs und leichten Mädchen „spielen“ schlecht, so gut es Kerkerinsassen eben können. Christian Graf ist ein lakonisch gewitzter Wirt; Christian Dolezal ein gefährlich lauernder Duke und ein bürokratisch gerissener Dr. Carrasco, meist steht er als Beobachter am Rande, doch wenn er sich einmischt, ducken sich die Köpfe. Martina Doraks Antonia ist natürlich gesanglich eine Wucht, die sich mit Ballettpositionen entliehenen Gesten als Mimin in die erste Reihe spielen will. Dort darf Thomas Sigwald lange nicht stehen, immer wieder zeigt er auf, immer wieder wird er nicht gecastet, diese kleinen Nebenepisoden machen den Abend wunderbar menschlich, bis er endlich als Barbier besetzt wird. Wolfgang Gratschmaier ist eine mit altjungferlich-sittlichem Sexappeal überzeugende Haushälterin, Susanne Litschauer eine resche Maria, Mehrzad Montazeri als Padre so fromm wie notgeil. Vier aus der Truppe gestalten auch zwei Reittiere, das kann man ja vom Theater, dass einem der Direktor im Kreuz sitzt.

Denn in dieser Interpretation gibt es, weil es das im Gefängnis eben nicht gibt, weder eine Rosinante noch Windmühlenriesen noch andere Showeffekte. Fantasie ist Kopfsache, sagt Tambosi. Seine kluge, so moderne wie zeitlose Arbeit gibt einen Denkanstoß in die einzig mögliche Richtung dieser und aller Tage. Und weil Tambosis Arbeit erfrischend kitschbefreit ist, hier nun mit Schmalz: Wir alle sollten Kinder von La Mancha sein. Der Traum ist möglich, der Stern zum Greifen nah.

www.volksoper.at

Wien, 18. 10. 2015

Wiener Festwochen: La Barque le soir

Juni 13, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der alte Mann und das Meer

Bild: Pascal Victor ArtComArt

Bild: Pascal Victor ArtComArt

Ein Mann kämpft gegen das Ertrinken an. Nur schemenhaft zeichnet sich die Figur im dunklen Raum ab. Der Text wird Silbe für Silbe artikuliert, glasklar und schneidend scharf. Neun Seiten aus dem autobiografischen, 1968 erschienenen Roman „Boot am Abend“ des norwegischen Autors Tarjei Vesaas genügen Regisseur Claude Régyy für eine tiefgreifende Reflexion über einen menschlichen Urtrieb, den Überlebenstrieb. „La Barque le soir“ ist ein Theaterabend, der sich auf unsicheres Terrain wagt. Der 91-jährige Régy folgt nicht dem Weg einer vordergründigen Erkenntnis. Er schafft wie immer Andachtsräume für die Poesie der Sprache. Wie wunderbar, eine Produktion dieses Genies in Wien sehen zu dürfen. Wie sonderbar, wie viele Farben von Schwarz es gibt.

Der Mann am Ertrinken glaubt sich nämlich plötzlich unter Wasser. Und „alles, was ihn oben hält, gibt offensichtlich nach“. Vesaas Sprache, oft als nobelpreiswürdig gepriesen, ist voller Poesie, voll nordischer Melancholie. Er erzählt vom Wegdriften der Realität. Der Mann sinkt, Strömungen zerren an ihm, er wird von Luftblasen umperlt, er treibt nach oben, greift nach einem Stamm. Nur wenige auserwählte Sätze haben es in die Aufführung geschafft. Sie tropfen Schauspieler Yann Boudaud langsam-melodisch von den Lippen. Er ist Ertrinkender und Erzählstimme zugleich. Boudaud ist ein fabelhaft. Er steht an der Rampe, dass es scheint, er schwebe. In zeitlos schwerelosen  Bewegungen, windet er seinen Körper „im Wasser“. Oft ist es in dessen Tiefen so dunkel, dass man ihn kaum sehen kann. Wie er kämpft, sich anstrengt und befreien möchte. Der Text zu dieser Szene lautet: „Der Mangel an Luft machte ihm zu schaffen“.

Der Eindruck, den diese extrem reduzierte Aufführung hinterlässt, ist überwältigend. Ein physisches und psychisches Abenteuer, das bis zuletzt spannend bleibt. Besonders eindrücklich eine Szene, in der der Darsteller vor Angst winselt wie ein Tier. Man möchte ihn retten. Aber wie? Man ist längst selbst im Rausch der Tiefe.

www.festwochen.at

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