Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks

September 23, 2017 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein poetischer Politroman über das moderne Indien

Genau 20 Jahre nach ihrem Weltbestseller „Der Gott der kleinen Dinge“, der Geschichte einer Familie, die an einer verbotenen Liebe zerbricht, legt Arundhati Roy ihr neues Buch vor, „Das Ministerium des äußersten Glücks“, auch dieses bereits auf der Longlist für den Man Booker Prize 2017, und beide Romane Wunderwerke an manchmal brutaler, aber immer bezwingender Poesie, ja, an schriftstellerischer Eleganz.

Es ist der Ton, der einen an dieses Buch bindet, mit Textstellen, wie dieser: „Es herrschte Frieden. So hieß es zumindest. Den ganzen Morgen war ein heißer Wind durch die Straßen gepeitscht und hatte Staub, Kronkorken und Beedi-Kippen vor sich her und gegen Windschutzscheiben und in die Augen von Fahrradfahrern getrieben … die Hitze flirrte auf den Straßen wie eine Bauchtänzerin. Die Menschen warteten auf das Gewitter, das auf jeden Sandsturm folgte, aber es kam nicht. Ein Feuer wütete durch eine Ansammlung von Hütten am Flussufer, verwüstete im Nu mehr als zweitausend. Dennoch blühte der Indische Goldregen in einem trotzigen Gelb. In jenem höllischen Sommer streckte er sich nach oben und flüsterte dem heißen braunen Himmel ,Fuck you‘ zu.“

In den zwei Jahrzehnten zwischen den Büchern ist viel passiert. Roy wurde zu einer der wichtigsten kritischen Stimmen Indiens, die Autorin wurde zur Politaktivistin, angefeindet von den fundamentalen Hindus vor allem wegen ihrer Stellungnahmen zum Kaschmir-Konflikt. Sie fuhr in den Norden, um über das dortige Morden zu berichten. Sie besuchte die Dörfer der maoistischen Guerilleros. Sie zeigte die von staatlichen indischen Stellen tolerierten Pogrome gegen Muslime auf. „Aus der Werkstatt der Demokratie“ heißen Roys Essays über politische und religiöse Ausgrenzung, die auch auf Deutsch erschienen sind.

Und gerade, weil diese Essays immer für ihre poetische Sprache gelobt werden, ist nun nur logisch zu sagen: „Das Ministerium des äußersten Glücks“ ist ein politischer Roman. Jedenfalls ein vielstimmiges Werk, ein 560 Seiten langer Abriss der Geschichte des modernen Indiens, ein Gesellschaftspanorama, kein leichter, sondern ein provokanter Lesestoff – eine Schelte auch des Westens, der sich von bunten Bildern blenden lässt, und nicht sehen will, dass die viel beschworene „größte Demokratie der Welt“ auch ein Folterstaat ist. Ein Land zwischen Kastensystem und Armut, dessen fehlende Frauenrechte immer nur dann ins westliche Auge poppen, wenn wieder einmal Frauen vergewaltigt, verbrannt oder mit Säure übergossen wurden. Auch der große Gandhi kommt bei Roy nicht ungeschoren davon. Schließlich hat er das Kastenwesen als göttergegeben immer befürwortet.

Bild: pixabay.com

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Im „Ministerium des äußersten Glücks“ sind natürlich Kaschmir und der gegen die Muslime geführte Religionskrieg die Hauptthemen. Im SRF-Literaturclub hieß es über den Roman und seine Verfasserin sinngemäß, Roy hätte mit ihrer Globalisierungskritik, ihrem Anprangern der Überbleibsel des britischen Kolonialismus, mit ihrer Konsumismuskritik („Jetzt muss man nicht mehr ins Ausland, um einzukaufen. Jetzt gibt es auch hier importierte Dinge. Weißt du, Bombay ist unser New York, Delhi ist unser Washington und Kaschmir ist unsere Schweiz.“

Die anderen, die es sich nicht leisten konnten, in der Großstadt zu leben, sollten nicht mehr herkommen, waren aber zu viele, um sie in aller Öffentlichkeit zu töten. Also walzte man ihr notdürftigen Hütten platt mit, „gelben Bulldozern aus Australien“ …) nach dem europäischen und dem US-Büchermarkt geschielt. Kaum zu glauben. Vielmehr ist es für Leser hierzulande nicht von Nachteil sich in die Geschichte Indiens einzulesen, um Roys Andeutungen, schaurige Anekdoten und Aphorismen zu verstehen.

Beispiele: Die RSS ist eine radikal-indische, hierarchisch organisierte Kaderorganisation, laut BBC das größte Freiwilligenkorps der Welt. Die „Safransittiche“ meinen die Banden von Hindu-Nationalisten, die sich gern in die Farbe Safrangelb kleiden. Der militante Führer „Gujarat ka Lalla“ ist Narendra Modi, Indiens amtierender Premierminister, „Aggarwal“ ist Arvind Kejriwal, bereits zum zweiten Mal wiedergewählt als Regierungschef des Unionsterritoriums Delhi. Anna Hazare kommt vor, der indische Bürgerrechtler, der mit seinem Anti-Korruptions-Hungerstreik im Jahr 2011 den „zweiten Freiheitskampf“ ausrief. Und auch das findet man im „Ministerium des äußersten Glücks“: die Unruhen im Bundesstaat Gujarat, wo im Jahr 2002 Muslime von Hindu-Mobs ermordet wurden und die Polizei dabei zusah; das Gasunglück in Bhopal, bei dem 1984 Tausende Menschen qualvoll starben oder grauenhaft verstümmelt wurden …

Roy fordert von den Lesern Mitarbeit. Sie verwendet unterschiedlichste Stilmittel, Lebensbeichten, polizeiliche Zeugenaussagen, Märchen, Briefe, auch an Tote, und zappzarapp ist man im Kopf eines alkoholsüchtigen Inlandsgeheimdienstlers und lauscht dessen Ich-Erzählung. Roy will alles, kann auch alles, überfrachtet, überfordert, auch ihr entgleitet der Roman mitunter, aber mit ihrem Humor und ihrer Menschenliebe schreibt sie gegen das Chaos an. Dem der Hirne, dem der Herzen, dem Indiens. „Das Ministerium des äußersten Glücks“ ist teils heiter, oft melancholisch, manchmal skurril. Dem Faible ihres Volkes für Hungerstreiks, ebenso wie seinem Hang zum Aberglauben gewinnt Roy durchaus absurd-humorige Seiten ab.

Im Mittelpunkt des Handlungswirrwarrs stehen zwei Geschichten, die Figur Anjum ist die Klammer, ihre Exotik das Epizentrum der Ereignisse, ihre der gesellschaftlichen Konvention gegenläufige Perspektive die immer menschliche, die mit allen mitfühlende, die, der Roys Sympathien gehören. Anjum ist eine Hijra, so der Name für Indiens drittes Geschlecht, die Transgender-Personen. Die Muslimin, in Delhi damit gleichsam doppelt vogelfrei, ist als Sohn wohlhabender Eltern aufgewachsen, bevor sie sich entschloss als Frau zu leben. Dies, nachdem sie als Celebrity für ausländische Fernsehsender und einheimische NGOs ausgedient hatte, auf einem alten Friedhof, der mit Anjums Ankunft zu einem wundersamen Zufluchtsort für von der Welt Ausgestoßene wird. Die Gegengesellschaft ist gegründet. Doch Anjum will, was ihr biologisch verwehrt ist, ein Baby. Erst nimmt sie ein Straßenkind bei sich auf, nennt es Zainab, und macht aus der Göre eine gebildete junge Frau bester Ausbildung. Später fällt ihr bei einer Großdemonstration ein ausgesetztes Baby, die Mutter maoistische Waldkämpferin in Kaschmir, in die Arme, doch es wird ihr geraubt.

Bild: pixabay.com

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Die Kindesentführerin ist Politaktivistin, Tilo, in Kaschmir vom Militär misshandelt, weil Lebensgefährtin des Aufständischenführers Musa (der das wiederum nur wird, weil die Polizei bei einem Märtyrer-Begräbnis seine Frau und Tochter erschießt. „Das Märtyrertum stahl sich nach Kaschmir über die Demarkationslinie“, schreibt Roy. „Es stapfte an erschossenen Jungen in Schneewehen vorbei, ihre Leichen in unheimlichen gefrorenen Tableaus arrangiert“). Musa und Tilo, das ist, obwohl die hinduistische Tilo Musas muslimische „Frauen dürfen nicht“-Seite nicht versteht, die große Liebesgeschichte des Romans, die freilich kein gutes Ende nehmen kann.

„Es scheint keine Hoffnung mehr zu geben. Aber so zu tun, als hätten wir Hoffnung, ist das einzig anständige“, wird Musa später sagen, bevor er tot – oder doch ein anderer für ihn tot sein wird? Anjum wird Tilo und das Baby mit nun zwei Müttern auf ihren Friedhof retten. Eine weitere Klammer ist der sadistische Major Amrik Singh, der in Kaschmir blutrünstig wütet, bevor er den einen Schritt tut, der sogar der Regierung zu weit geht, und samt Frau und Kindern als „Asylwerber“ in die USA abgeschoben wird.

Die dortigen Einwanderungsbehörden sind vom schlimmen Schicksal zu Tränen gerührt, natürlich, denn wäre könnte exakter Auskunft über Folter- und Tötungsmethoden geben? Später wird Singh sich und die seinen erschießen, getrieben von den Gesichtern der Kaschmiris, die sich tagtäglich vor seinem kalifornischen Bungalow versammeln. Und wenn’s er nicht selber war, dann war’s …

Solcherart reiht Roy großartige Bilder, auch der Zerstörung, schöne und schreckliche Momente aneinander. „Ich würde gerne eine dieser kultivierten Geschichten schreiben, in denen zwar nichts passiert, aber es trotzdem viel gibt, worüber man schreiben kann. So etwas ist in Kaschmir nicht möglich. Es ist nicht kultiviert, was hier passiert. Es gibt zu viel Blut für gute Literatur“, lässt Roy die Figur Tilo notieren. Auf Seite 540 folgt ihr Gedicht: „Wie erzählt man eine zerbrochene Geschichte? / Indem man sich langsam in alle verwandelt. / Nein. / Indem man sich langsam in alles verwandelt.“ Das ist Arundhati Roy gelungen, und man folgt ihr gerne durch ihr Wort- und Satzdickicht. Sie hat Politik in Poesie eingesponnen, ihre Stimme mit den Stimmen ihrer Figuren verwoben. Fantasievoller und schöner formuliert kann sich eine so beharrliche Auflehnung gegen Grausamkeit und Ungerechtigkeit kaum wo lesen lassen. „Das Ministerium des äußersten Glücks“ ist ein großes Buch, das von der Größe seiner Protagonistinnen Anjum und Tilo und ihrer Wahlverwandtschaft erzählt, und zwischen den Zeilen von der Größe der Autorin.

Der Schrein von Hazrat Sarmad, ein spiritueller Ort, zu dem alle im Buch Bedrängten und Geschundenen immer wieder pilgern, ist mit dem titelgebenden deutschsprachigen Wort „Ministerium“ nur unzureichend erfasst. Sarmad war Mystiker, Poet, ein armenischer Jude aus Persien, übergetreten zum Islam. Ein nackter Fakir, schwul, in Liebe mit einem Hindu-Mann, 1660 geköpft. Doch selbst enthauptet, so heißt es, habe er ihm noch seine Liebesgedichte rezitiert. Wenn so einer nicht als Beschützer von Anjums Glücksfreistaat taugt – wer dann?

Über die Autorin:
Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debüt „Der Gott der kleinen Dinge“, für das sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den letzten zehn Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“.

Fischer Verlage, Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“, Roman, 560 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube

www.fischerverlage.de

  1. 9. 2017